Kant: AA XI, Briefwechsel 1792 , Seite 392

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ich nehme dieses an sich so evidente Urtheil z. B. das Rothe ist      
  02 vom Grünen verschieden. Diesem müßte die Vorstellung des      
  03 Rothen und des Grünen an sich im Gemüthe voraus gehen. Da aber      
  04 diese Vorstellungen in eben demselben Zeitpunkt, in eben demselben      
  05 Subjekt einander ausschließen, und das Urtheil sich doch auf beide zugleich      
  06 bezieht und beide im Bewustseyn vereinigt, so kann die Möglichkeit      
  07 desselben auf keinerlei Weiße begreiflich gemacht werden. Die      
  08 Zuflucht die einige Psychologen hier zu den zurückgelaßenen Spuren      
  09 nehmen, kann zu nichts helfen. Denn die zurückgelaßenen Spuren      
  10 verschiedener Vorstellungen konnen eben so wenig als diese Vorstellungen      
  11 selbst (wenn sie nicht in eine einzige zusammenfließen sollen) zugleich      
  12 im Gemüthe stat finden.      
           
  13 Dieses Urtheil ist also nur durch die Vorstellung einer Zeitfolge      
  14 möglich.      
           
  15 Zeitfolge ist schon an sich ohne Beziehung auf die darinn vorgestellten      
  16 Objekten, eine Einheit im Manigfaltigen. Der vorhergehende      
  17 Zeitpunkt ist, als ein solcher, vom Folgenden unterschieden.      
  18 Sie sind also nicht analytisch einerlei, und doch konnen sie nicht      
  19 ohne einander vorgestellt werden; d. h. sie machen zusammen eine      
  20 synthetische Einheit aus. Die Vorstellung einer Zeitfolge ist also      
  21 eine nothwendige Bedingung, nicht von der Möglichkeit der (wenn auch      
  22 sinnlichen) Objekten an sich, sondern der Möglichkeit eines Urtheils      
  23 über ihre Verschiedenheit, welche ohne Zeitfolge kein Gegenstand      
  24 unsrer Erkenntniß seyn kann.      
           
  25 Von der andern Seite aber ist widerum die objektive Verschiedenheit      
  26 eine Bedingung von der Möglichkeit einer Zeitfolge,      
  27 nicht bloß als Gegenstand unsrer Erkenntniß, sondern auch als Objekt      
  28 der Anschauung an sich (indem Zeitfolge nur dadurch daß sie Gegenstand      
  29 unsrer Erkenntniß wird, an sich vorstellbar ist). Die Form      
  30 der Verschiedenheit (wie auch die objektive Verschiedenheit      
  31 selbst) und die Vorstellung einer Zeitfolge stehen also in einer      
  32 wechselseitigen Verhältniß zu einander. Wäre das Rothe nicht vom      
  33 Grünen, als Erscheinung an sich, verschieden, so konnten sie von      
  34 uns nicht in einer Zeitfolge vorgestellt werden. Hätten wir aber      
  35 nicht die Vorstellung einer Zeitfolge, so konnten immer das Rothe      
  36 und das Grüne verschiedene Objekte der Anschauung seyn, wir konnten      
  37 aber sie nicht, als solche, erkennen.      
           
           
     

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