Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 430 |
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01 | Die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Worts), als vorsetzliche | ||||||
02 | Unwahrheit überhaupt, bedarf es auch nicht anderen schädlich zu sein, | ||||||
03 | um für verwerflich erklärt zu werden; denn da wäre sie Verletzung der | ||||||
04 | Rechte Anderer. Es kann auch blos Leichtsinn, oder gar Gutmüthigkeit | ||||||
05 | die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt | ||||||
06 | werden, so ist doch die Art ihm nachzugehen durch die bloße Form ein | ||||||
07 | Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person und eine Nichtswürdigkeit, | ||||||
08 | die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß. | ||||||
09 | Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die Menschen sich zu | ||||||
10 | Schulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu | ||||||
11 | erklären, scheint doch schwerer zu sein: weil eine zweite Person dazu erforderlich | ||||||
12 | ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsetzlich | ||||||
13 | zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint. | ||||||
14 | Der Mensch als moralisches Wesen ( homo noumenon ) kann sich selbst | ||||||
15 | als physisches Wesen ( homo phaenomenon ) nicht als bloßes Mittel | ||||||
16 | (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmittheilung) | ||||||
17 | nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung | ||||||
18 | mit der Erklärung ( declaratio ) des ersteren gebunden und | ||||||
19 | gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. - Wenn er z. B. den | ||||||
20 | Glauben an einen künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich keinen | ||||||
21 | solchen in sich findet, aber indem er sich überredet, es könne doch nicht | ||||||
22 | schaden, wohl aber nutzen, einen solchen in Gedanken einem Herzenskündiger | ||||||
23 | zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln. Oder | ||||||
24 | wenn er zwar desfalls nicht im Zweifel ist, aber sich doch mit innerer Verehrung | ||||||
25 | seines Gesetzes schmeichelt, da er doch keine andere Triebfeder, als | ||||||
26 | die der Furcht vor Strafe bei sich fühlt. | ||||||
27 | Unredlichkeit ist blos Ermangelung an Gewissenhaftigkeit, d. i. | ||||||
28 | an Lauterkeit des Bekenntnisses vor seinem inneren Richter, der als eine | ||||||
29 | andere Person gedacht wird, wenn diese in ihrer höchsten Strenge betrachtet | ||||||
30 | wird, wo ein Wunsch (aus Selbstliebe) für die That genommen | ||||||
31 | wird, weil er einen an sich guten Zweck vor sich hat, und die innere Lüge, | ||||||
32 | ob sie zwar der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider ist, erhält | ||||||
33 | hier den Namen einer Schwachheit, so wie der Wunsch eines Liebhabers | ||||||
34 | lauter gute Eigenschaften an seiner Geliebten zu finden ihm ihre augenscheinliche | ||||||
35 | Fehler unsichtbar macht. - Indessen verdient diese Unlauterkeit | ||||||
36 | in Erklärungen, die man gegen sich selbst verübt, doch die ernstlichste Rüge: | ||||||
37 | weil von einer solchen faulen Stelle (der Falschheit, welche in der menschlichen | ||||||
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