Kant: AA XI, Briefwechsel 1791 , Seite 285

     
           
 

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    486.      
  02 Von Salomon Maimon.      
           
  03 20. Sept. 1791.      
           
  04 Wohlgebohrer Herr,      
  05 Hochzuehrender Herr Professor!      
  06 Ich weis, wie ungerecht derjenige ist, der Ihnen das mindeste      
  07 von Ihrer, der Welt so schätzbaren Zeit raubet, weis, daß es für Sie      
  08 kein wichtigeres Geschäft geben kann, als Ihren so fest gegründeten      
  09 Werken die höchste Vollkommenheit zu geben; doch konnte ich nicht      
  10 umhin, dieses einzigemal Sie mit meinem Schreiben zu belästigen.      
           
  11 Ich habe mir seit einiger Zeit vorgenommen, außer Ihren Werken,      
  12 nichts mehr zu lesen. Von dem skeptischen Theil Ihrer Kritik bin ich      
  13 völlig überzeugt; der dogmatische kann auch hypothetisch angenommen      
  14 werden, und obschon ich durch eine psychologische Dedukzion die Kathegorien      
  15 und Ideen nicht dem Verstande und der Vernunft, sondern der      
  16 Einbildungskraft beilege; so kann ich doch, das erste zum wenigsten      
  17 problematisch zugeben; und auf diese Art kann ich mit der Kritik recht      
  18 gut fertig werden.      
           
  19 Da aber Herr Reinhold, (ein Mann den ich wegen seines ungemeinen      
  20 Scharfsinnes, nach Ihnen, am meisten schätze) in seinen Schriften      
  21 vorgiebt; nicht nur Ihrem Systeme die formelle Vollständigkeit      
  22 gegeben, sondern auch, das einzige allgemein gültige und allgemein      
  23 geltende ( si diis placet ) Prinzip, worauf dieses aufgeführt werden      
  24 kann, gefunden zu haben; so zog dieses meine ganze Aufmerksamkeit      
  25 auf sich. Nach genauer Untersuchung aber fand ich mich in meiner      
  26 Erwartung betrogen. Ich schätze ein jedes System nach seiner formellen      
  27 Vollständigkeit; kann es aber nur nach seiner objektiven      
  28 Realität gelten lassen, und nach dem Grade seiner Fruchtbarkeit      
  29 anpreisen.      
           
  30 Nun finde ich zwar Herrn Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens,      
  31 in Ansehung ihrer systematischen Form unverbesserlich.      
  32 Hingegen kann ich dieses so hoch gepriesene allgemeingültige und allgemeingeltende      
  33 Prinzip (den Satz des Bewußtseyns) keinesweges zugeben,      
  34 und noch viel weniger mir von seiner Fruchtbarkeit große Erwartungen      
  35 machen.      
           
           
     

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