Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 213 |
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01 | gegründet, so müßte Empfindung mit Lust verbunden sein und so das | ||||||
02 | Begehrungsvermögen bestimmen können. Obgleich, wo ein blos reines | ||||||
03 | Vernunftinteresse angenommen werden muß, ihm kein Interesse der Neigung | ||||||
04 | untergeschoben werden kann, so können wir doch, um dem Sprachgebrauche | ||||||
05 | gefällig zu sein, einer Neigung selbst zu dem, was nur Object einer | ||||||
06 | intellectuellen Lust sein kann, ein habituelles Begehren aus reinem Vernunftinteresse | ||||||
07 | einräumen, welche alsdann aber nicht die Ursache, sondern | ||||||
08 | die Wirkung des letztern Interesse sein würde, und die wir die sinnenfreie | ||||||
09 | Neigung ( propensio intellectualis ) nennen könnten. | ||||||
10 | Noch ist die Concupiscenz (das Gelüsten) von dem Begehren selbst | ||||||
11 | als Anreiz zur Bestimmung desselben zu unterscheiden. Sie ist jederzeit | ||||||
12 | eine sinnliche, aber noch zu keinem Act des Begehrungsvermögens gediehene | ||||||
13 | Gemüthsbestimmung. | ||||||
14 | Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund | ||||||
15 | desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen | ||||||
16 | wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu | ||||||
17 | lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung | ||||||
18 | zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkür; ist es | ||||||
19 | aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. | ||||||
20 | Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich | ||||||
21 | selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt | ||||||
22 | der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl | ||||||
23 | (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den | ||||||
24 | Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber | ||||||
25 | vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die | ||||||
26 | Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst. | ||||||
27 | Unter dem Willen kann die Willkür, aber auch der bloße Wunsch | ||||||
28 | enthalten sein, sofern die Vernunft das Begehrungsvermögen überhaupt | ||||||
29 | bestimmen kann. Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden | ||||||
30 | kann, heißt die freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen | ||||||
31 | Antrieb, stimulus ) bestimmbar ist, würde thierische Willkür ( arbitrium | ||||||
32 | brutum ) sein. Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche | ||||||
33 | durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also | ||||||
34 | für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber | ||||||
35 | doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. Die Freiheit | ||||||
36 | der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche | ||||||
37 | Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das | ||||||
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