Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 429

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
I
     
  02
Von der Lüge.
     
           
  03
§ 9.
     
           
  04 Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos      
  05 als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das      
  06 Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge ( aliud lingua promtum, aliud      
  07 pectore inclusum gerere ). Daß eine jede vorsetzliche Unwahrheit in      
  08 Äußerung seiner Gedanken diesen harten Namen (den sie in der Rechtslehre      
  09 nur dann führt, wenn sie anderer Recht verletzt) in der Ethik, die      
  10 aus der Unschädlichkeit kein Befugniß hernimmt, nicht ablehnen könne, ist      
  11 für sich selbst klar. Denn Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen      
  12 Verachtung zu sein), welche sie begleitet, die begleitet auch den Lügner wie      
  13 sein Schatten. Die Lüge kann eine äußere ( mendacium externum ), oder      
  14 auch eine innere sein. - Durch jene macht er sich in Anderer, durch diese      
  15 aber, was noch mehr ist, in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der      
  16 Verachtung und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person;      
  17 wobei der Schade, der anderen Menschen daraus entspringen kann,      
  18 nicht das Eigenthümliche des Lasters betrifft (denn da bestände es blos      
  19 in der Verletzung der Pflicht gegen Andere) und also hier nicht in Anschlag      
  20 kommt, ja auch nicht der Schade, den er sich selbst zuzieht; denn      
  21 alsdann würde es blos als Klugheitsfehler der pragmatischen, nicht der      
  22 moralischen Maxime widerstreiten und gar nicht als Pflichtverletzung angesehen      
  23 werden können. - Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung      
  24 seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was      
  25 er einem Anderen (wenn es auch eine blos idealische Person wäre) sagt,      
  26 hat einen noch geringeren Werth, als wenn er blos Sache wäre; denn von      
  27 dieser ihrer Eigenschaft etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend      
  28 einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist; aber      
  29 die Mittheilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das      
  30 Gegentheil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei      
  31 denkt, ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mittheilung      
  32 seiner Gedanken gerade entgegen gesetzter Zweck, mithin Verzichtthuung      
  33 auf seine Persönlichkeit und eine blos täuschende Erscheinung vom      
  34 Menschen, nicht der Mensch selbst. - Die Wahrhaftigkeit in Erklärungen      
  35 wird auch Ehrlichkeit und, wenn diese zugleich Versprechen sind,      
  36 Redlichkeit, überhaupt aber Aufrichtigkeit genannt.      
           
           
     

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