Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 219 |
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01 | begnadigt, oder heimgesucht und mit höheren Wesen im Gespräche | ||||||
02 | und Umgange zu sein glaubt; doch dann eben nicht, wenn er zwar | ||||||
03 | andere heilige Männer dieser übersinnlichen Anschauungen vielleicht für | ||||||
04 | fähig einräumt, sich selbst aber dazu nicht auserwählt zu sein wähnt, ja | ||||||
05 | es auch nicht einmal zu wünschen gesteht und also sich ausnimmt. | ||||||
06 | Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des | ||||||
07 | Gemeinsinnes ( sensus communis ) und der dagegen eintretende logische | ||||||
08 | Eigensinn ( sensus privatus ), z. B. ein Mensch sieht am hellen | ||||||
09 | Tage auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende | ||||||
10 | nicht sieht, oder hört eine Stimme, die kein Anderer hört. Denn | ||||||
11 | es ist ein subjectiv=nothwendiger Probirstein der Richtigkeit unserer Urtheile | ||||||
12 | überhaupt und also auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß | ||||||
13 | wir diesen auch an den Verstand Anderer halten, nicht aber uns mit | ||||||
14 | dem unsrigen isoliren und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam | ||||||
15 | öffentlich urtheilen. Daher das Verbot der Bücher, die blos auf theoretische | ||||||
16 | Meinungen gestellt sind (vornehmlich wenn sie aufs gesetzliche | ||||||
17 | Thun und Lassen gar nicht Einfluß haben), die Menschheit beleidigt. | ||||||
18 | Denn man nimmt uns ja dadurch, wo nicht das einzige, doch das größte | ||||||
19 | und brauchbarste Mittel unsere eigene Gedanken zu berichtigen, welches | ||||||
20 | dadurch geschieht, daß wir sie öffentlich aufstellen, um zu sehen, ob sie auch | ||||||
21 | mit Anderer ihrem Verstande zusammenpassen; weil sonst etwas blos Subjectives | ||||||
22 | (z. B. Gewohnheit oder Neigung) leichtlich für objectiv würde gehalten | ||||||
23 | werden: als worin gerade der Schein besteht, von dem man sagt, | ||||||
24 | er betrügt, oder vielmehr wodurch man verleitet wird, in der Anwendung | ||||||
25 | einer Regel sich selbst zu betrügen. - Der, welcher sich an diesen Probirstein | ||||||
26 | gar nicht kehrt, sondern es sich in den Kopf setzt, den Privatsinn ohne, | ||||||
27 | oder selbst wider den Gemeinsinn schon für gültig anzuerkennen, ist einem | ||||||
28 | Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit anderen gemeinsamen | ||||||
29 | Welt, sondern (wie im Traum) in seiner eigenen sich sieht, verfährt | ||||||
30 | und urtheilt. - Bisweilen kann es doch blos an den Ausdrücken liegen, | ||||||
31 | wodurch ein sonst helldenkender Kopf seine äußern Wahrnehmungen Anderen | ||||||
32 | mittheilen will, daß sie nicht mit dem Princip des Gemeinsinnes | ||||||
33 | zusammenstimmen wollen, und er auf seinem Sinne beharrt. So hatte | ||||||
34 | der geistvolle Verfasser der Oceana, Harrington, die Grille, daß seine | ||||||
35 | Ausdünstungen ( effluvia ) in Form der Fliegen von seiner Haut absprangen. | ||||||
36 | Es könnten dieses aber wohl elektrische Wirkungen auf einen mit diesem | ||||||
37 | Stoff überladenen Körper gewesen sein, wovon man auch sonst Erfahrung | ||||||
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