Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 049 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
01 | wir eines Anderen warten?", wofür es auch anfänglich die Römer nahmen. | ||||||
02 | In dieser Bedeutung aber würde das Christenthum ein gewisser auf | ||||||
03 | Satzungen und Schrift gegründeter Volksglaube sein, von dem man nicht | ||||||
04 | wissen könnte, ob er gerade für alle Menschen gültig oder der letzte Offenbarungsglaube | ||||||
05 | sein dürfte, bei dem es forthin bleiben müßte, oder ob | ||||||
06 | nicht künftig andere göttliche Statuten, die dem Zweck noch näher träten, | ||||||
07 | zu erwarten wären. | ||||||
08 | Um also ein bestimmtes Schema der Eintheilung einer Glaubenslehre | ||||||
09 | in Secten zu haben, können wir nicht von empirischen Datis, sondern wir | ||||||
10 | müssen von Verschiedenheiten anfangen, die sich a priori durch die Vernunft | ||||||
11 | denken lassen, um in der Stufenreihe der Unterschiede der Denkungsart | ||||||
12 | in Glaubenssachen die Stufe auszumachen, in der die Verschiedenheit | ||||||
13 | zuerst einen Sectenunterschied begründen würde. | ||||||
14 | In Glaubenssachen ist das Princip der Eintheilung nach der angenommenen | ||||||
15 | Denkungsart entweder Religion oder Heidenthum (die | ||||||
16 | einander wie A und non A entgegen sind). Die Bekenner der ersteren | ||||||
17 | werden gewöhnlich Gläubige, die des zweiten Ungläubige genannt. | ||||||
18 | Religion ist derjenige Glaube, der das wesentliche aller Verehrung | ||||||
19 | Gottes in der Moralität des Menschen setzt: Heidenthum, der es nicht | ||||||
20 | darin setzt; entweder weil es ihm gar an dem Begriffe eines übernatürlichen | ||||||
21 | und moralischen Wesens mangelt ( ethnicismus brutus ), oder weil | ||||||
22 | er etwas Anderes als die Gesinnung eines sittlich wohlgeführten Lebenswandels, | ||||||
23 | also das Nichtwesentliche der Religion, zum Religionsstück macht | ||||||
24 | ( ethnicismus speciosus ). | ||||||
25 | Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht werden | ||||||
26 | sollen, sind nun entweder blos statutarisch, mithin für uns zufällig und | ||||||
27 | Offenbarungslehren, oder moralisch, mithin mit dem Bewußtsein ihrer | ||||||
28 | Nothwendigkeit verbunden und a priori erkennbar, d. i. Vernunftlehren | ||||||
29 | des Glaubens. Der Inbegriff der ersteren Lehren macht den Kirchen=, | ||||||
30 | der anderen aber den reinen Religionsglauben aus.*) | ||||||
31 | Allgemeinheit für einen Kirchenglauben zu fordern ( catholicismus | ||||||
32 | hierarchicus ) ist ein Widerspruch, weil unbedingte Allgemeinheit Nothwendigkeit | ||||||
33 | voraus setzt, die nur da Statt findet, wo die Vernunft selbst | ||||||
34 | die Glaubenssätze hinreichend begründet, mithin diese nicht bloße Statute | ||||||
*) Diese Eintheilung, welche ich nicht für präcis und dem gewöhnlichen Redegebrauch angemessen ausgebe, mag einstweilen hier gelten. | |||||||
[ Seite 048 ] [ Seite 050 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |