Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 453 |
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02 | Wohlthätig, d. i. anderen Menschen in Nöthen zu ihrer Glückseligkeit, | ||||||
03 | ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu | ||||||
04 | sein, ist jedes Menschen Pflicht. | ||||||
05 | Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von | ||||||
06 | anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen | ||||||
07 | wiederum in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden | ||||||
08 | ließe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnißgesetz machte: so würde ihm, | ||||||
09 | wenn er selbst in Noth ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, | ||||||
10 | oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige | ||||||
11 | Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, | ||||||
12 | d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige des Wohlthuns gegen | ||||||
13 | Bedürftige allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als | ||||||
14 | Mitmenschen, d. i. Bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur | ||||||
15 | wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind. | ||||||
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17 | Wohlthun ist für den, der reich (mit Mitteln zur Glückseligkeit | ||||||
18 | Anderer überflüssig, d. i. über sein eigenes Bedürfniß, versehen) ist, von | ||||||
19 | dem Wohlthäter fast nicht einmal für seine verdienstliche Pflicht zu halten; | ||||||
20 | ob er zwar dadurch zugleich den Anderen verbindet. Das Vergnügen, | ||||||
21 | was er sich hiemit selbst macht, welches ihm keine Aufopferung kostet, ist | ||||||
22 | eine Art in moralischen Gefühlen zu schwelgen. Auch muß er allen | ||||||
23 | Schein, als dächte er den Anderen hiemit zu verbinden, sorgfältig vermeiden: | ||||||
24 | weil es sonst nicht wahre Wohlthat wäre, die er diesem erzeigte, | ||||||
25 | indem er ihm eine Verbindlichkeit (die den letzteren in seinen eigenen | ||||||
26 | Augen immer erniedrigt) auflegen zu wollen äußerte. Er muß sich vielmehr, | ||||||
27 | als durch die Annahme des Anderen selbst verbindlich gemacht, oder beehrt, | ||||||
28 | mithin die Pflicht blos als seine Schuldigkeit äußeren, wenn er nicht | ||||||
29 | (welches besser ist) seinen Wohlthätigkeitsact ganz im Verborgenen ausübt. | ||||||
30 | Größer ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohlthun beschränkt | ||||||
31 | und der Wohlthäter stark genug ist, die Übel, welche er Anderen | ||||||
32 | erspart, stillschweigend über sich zu nehmen, wo er alsdann wirklich für | ||||||
33 | moralisch=reich anzusehen ist. | ||||||
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