Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 453

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
§ 30.
     
           
  02 Wohlthätig, d. i. anderen Menschen in Nöthen zu ihrer Glückseligkeit,      
  03 ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu      
  04 sein, ist jedes Menschen Pflicht.      
           
  05 Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von      
  06 anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen      
  07 wiederum in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden      
  08 ließe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnißgesetz machte: so würde ihm,      
  09 wenn er selbst in Noth ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen,      
  10 oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige      
  11 Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde,      
  12 d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige des Wohlthuns gegen      
  13 Bedürftige allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als      
  14 Mitmenschen, d. i. Bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur      
  15 wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind.      
           
  16
§ 31.
     
           
  17 Wohlthun ist für den, der reich (mit Mitteln zur Glückseligkeit      
  18 Anderer überflüssig, d. i. über sein eigenes Bedürfniß, versehen) ist, von      
  19 dem Wohlthäter fast nicht einmal für seine verdienstliche Pflicht zu halten;      
  20 ob er zwar dadurch zugleich den Anderen verbindet. Das Vergnügen,      
  21 was er sich hiemit selbst macht, welches ihm keine Aufopferung kostet, ist      
  22 eine Art in moralischen Gefühlen zu schwelgen. Auch muß er allen      
  23 Schein, als dächte er den Anderen hiemit zu verbinden, sorgfältig vermeiden:      
  24 weil es sonst nicht wahre Wohlthat wäre, die er diesem erzeigte,      
  25 indem er ihm eine Verbindlichkeit (die den letzteren in seinen eigenen      
  26 Augen immer erniedrigt) auflegen zu wollen äußerte. Er muß sich vielmehr,      
  27 als durch die Annahme des Anderen selbst verbindlich gemacht, oder beehrt,      
  28 mithin die Pflicht blos als seine Schuldigkeit äußeren, wenn er nicht      
  29 (welches besser ist) seinen Wohlthätigkeitsact ganz im Verborgenen ausübt.      
  30 Größer ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohlthun beschränkt      
  31 und der Wohlthäter stark genug ist, die Übel, welche er Anderen      
  32 erspart, stillschweigend über sich zu nehmen, wo er alsdann wirklich für      
  33 moralisch=reich anzusehen ist.      
           
           
     

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