Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 422 |
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05 | Die willkürliche Entleibung seiner selbst kann nur dann allererst | ||||||
06 | Selbstmord ( homicidium dolosum ) genannt werden, wenn bewiesen werden | ||||||
07 | kann, daß sie überhaupt ein Verbrechen ist, welches entweder an unserer | ||||||
08 | eigenen Person oder auch durch dieser ihre Selbstentleibung an anderen | ||||||
09 | begangen wird (z. B. wenn eine schwangere Person sich selbst umbringt). | ||||||
10 | a) Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord). Dieses kann | ||||||
11 | nun zwar auch als Übertretung seiner Pflicht gegen andere Menschen | ||||||
12 | (Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Unterthans gegen seine Obrigkeit, | ||||||
13 | oder seine Mitbürger, endlich auch gegen Gott, dessen uns anvertrauten | ||||||
14 | Posten in der Welt der Mensch verläßt, ohne davon abgerufen zu sein) | ||||||
15 | betrachtet werden; - aber hier ist nur die Rede von Verletzung einer | ||||||
16 | Pflicht gegen sich selbst, ob nämlich, wenn ich auch alle jene Rücksichten | ||||||
17 | bei Seite setzte, der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens blos durch | ||||||
18 | seine Qualität als Person verbunden sei und hierin eine (und zwar | ||||||
19 | strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen müsse. | ||||||
20 | Daß der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint ungereimt zu | ||||||
21 | sein ( volenti non fit iniuria ). Daher sah es der Stoiker für einen Vorzug | ||||||
22 | seiner (des Weisen) Persönlichkeit an, beliebig aus dem Leben (als | ||||||
23 | aus einem Zimmer, das raucht), ungedrängt durch gegenwärtige oder | ||||||
24 | besorgliche Übel, mit ruhiger Seele hinaus zu gehen: weil er in demselben | ||||||
25 | zu nichts mehr nutzen könne. - Aber eben dieser Muth, diese Seelenstärke, | ||||||
26 | den Tod nicht zu fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch | ||||||
27 | höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch so viel größerer | ||||||
28 | Bewegungsgrund sein müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die | ||||||
29 | stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabende Obermacht, nicht zu zerstören, | ||||||
30 | mithin sich des Lebens nicht zu berauben. | ||||||
31 | Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von | ||||||
32 | Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch | ||||||
33 | die Befugniß zu haben sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d. i. frei so | ||||||
34 | zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugniß bedürfte. | ||||||
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