Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 295 |
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Text (Kant):
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| 01 | Theil des Menschengeschlechts seine kostbarsten Besitzungen verdankt. | ||||||
| 02 | Zwar antworteten Sie mir auf meinen ersten, vor dem Iahre geschriebenen | ||||||
| 03 | Brief nicht; - allein das war kein Wunder. Vielleicht | ||||||
| 04 | finden Sie gegenwärtigen einer Antwort nicht ganz unwürdig. - Um | ||||||
| 05 | Ihnen eine Schrift öffentlich zu weihen, sollte sie nun wohl wichtigere | ||||||
| 06 | Wahrheiten, oder wenigstens neuere Entdeckungen enthalten, als diese | ||||||
| 07 | gegenwärtige, allein ein jeder giebt so gut er geben kann. Ich weiß Sie | ||||||
| 08 | sehen auf das Opfer des Hertzens u: deßen Gesinnungen, nicht auf | ||||||
| 09 | die Größe u: Güte des Opfers selbst. - Wäre ich kein gebohrner | ||||||
| 10 | Christ u: hätte daher auch nie die beseligenden Wirkungen dieser als | ||||||
| 11 | festgeglaubten Religion für Ruhe u: Moralität erfahren; so könnte ich | ||||||
| 12 | mich bei dem was mich Philosophie allein lehrt, sehr gern beruhigen; | ||||||
| 13 | indem mir die Kritische insonderheit (so mangelhaft auch meine Kenntniß | ||||||
| 14 | davon noch ist) völlig überzeugende Gewißheit über meine Pflichten | ||||||
| 15 | u: Rechte in diesem u: für die Erwartung eines zukünftigen Lebens | ||||||
| 16 | ertheilt. Allein da ich in einer Religion gebohren u: erzogen worden | ||||||
| 17 | bin, die für eine unmittelbare Belehrung Gottes über diese Gegenstände | ||||||
| 18 | ausgegeben wird; so scheint mir diese Religion meiner größten | ||||||
| 19 | Aufmerksamkeit u: schärfsten Prüfung würdig, - beides heilige, unverletzliche | ||||||
| 20 | Pflicht zu seyn. Ob ich mir nun zwar bewußt bin, bei | ||||||
| 21 | dieser Prüfung stets redlich u: gewißenhaft zu Werke gegangen zu | ||||||
| 22 | seyn; so war doch der Erfolg derselben nie meinen Wünschen gemäß | ||||||
| 23 | u: für meine Ruhe günstig. - Auf der einen Seite, so viel erhabne | ||||||
| 24 | göttliche Würde in dieser Religion, - so viel Kraft u: Nachdruck | ||||||
| 25 | so viel sichtbare u: auch einst selbst gefühlte Wirkung aufs Hertz u: | ||||||
| 26 | die Beßerung der Menschen - so viel tiefe Weißheit bei einem, in | ||||||
| 27 | dem finstersten Zeitalter, unter der dümsten u: abergläubischesten | ||||||
| 28 | Nation gebohrnen u: erzognen gemeinen Iuden - so viel hohe, beispiellose | ||||||
| 29 | Würde in seinem Charakter u: Betragen - die göttlichste | ||||||
| 30 | Menschenliebe - die standhafteste Aufopferung aller seiner Glückseligkeit | ||||||
| 31 | u: selbst des Lebens für die Wahrheit - verspottet u: gemißhandelt | ||||||
| 32 | am Kreutz (als Märtirer der Tugend u: Wahrheit) von den | ||||||
| 33 | ruchlosesten Menschen, von seinen Feinden u: Verfolgern, betet er | ||||||
| 34 | für sie - empfiehlt seinen Geist in die Hände seines himmlischen | ||||||
| 35 | Vaters - stirbt, sichtbar betrauert von der gantzen Natur, unter den | ||||||
| 36 | unerhörtesten Quaalen, mit einer Freudigkeit, die selbst einen römischen | ||||||
| 37 | Krieger ausruffen läßt: "das ist wahrlich Gottes= Sohn u: ein | ||||||
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