Kant: AA XI, Briefwechsel 1790 , Seite 175 |
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Text (Kant):
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| 01 | aber von unsrer eignen Seele eben so wenig einen Begriff. Oder fürchtet | ||||||
| 02 | man hier Spinozismus; so dünkt mich ist nach obiger Definition demselben | ||||||
| 03 | genugsam zuvorgekommen. Denn dem Spinozismus zufolge ist Gott | ||||||
| 04 | und die Welt ein und ebendieselbe Substanz. Iener Erklärung aber | ||||||
| 05 | zufolge ist die Weltseele eine von Gott erschaffne Substanz. Gott wird | ||||||
| 06 | als intelligentia pura extramundana vorgestellt. Diese Weltseele hingegen, | ||||||
| 07 | wird zwar als eine Intelligenz, aber als eine solche, welche mit | ||||||
| 08 | einem Körper (der Welt) in Verbindung steht, folglich eingeschränkt | ||||||
| 09 | und den Gesetzen der Natur unterworfen ist, vorgestellt. Als Ding | ||||||
| 10 | an sich kann man eben so wenig behaupten, daß es mehrere Substanzen, | ||||||
| 11 | als daß es nur eine einzige in der Welt gäbe. Als Phänomene | ||||||
| 12 | hingegen glaube ich aus guten Gründen für das letztere entscheiden | ||||||
| 13 | zu können. Denn a) die gänzliche Unterbrechung der Würksamkeit | ||||||
| 14 | der sogenannten Substanzen z E des Denkens im Schlafe | ||||||
| 15 | usw muß gegen die Substanzialität derselben ein Mißtrauen erregen. | ||||||
| 16 | Locke behauptet; die menschliche Seele denke nicht beständig, und führt | ||||||
| 17 | jene Unterbrechung als Beyspiel an. Leibnitz nimmt dieserwegen zu | ||||||
| 18 | den dunkeln Vorstellungen seine Zuflucht, und sucht derselben Realität | ||||||
| 19 | aus der Verbindung der auf die Unterbrechung folgenden Vorstellungen | ||||||
| 20 | mit den ihr vorhergehenden zu beweisen. Was sind aber diese dunkle | ||||||
| 21 | Vorstellungen anders, als bloße Dispositionen und zurückgelase[ne] | ||||||
| 22 | Spuren der die Ideen begleitenden Bewegungen in den Organe[n.] | ||||||
| 23 | Nach dem Begriff einer Weltseele hingegen läßt sich dieser Zusammenhang | ||||||
| 24 | auf eine faßliche Art erklären. Iede Bewegung in den Organen | ||||||
| 25 | wird von einer derselben entsprechenden Vorstellung begleitet, wozu | ||||||
| 26 | aber ein gewißer Grad der Intensität gehöret. Während des Schlafes | ||||||
| 27 | aber läßt diese Intensität nach. Diese Weltseele kann also alsdann | ||||||
| 28 | keine Vorstellungen bewürken. Beym Erwachen aber nimmt diese Intensität | ||||||
| 29 | wieder zu, so daß jene Bewegungen von denen ihnen entsprechenden | ||||||
| 30 | Vorstellungen begleitet werden. Und da die auf den Schlaf | ||||||
| 31 | folgenden Bewegungen mit den vor demselben hergehenden und während | ||||||
| 32 | deßelben fortdauernden Bewegungen, nach den Gesetzen der Natur, | ||||||
| 33 | in genauen Zusammenhang stehen, so muß dies auch bey den, diesen | ||||||
| 34 | Bewegungen entsprechenden Vorstellungen, stattfinden. b) Auch scheinet | ||||||
| 35 | die Natur der objektiven Wahrheit, die alle Menschen voraussetzen, die | ||||||
| 36 | Idee einer Weltseele nothwendig zu erfordern; woraus sich die Identität | ||||||
| 37 | der Formen des Denkens bey allen denkenden Subjekten, und die | ||||||
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