Kant: AA XI, Briefwechsel 1792 , Seite 391

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Aestätik, nämlich über die Dedukzion der Vorstellungen von Zeit      
  02 und Raum. Alles was Sie darinn gegen die dogmatische Vorstellungsart      
  03 anführen, hat mich völlig überzeugt. Es kann aber, wie      
  04 ich dafür halte, noch eine skeptische, sich auf psychologischen Gründen      
  05 stüzende Vorstellungsart gedacht werden, die auch von der Ihrigen in      
  06 etwas abweicht, obschon die daraus zu ziehenden Resultate vieleicht      
  07 von den Ihrigen nicht verschieden seyn möchten.      
           
  08 Nach Ihnen sind die Vorstellungen von Zeit und Raum Formen      
  09 der Sinnlichkeit d. h. nothwendige Bedingungen von der Art wie      
  10 sinnliche Objekte in uns vorgestellt werden.      
           
  11 Ich behaupte hin[ge]gegen (aus psychologischen Gründen) daß dieses      
  12 nicht allgemein wahr sey. Die einartigen sinnlichen Objekte werden      
  13 von uns unmittelbar weder in Zeit noch in Raum vorgestellt. Dieses      
  14 kann nur mittelbar durch Vergleichung derselben mit den verschiedenartigen      
  15 Objekten, mit welchen sie eben durch Zeit und Raum verknüpft      
  16 sind, geschehen. Zeit und Raum sind also keine Formen der      
  17 Sinnlichkeit an sich, sondern bloß ihrer Verschiedenheit. Die      
  18 Erscheinung des Rothen oder des Grünen an sich wird, so wenig als      
  19 irgend ein Verstandsbegrif an sich, in Zeit oder Raum vorgestellt.      
  20 Dahingegen das Rothe und das Grüne mit einander vergliechn, und      
  21 in einer unmittelbarn Koexistenz oder Sukzesion auf einander bezogen,      
  22 nicht anders als in Zeit und Raum vorgestellt werden können.      
           
  23 Zeit und Raum sind also keine Vorstellungen von den Beschaffenheiten      
  24 und Verhältnissen der Dinge an sich, wie schon die kritische      
  25 Philosophie gegen die dogmatische bewießen hat. Sie sind aber      
  26 eben so wenig Bedingungen von der Art wie sinnliche Objekte an      
  27 sich vor ihrer Vergleichung unter einander in uns vorgestellt werden,      
  28 wie ich schon bemerkt habe. Was sind sie also? Sie sind Bedingungen      
  29 von der Möglichkeit einer Vergleichung zwischen      
  30 den sinnlichen Objekten, d. h. eines Urtheils über ihr Verhältniß      
  31 zu einander. Ich will mich hierüber näher erklären.      
           
  32 1.) Verschiedene Vorstellungen können nicht zu gleicher Zeit (in      
  33 eben demselben Zeitpunkt) in eben demselben Subjekt koexistirn.      
           
  34 2.) Ein jedes Urtheil über das Verhältniß der Objekte zu einander      
  35 sezt die Vorstellung eines jeden an sich im Gemüthe voraus. Dieses      
  36 vorausgeschickt, so ergiebt sich diese wichtige Frage: wie ist ein Urtheil      
  37 über ein Verhältniß der Objekte zu einander möglich?      
           
     

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