Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 218 |
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| 01 | manche Veränderung zu erleiden habe, ehe seine constitution fest gegründet | ||||||
| 02 | wird. Andere die vielleicht alles aus einem ungünstigen Gesichtspuncte | ||||||
| 03 | betrachten, befürchten, daß ein National Banqverrot unvermeidlich | ||||||
| 04 | und ein allgemeiner Bürgerkrieg die nothwendige Folge | ||||||
| 05 | sey, besonders, da in einigen Provinzen die Bauren sich schon sollen | ||||||
| 06 | haben verlauten lassen, daß sie keine Abgaben entrichten wollen, weil | ||||||
| 07 | sie sonst nicht absehen können, was sie denn durch die gegenwärtige | ||||||
| 08 | Revolution gewonnen hätten. - Das Schiksal des Landes sind die | ||||||
| 09 | Hauptgegenstände der Unterredung in Frankreich, daher man auch mit | ||||||
| 10 | Gelehrten selten über etwas anderes als hierüber sprechen kann, die | ||||||
| 11 | wenn sie unter 60 Iahren sind, noch einen thätigen Antheil nehmen | ||||||
| 12 | müssen, da sie sämtlich wie jeder andere Franzose zur Nationalgarde | ||||||
| 13 | gehören und Wache thun müssen. Eine Flinte, eine Grenadiermütze | ||||||
| 14 | und die Nationaluniform zieren daher gewöhnlich dieser Herren Lesecabinete. | ||||||
| 15 | Ich habe einige sehr angenehme Bekanntschaften unter ihnen | ||||||
| 16 | gemacht, vorzüglich unter den Physikern und Chemikern, davon mir die | ||||||
| 17 | von dem berühmten Charles der ein sehr liebenswürdiger Mann ist, | ||||||
| 18 | und von dem Chemisten Peletier die interessantsten sind. Bey Peletier | ||||||
| 19 | habe ich mit an dem berühmten Versuch gearbeitet, aus den 2 Luftarten | ||||||
| 20 | Wasser zu machen, den eigentl[ich] Herr v. Jacquin, mein nachheriger | ||||||
| 21 | Reisegefährte bis Strasburg, anstellte. - Ich verlies Paris | ||||||
| 22 | in Gesellschaft des Herrn Dr Girtanner und Herrn v. Jacquin, und wir | ||||||
| 23 | waren, möchte ich fast sagen, Augenzeugen der Massacre bey Nancy. | ||||||
| 24 | Wir waren wenigstens die ersten Reisende, die durch die Stadt passirten | ||||||
| 25 | nachdem die Thore wieder geöfnet und Ruhe einigermaßen hergestellt | ||||||
| 26 | worden. Einige Meilen vor der Stadt erhielten wir schon einige unbestimmte | ||||||
| 27 | Nachrichten über die Geschichte zu Nancy, durch einen reitenden | ||||||
| 28 | Boten, der an die Nationalversammlung abgeschikt war. Dieser | ||||||
| 29 | mahlte uns die Scene sehr blutig, aber glaubte daß es schon wieder | ||||||
| 30 | ruhig sey. Meine Reisegefährten wollten sich durch diese Nachricht | ||||||
| 31 | abschrecken lassen ihren Weg über Nancy zu nehmen, ich aber überredete | ||||||
| 32 | sie unsern Weg dahin fortzusetzen, weil ich vermuthete, daß vieles | ||||||
| 33 | in der Erzählung des Boten übertrieben sey. Wenn wir in Toul | ||||||
| 34 | etwa 2 Meilen vor Nancy waren glaubten wir uns in einem Lande | ||||||
| 35 | zu befinden wo Krieg geführt wird. Anfänglich erblickten wir einige | ||||||
| 36 | Reuter, die sehr zerstört aussahen, wir wusten aber nicht, was das zu | ||||||
| 37 | bedeuten habe. Bald aber kam das ganze Regiment Mestre de Camp, | ||||||
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