Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 094

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der nothwendige Unterschied zwischen Phänomenon und Noumenon ,      
  02 und daß folglich der Mensch in beyder Hinsicht betrachtet werden      
  03 müsse, völlig unbekannt ist: so scheint's ihnen auch unmöglich begreifen      
  04 zu können, daß der Mensch als Phänomenon dem Naturmechanism      
  05 unterworfen, und doch als Noumenon frey seyn und den      
  06 sinnlichen Eindrücken selbst entgegen handeln könne. Vielmehr scheints      
  07 ihnen unwiederlegbar durch Hume dargethan zu seyn, daß der Mensch      
  08 durch die stärksten Beweggründe und augenblicklichen Eindrücke jedesmal      
  09 zu Handlungen angetrieben werde. - Diese Schwierigkeiten und      
  10 Einwürfe, die sich nicht so leicht durch unterbrochene Unterredungen      
  11 auseinandersetzen lassen, glaube ich doch durch eine Abhandlung, wo      
  12 man von einem Folgesatz zum andern allmählich übergehen kann,      
  13 leicht heben zu können. - Sollte ich also auch zu diesem Zweck bey      
  14 baldiger Musse etwas aufsetzen: so würde ich's doch nicht wagen,      
  15 durch den Druck bekannt zu machen, bevor ich es Ihrer Beurtheilung      
  16 vorgelegt hätte. Denn ich bin zu sehr überzeugt, wie viel bey der      
  17 Ausbreitung Ihres Systems in Britanien auf die erste Publication      
  18 ankömmt, und diesem Endzwecke wünschte ich keinesweges durch meine      
  19 Schuld oder Unvermögen entgegen zu arbeiten. - Bisher hab ich      
  20 unter den sich hier befindenden oder durchreisenden Deutschen keinen      
  21 angetroffen, mit dem ich mich über Ihre Schriften hätte unterhalten      
  22 können. Seit etwa 3 Wochen aber befindet sich Herr Doctor Girtanner      
  23 hier, der in Deutschland durch verschiedene Abhandlungen, besonders      
  24 aber durch sein ganz vortreflich Buch über die venerische Krankheit      
  25 rühmlichst bekannt ist. Er ist ein Mann von gar seltenen Talenten      
  26 und ausserordentlicher Gelehrsamkeit. Dieser Dr. Girtanner, mit dem      
  27 ich in einem Hause lebe und dessen vertrauter Freund zu seyn ich      
  28 das Glück habe, ist ein großer Kenner und Verehrer Ihrer Schriften.      
  29 Er hat sich für einige Zeit in Iena bey Rath Reinhold aufgehalten,      
  30 blos in der Absicht, um sich mit ihm über Ihre Schriften zu unterreden,      
  31 und darin unterrichten zu lassen. - Durch ihn habe ich      
  32 Reinholds Buch: bisherige Schiksale der Kantschen Philosophie" zu      
  33 lesen bekommen, welches mir sehr große Freude verursacht hat.      
  34 Dr. Girtanner, wiewohl Ihnen persönlich unbekannt, in jeder Rücksicht      
  35 aber Ihrer Bekanntschaft werth, läßt sich Ihnen ergebenst empfehlen,      
  36 und versichert Sie seiner grösten Hochachtung. - Ohne Zweifel wird      
  37 Sie mein Bruder schon von meinem Entschlus allhier in gradum      
           
     

[ Seite 093 ] [ Seite 095 ] [ Inhaltsverzeichnis ]