Kant: AA XII, Briefwechsel 1795 , Seite 012 |
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01 | Herren Prof: Fichte bitte ich ergebenst meinen Gruß und meinen | ||||||
02 | Dank für die verschiedenen mir zugeschickten Werke von seiner Hand | ||||||
03 | abzustatten. Ich würde dieses selbst gethan haben, wenn mich nicht, | ||||||
04 | bey der Mannigfaltigkeit der noch auf mir liegenden Arbeiten, die | ||||||
05 | Ungemächlichkeit des Altwerdens drückte, welche denn doch nichts mehr | ||||||
06 | als meinen Aufschub rechtfertigen soll. - Den Hrn. Schütz und | ||||||
07 | Hufeland bitte gleichfalls gelegentlich meine Empfehlung zu machen. | ||||||
08 | Und nun, Theuerster Mann! wünsche ich Ihren Talenten und | ||||||
09 | guten Absichten angemessene Kräfte, Gesundheit und Lebensdauer, die | ||||||
10 | Freundschaft mit eingerechnet, mit der Sie den beehren wollen, der | ||||||
11 | jederzeit mit vollkommener Hochachtung ist | ||||||
12 | Ihr | ||||||
13 | ergebenster treuer Diener | ||||||
14 | I Kant | ||||||
657. | |||||||
16 | Von Samuel Collenbusch. | ||||||
17 | 30. März 1795. | ||||||
18 | Lieber Herr Professor, Wissen - u. Wollen - u. Können u. | ||||||
19 | Thun - Der Unterschied ist groß. Von disen vier Sachen halt ich | ||||||
20 | das Letzte für das Beste. Unsere unendlich kleine Vernunft kommt | ||||||
21 | ganz unwissend aus Mutterleibe - Sie aber sprechen von der Vernunft | ||||||
22 | als ob dieselbe eine Vielwissenheit mitbrächte aus Mutterleibe. | ||||||
23 | Meine Vernunft ist ein unwissender Schüler der Erfahrung u. der | ||||||
24 | Offenbarung - meine Vernunft ist eben kein unfleißiger Schüler gewesen | ||||||
25 | der Erfahrung u. der Offenbarung - meine Vernunft hat ein | ||||||
26 | bisgen Sprache gelernet - ein bisgen Rechnen - ein bisgen von | ||||||
27 | den drey Natur=Reichen - ich habe auch ein bisgen von der Sternkunde | ||||||
28 | gelernet - in Ansehung der allgemeinen Weltgeschichte bin ich | ||||||
29 | auch nicht ganz unwissend geblieben - von allem disem Wissen hab | ||||||
30 | ich nichts mitgebracht aus Mutterleibe. Wenn ich nun jemand reden | ||||||
31 | höre, der etwas spricht, welches mit meinem Wissen nicht übereinstimmt, | ||||||
32 | alsdenn spreche ich mit mir selbst - dises streitet wider mein Wissen; | ||||||
33 | ich sage aber nie "dises streitet wider meine Vernunft - denn meine | ||||||
34 | Vernunft ist so demüthig, daß sie sich keine Päpstliche Untrüglichkeit | ||||||
35 | anmaßet - ich finde aber wenig Weltweise so demüthig. | ||||||
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