Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 327

   
         
 

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  01 sollte. Er nahm an: der Mensch sei von Natur (wie sie sich vererben    
  02 läßt) gut, aber auf negative Art, nämlich von selbst und absichtlich nicht    
  03 böse zu sein, sondern nur in Gefahr, von bösen oder ungeschickten Führern    
  04 und Beispielen angesteckt und verdorben zu werden. Da nun aber hiezu    
  05 wiederum gute Menschen erforderlich sind, die dazu selbst haben erzogen    
  06 werden müssen und deren es wohl keinen geben wird, der nicht (angeborne    
  07 oder zugezogene) Verdorbenheit in sich hätte: so bleibt das Problem der    
  08 moralischen Erziehung für unsere Gattung selbst der Qualität des Princips,    
  09 nicht blos dem Grade nach unaufgelöst, weil ein ihr angeborner    
  10 böser Hang wohl durch die allgemeine Menschenvernunft getadelt, allenfalls    
  11 auch gebändigt, dadurch aber doch nicht vertilgt wird.    
         
  12 In einer bürgerlichen Verfassung, welche der höchste Grad der künstlichen    
  13 Steigerung der guten Anlage in der Menschengattung zum Endzweck    
  14 ihrer Bestimmung ist, ist doch die Thierheit früher und im Grunde    
  15 mächtiger als die reine Menschheit in ihren Äußerungen, und das zahme    
  16 Vieh ist nur durch Schwächung dem Menschen nützlicher, als das wilde.    
  17 Der eigene Wille ist immer in Bereitschaft, in Widerwillen gegen seinen    
  18 Nebenmenschen auszubrechen, und strebt jederzeit, seinen Anspruch auf    
  19 unbedingte Freiheit, nicht blos unabhängig, sondern selbst über andere    
  20 ihm von Natur gleiche Wesen Gebieter zu sein; welches man auch an dem    
  21 kleinsten Kinde schon gewahr wird*): weil die Natur in ihm von der Cultur    
         
    *) Das Geschrei, welches ein kaum gebornes Kind hören läßt, hat nicht den Ton des Jammerns, sondern der Entrüstung und aufgebrachten Zorns an sich; nicht weil ihm was schmerzt, sondern weil ihm etwas verdrießt; vermuthlich darum, weil es sich bewegen will und sein Unvermögen dazu gleich als eine Fesselung fühlt, wodurch ihm die Freiheit genommen wird. - Was mag doch die Natur hiemit für eine Absicht haben, daß sie das Kind mit lautem Geschrei auf die Welt kommen läßt, welches doch für dasselbe und die Mutter im rohen Naturzustande von äußerster Gefahr ist? Denn ein Wolf, ein Schwein sogar würde ja dadurch angelockt, in Abwesenheit oder bei der Entkräftung derselben durch die Niederkunft es zu fressen. Kein Thier aber außer dem Menschen (wie er jetzt ist) wird beim Geboren werden seine Existenz laut ankündigen; welches von der Weisheit der Natur so angeordnet zu sein scheint, um die Art zu erhalten. Man muß also annehmen: daß in der frühen Epoche der Natur in Ansehung dieser Thierklasse (nämlich des Zeitlaufs der Rohigkeit) dieses Lautwerden des Kindes bei seiner Geburt [Seitenumbruch] noch nicht war; mithin nur späterhin eine zweite Epoche, wie beide Ältern schon zu derjenigen Cultur, die zum häuslichen Leben nothwendig ist, gelangt waren, eingetreten ist; ohne daß wir wissen: wie die Natur und durch welche mitwirkende Ursachen sie eine solche Entwickelung veranstaltete. Diese Bemerkung führt weit, z. B. auf den Gedanken: ob nicht auf dieselbe zweite Epoche bei großen Naturrevolutionen noch eine dritte folgen dürfte; da ein Orang=Utang oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Cultur sich allmählig entwickelte.    
         
     

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