Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 252 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
01 | Von den Affecten in Gegeneinanderstellung derselben |
||||||
02 | mit der Leidenschaft. |
||||||
03 | § 74. Der Affect ist Überraschung durch Empfindung, wodurch die | ||||||
04 | Fassung des Gemüths ( animus sui compos ) aufgehoben wird. Er ist also | ||||||
05 | übereilt, d. i. er wächst geschwinde zu einem Grade des Gefühls, der die | ||||||
06 | Überlegung unmöglich macht (ist unbesonnen). - Die Affectlosigkeit ohne | ||||||
07 | Verminderung der Stärke der Triebfedern zum Handeln ist das Phlegma | ||||||
08 | im guten Verstande, eine Eigenschaft des wackeren Mannes ( animi | ||||||
09 | strenui ), sich durch jener ihre Stärke nicht aus der ruhigen Überlegung | ||||||
10 | bringen zu lassen. Was der Affect des Zorns nicht in der Geschwindigkeit | ||||||
11 | thut, das thut er gar nicht; und er vergißt leicht. Die Leidenschaft des | ||||||
12 | Hasses aber nimmt sich Zeit, um sich tief einzuwurzeln und es seinem | ||||||
13 | Gegner zu denken. - Ein Vater, ein Schulmeister können nicht strafen, | ||||||
14 | wenn sie die Abbitte (nicht die Rechtfertigung) anzuhören nur die Geduld | ||||||
15 | gehabt haben. - Nöthigt einen, der im Zorn zu euch ins Zimmer tritt, | ||||||
16 | um euch in heftiger Entrüstung harte Worte zu sagen, höflich, sich zu | ||||||
17 | setzen; wenn es euch hiemit gelingt, so wird sein Schelten schon gelinder: | ||||||
18 | weil die Gemächlichkeit des Sitzens eine Abspannung ist, welche mit den | ||||||
19 | drohenden Geberdungen und dem Schreien im Stehen sich nicht wohl vereinigen | ||||||
20 | läßt. Die Leidenschaft hingegen (als zum Begehrungsvermögen | ||||||
21 | gehörige Gemüthsstimmung) läßt sich Zeit und ist überlegend, so heftig | ||||||
22 | sie auch sein mag, um ihren Zweck zu erreichen. - Der Affect wirkt wie | ||||||
23 | ein Wasser, was den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom, | ||||||
24 | der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affect wirkt auf die | ||||||
25 | Gesundheit wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie eine Schwindsucht | ||||||
26 | oder Abzehrung. - Er ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich | ||||||
27 | Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem | ||||||
28 | Gift oder Verkrüppelung anzusehen, die einen innern oder | ||||||
29 | äußern Seelenarzt bedarf, der doch mehrentheils keine radicale, sondern | ||||||
30 | fast immer nur palliativ=heilende Mittel zu verschreiben weiß. | ||||||
31 | Wo viel Affect ist, da ist gemeiniglich wenig Leidenschaft; wie bei | ||||||
32 | den Franzosen, welche durch ihre Lebhaftigkeit veränderlich sind in Vergleichung | ||||||
33 | mit Italienern und Spaniern (auch Indiern und Chinesen), | ||||||
34 | die in ihrem Groll über Rache brüten, oder in ihrer Liebe bis zum Wahnsinn | ||||||
35 | beharrlich sind. - Affecten sind ehrlich und offen, Leidenschaften dagegen | ||||||
36 | hinterlistig und versteckt. Die Chinesen werfen den Engländern vor, | ||||||
[ Seite 251 ] [ Seite 253 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |