Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 463

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 39.
     
           
  02 Andere Verachten ( contemnere ), d. i. ihnen die dem Menschen überhaupt      
  03 schuldige Achtung weigern, ist auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es      
  04 sind Menschen. Sie vergleichungsweise mit Anderen innerlich geringschätzen      
  05 ( despicatui habere ) ist zwar bisweilen unvermeidlich, aber die      
  06 äußere Bezeigung der Geringschätzung ist doch Beleidigung. - Was gefährlich      
  07 ist, ist kein Gegenstand der Verachtung, und so ist es auch nicht      
  08 der Lasterhafte; und wenn die Überlegenheit über die Angriffe desselben      
  09 mich berechtigt zu sagen: ich verachte jenen, so bedeutet das nur so viel,      
  10 als: es ist keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine Vertheidigung      
  11 gegen ihn veranstaltete, weil er sich in seiner Verworfenheit selbst darstellt.      
  12 Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen      
  13 nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines      
  14 Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine That sich      
  15 derselben unwürdig macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit selbst      
  16 entehrende Strafen geben (wie das Viertheilen, von Hunden zerreißen      
  17 lassen, Nasen und Ohren abschneiden), die nicht blos dem Ehrliebenden      
  18 (der auf Achtung Anderer Anspruch macht, was ein jeder thun muß)      
  19 schmerzhafter sind, als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern      
  20 auch dem Zuschauer Schamröthe abjagen, zu einer Gattung zu gehören,      
  21 mit der man so verfahren darf.      
           
  22 Anmerkung. Hierauf gründet sich eine Pflicht der Achtung      
  23 für den Menschen selbst im logischen Gebrauch seiner Vernunft: die      
  24 Fehltritte derselben nicht unter dem Namen der Ungereimtheit, des      
  25 abgeschmackten Urtheils u. dg. zu rügen, sondern vielmehr voraus zu      
  26 setzen, daß in demselben doch etwas Wahres sein müsse, und dieses      
  27 heraus zu suchen; dabei aber auch zugleich den trüglichen Schein      
  28 (das Subjective der Bestimmungsgründe des Urtheils, was durch      
  29 ein Versehen für objectiv gehalten wurde) aufzudecken und so, indem      
  30 man die Möglichkeit zu irren erklärt, ihm noch die Achtung für seinen      
  31 Verstand zu erhalten. Denn spricht man seinem Gegner in einem      
  32 gewissen Urtheile durch jene Ausdrücke allen Verstand ab, wie will      
  33 man ihn dann darüber verständigen, daß er geirrt habe? - Eben      
  34 so ist es auch mit dem Vorwurf des Lasters bewandt, welcher nie      
  35 zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werths      
  36 des Lasterhaften ausschlagen muß: weil nach dieser Hypothese auch      
           
     

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