Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 121

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 regiert, wenn er die Übel überschlägt, die das menschliche Geschlecht so      
  02 sehr und (wie es scheint) ohne Hoffnung eines Bessern drücken. Es ist      
  03 aber von der größten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu      
  04 sein (ob sie uns gleich auf unserer Erdenwelt eine so mühsame Bahn vorgezeichnet      
  05 hat): theils um unter den Mühseligkeiten immer noch Muth zu      
  06 fassen, theils um, indem wir die Schuld davon aufs Schicksal schieben,      
  07 nicht unsere eigene, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser Übel sein      
  08 mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbstbesserung die      
  09 Hülfe dagegen zu versäumen.      
           
  10 Man muß gestehen: daß die größten Übel, welche gesittete Völker      
  11 drücken, uns vom Kriege und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich      
  12 oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich      
  13 vermehrten Zurüstung zum künftigen zugezogen werden. Hiezu werden      
  14 alle Kräfte des Staats, alle Früchte seiner Cultur, die zu einer noch      
  15 größeren Cultur gebraucht werden könnten, verwandt; der Freiheit wird      
  16 an so viel Orten mächtiger Abbruch gethan und die mütterliche Vorsorge      
  17 des Staats für einzelne Glieder in eine unerbittliche Härte der Forderungen      
  18 verwandelt, indeß diese doch auch durch die Besorgniß äußerer Gefahr      
  19 gerechtfertigt wird. Allein würde wohl diese Cultur, würde die enge Verbindung      
  20 der Stände des gemeinen Wesens zur wechselseitigen Beförderung      
  21 ihres Wohlstandes, würde die Bevölkerung, ja sogar der Grad der Freiheit,      
  22 der, obgleich unter sehr einschränkenden Gesetzen, noch übrig ist, wohl      
  23 angetroffen werden, wenn jener immer gefürchtete Krieg selbst den Oberhäuptern      
  24 der Staaten diese Achtung für die Menschheit nicht abnöthigte?      
  25 Man sehe nur Sina an, welches seiner Lage nach wohl etwa      
  26 einmal einen unvorhergesehenen Überfall, aber keinen mächtigen Feind zu      
  27 fürchten hat, und in welchem daher alle Spur von Freiheit vertilgt ist.      
  28 Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht,      
  29 ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und      
  30 nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Cultur würde ein immerwährender      
  31 Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich      
  32 sein. Also sind wir, was diesen Punkt betrifft, an den Übeln doch wohl      
  33 selbst Schuld, über die wir so bittere Klagen erheben; und die heilige      
  34 Urkunde hat ganz recht, die Zusammenschmelzung der Völker in eine Gesellschaft      
  35 und ihre völlige Befreiung von äußerer Gefahr, da ihre Cultur      
  36 kaum angefangen hatte, als eine Hemmung aller ferneren Cultur und eine      
  37 Versenkung in unheilbares Verderbniß vorzustellen.      
           
           
     

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