Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 217 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Misvergnügen und Unwillen bey denjenigen zu erregen, die | ||||||
02 | schwach genug sind, an gewiße angeerbte, wären es auch nur nominal | ||||||
03 | und Scheinprivilegien einen Werth zu setzen. - Das entsetzlich große | ||||||
04 | und fast bis zur Unbilligkeit getriebene Einziehen, und Schmählern | ||||||
05 | der Pensionen und Besoldungen erregt gleichfalls ein sehr lautes | ||||||
06 | Murren und eine lebhafte Unzufriedenheit. Und dies kann gar nicht | ||||||
07 | fehlen, da fast nicht eine Familie in ganz Frankreich ist, die nicht | ||||||
08 | entweder mittelbar oder unmittelbar dadurch verlöhre, die nicht etwa | ||||||
09 | einen Sohn oder sonstigen Verwandten hätte, deren Einkünfte nicht | ||||||
10 | um mehr als die Hälfte verringert seyn. und es gehört doch mehr | ||||||
11 | Philosophie und Patriotismus dazu, als zu erwarten steht um dergleichen | ||||||
12 | große Privat=Aufopferungen für's allgemeine Beste zu thun. | ||||||
13 | Auf der andern Seite kennt wiederum der Pöbel in seinen Gesuchen | ||||||
14 | und Ansprüchen keine Grenzen. Er fühlt jetzt seinen Einflus und | ||||||
15 | Kräfte und misbraucht sie, vielleicht zu seinem eigenen Ruin. Anstatt | ||||||
16 | das edle Kleinod, gesetzmäßige Freyheit, welches er jetzt besitzt | ||||||
17 | zu bewachen, strebt er nach gesetzlose Zügellosigkeit, will den Gesetzen | ||||||
18 | nicht weiter gehorchen, sondern über alles eigenmächtig urtheilen und | ||||||
19 | Recht sprechen, davon man in Paris täglich Beyspiele sieht und hört. | ||||||
20 | Der Pöbel und einige unruhige Köpfe sinds, die anjetzt ganz Frankreich | ||||||
21 | regieren. Ich bin selbst mehrmalen in der NationalVersammlung | ||||||
22 | gewesen, wenn sie gezwungen wurde gewisse decrete abzufassen, weil | ||||||
23 | es niemand wagen durfte die geringste Einwendung dagegen vorzubringen, | ||||||
24 | ohne von dem Pöbel auf den öffentlichen Tribunen insultirt | ||||||
25 | und für einen Aristocraten ausgeschrien zu werden. Viele von den | ||||||
26 | Mitgliedern der Nationalversammlung, um sich bey dem gemeinen | ||||||
27 | Volke beliebt zu machen und in Ansehen zu bringen, machen in den | ||||||
28 | Sitzungen solche Vorschläge, die vielleicht nicht zum allgemeinen Besten | ||||||
29 | abzwecken, von denen sie aber wissen, daß sie das Volk mit allgemeinen | ||||||
30 | Beyfallsgeschrey empfangen werde, die dann auch durchgehen, weil | ||||||
31 | niemand es wagen darf Gegenvorstellungen zu machen. Viele von | ||||||
32 | den Mitgliedern mit diesem Verfahren unzufrieden, haben auch schon | ||||||
33 | gänzlich die Versamlung verlassen und wollen sie auch fernerhin nicht | ||||||
34 | mehr besuchen und mit den Angelegenheiten nichts weiter zu schaffen | ||||||
35 | haben. Welchen Ausgang dieses zuletzt nehmen werde, wagt niemand | ||||||
36 | mit einigem Anschein von Wahrscheinlichkeit zu entscheiden. Die von | ||||||
37 | der Sache am günstigsten urtheilen glauben, daß Frankreich noch | ||||||
[ Seite 216 ] [ Seite 218 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |