Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 452

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sieht bald: daß hier nicht blos das Wohlwollen des Wunsches, welches      
  02 eigentlich ein bloßes Wohlgefallen am wohl jedes Anderen ist, ohne selbst      
  03 dazu etwas beitragen zu dürfen (ein jeder für sich; Gott für uns alle),      
  04 sondern ein thätiges, praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des      
  05 Anderen zum Zweck zu machen, (das Wohlthun) gemeint sei. Denn im      
  06 Wünschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Thun kann der Grad      
  07 nach Verschiedenheit der Geliebten (deren Einer mich näher angeht als      
  08 der Andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr      
  09 verschieden sein.      
           
  10
Eintheilung der Liebespflichten.
     
  11
Sie sind: A) Pflichten der Wohlthätigkeit, B) der Dankbarkeit,
     
  12
C) der Theilnehmung.
     
           
  13
A.
     
  14
Von der Pflicht der Wohlthätigkeit.
     
           
  15
§ 29.
     
           
  16 Sich selber gütlich thun, so weit als nöthig ist, um nur am Leben      
  17 ein Vergnügen zu finden, (seinen Leib, doch nicht bis zur Weichlichkeit zu      
  18 pflegen) gehört zu den Pflichten gegen sich selbst; - deren Gegentheil ist:      
  19 sich aus Geiz (sklavisch) des zum frohen Genuß des Lebens nothwendigen      
  20 oder aus übertriebener Disciplin seiner natürlichen Neigungen (schwärmerisch)      
  21 sich des Genusses der Lebensfreuden zu berauben, welches beides      
  22 der Pflicht des Menschen gegen sich selbst widerstreitet.      
           
  23 Wie kann man aber außer dem Wohlwollen des Wunsches in Ansehung      
  24 anderer Menschen (welches uns nichts kostet) noch, daß dieses      
  25 praktisch sei, d. i. das Wohlthun in Ansehung der Bedürftigen, jedermann,      
  26 der das Vermögen dazu hat, als Pflicht ansinnen? - Wohlwollen      
  27 ist das Vergnügen an der Glückseligkeit (dem Wohlsein) Anderer; Wohlthun      
  28 aber die Maxime, sich dasselbe zum Zweck zu machen, und Pflicht      
  29 dazu ist die Nöthigung des Subjects durch die Vernunft, diese Maxime      
  30 als allgemeines Gesetz anzunehmen.      
           
  31 Es fällt nicht von selbst in die Augen: daß ein solches Gesetz überhaupt      
  32 in der Vernunft liege; vielmehr scheint die Maxime: "Ein jeder      
  33 für sich, Gott (das Schicksal) für uns alle," die natürlichste zu sein.      
           
           
     

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