Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 050 |
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01 | sind. Dagegen hat der reine Religionsglaube rechtmäßigen Anspruch auf | ||||||
02 | Allgemeingültigkeit ( catholicismus rationalis ). Die Sectirerei in Glaubenssachen | ||||||
03 | wird also bei dem letztern nie Statt finden, und wo sie angetroffen | ||||||
04 | wird, da entspringt sie immer aus einem Fehler des Kirchenglaubens: | ||||||
05 | seine Statute (selbst göttliche Offenbarungen) für wesentliche Stücke | ||||||
06 | der Religion zu halten, mithin den Empirism in Glaubenssachen dem | ||||||
07 | Rationalism unterzuschieben und so das blos zufällige für an sich nothwendig | ||||||
08 | auszugeben. Da nun in zufälligen Lehren es vielerlei einander | ||||||
09 | widerstreitende, theils Satzungen, theils Auslegung von Satzungen, geben | ||||||
10 | kann: so ist leicht einzusehen, daß der bloße Kirchenglaube, ohne durch den | ||||||
11 | reinen Religionsglauben geläutert zu sein, eine reiche Quelle unendlich | ||||||
12 | vieler Secten in Glaubenssachen sein werde. | ||||||
13 | Um diese Läuterung, worin sie bestehe, bestimmt anzugeben, scheint | ||||||
14 | mir der zum Gebrauch schicklichste Probirstein der Satz zu sein: ein jeder | ||||||
15 | Kirchenglaube, so fern er blos statutarische Glaubenslehren für wesentliche | ||||||
16 | Religionslehren ausgiebt, hat eine gewisse Beimischung von Heidenthum; | ||||||
17 | denn dieses besteht darin, das Äußerliche (Außerwesentliche) der | ||||||
18 | Religion für wesentlich auszugeben. Diese Beimischung kann gradweise | ||||||
19 | so weit gehen, das die ganze Religion darüber in einen bloßen Kirchenglauben, | ||||||
20 | Gebräuche für Gesetze auszugeben, übergeht und alsdann baares | ||||||
21 | Heidenthum wird,*) wider welchen Schimpfnamen es nichts verschlägt zu | ||||||
22 | sagen, daß jene Lehren doch göttliche Offenbarungen seien; denn nicht jene | ||||||
23 | statutarische Lehren und Kirchenpflichten selbst, sondern der unbedingte | ||||||
24 | ihnen beigelegte Werth (nicht etwa blos Vehikel, sondern selbst Religionsstücke | ||||||
25 | zu sein, ob sie zwar keinen inneren moralischen Gehalt bei sich führen, | ||||||
26 | also nicht die Materie der Offenbarung, sondern die Form ihrer Aufnahme | ||||||
27 | in seine praktische Gesinnung) ist das, was auf eine solche glaubensweise | ||||||
28 | den Namen des Heidenthums mit Recht fallen läßt. Die kirchliche Autorität, | ||||||
29 | nach einem solchen Glauben selig zu sprechen oder zu verdammen, | ||||||
30 | würde das Pfaffenthum genannt werden, von welchem Ehrennamen sich | ||||||
31 | so nennende Protestanten nicht auszuschließen sind, wenn sie das Wesentliche | ||||||
*) Heidenthum ( Paganismus ) ist der Worterklärung nach der religiöse Aberglaube des Volks in Wäldern (Heiden), d. i. einer Menge, deren Religionsglaube noch ohne alle kirchliche Verfassung, mithin ohne öffentliches Gesetz ist. Juden aber Mohammedaner und Indier halten das für kein Gesetz, was nicht das ihrige ist, und benennen andere Völker, die nicht eben dieselbe kirchliche Observanzen haben, mit dem Titel der Verwerfung (Goj, Dschaur etc.), nämlich der Ungläubigen. | |||||||
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