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Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 064  | 
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Text (Kant):    | 
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 in der menschlichen Seele schon für sich selbst unbegreiflich genug ist, daß | 
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 man nicht eben nöthig hat, außer seinem übernatürlichen Ursprunge es  | 
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 noch in einem besondern Menschen hypostasirt anzunehmen. Vielmehr  | 
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 würde die Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der  | 
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 menschlichen Natur der praktischen Anwendung der Idee desselben auf  | 
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 unsere Nachfolge nach allem, was wir einzusehen vermögen, eher im Wege  | 
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 sein. Denn wenn gleich jenes Gott wohlgefälligen Menschen Natur in so  | 
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 weit als menschlich gedacht würde: daß er mit eben denselben Bedürfnissen,  | 
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 folglich auch denselben Leiden, mit eben denselben Naturneigungen,  | 
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 folglich auch eben solchen Versuchungen zur Übertretung wie wir behaftet,  | 
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 aber doch so fern als übermenschlich gedacht würde, daß nicht etwa  | 
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 errungene , sondern angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens ihm  | 
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 schlechterdings keine Übertretung möglich sein ließe: so würde diese Distanz  | 
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 vom natürlichen Menschen dadurch wiederum so unendlich groß werden,  | 
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 daß jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt  | 
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 werden könnte. Der Letztere würde sagen: man gebe mir einen  | 
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 ganz heiligen Willen, so wird alle Versuchung zum Bösen von selbst an  | 
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 mir scheitern; man gebe mir die innere vollkommenste Gewißheit, daß | 
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 nach einem kurzen Erdenleben ich (zufolge jener Heiligkeit) der ganzen  | 
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 ewigen Herrlichkeit des Himmelreichs sofort theilhaftig werden soll, so  | 
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 werde ich alle Leiden, so schwer sie auch immer sein mögen, bis zum  | 
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 schmählichsten Tode nicht allein willig, sondern auch mit Fröhlichkeit übernehmen,  | 
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 da ich den herrlichen und nahen Ausgang mit Augen vor mir  | 
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 sehe. Zwar würde der Gedanke: daß jener göttliche Mensch im wirklichen  | 
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 Besitze dieser Hoheit und Seligkeit von Ewigkeit war (und sie nicht allererst  | 
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 durch solche Leiden verdienen durfte); daß er sich derselben für lauter  | 
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 unwürdige, sogar für seine Feinde willig entäußerte, um sie vom ewigen  | 
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 Verderben zu erretten, unser Gemüth zur Bewunderung, Liebe und Dankbarkeit  | 
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 gegen ihn stimmen müssen; imgleichen würde die Idee eines Verhaltens  | 
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 nach einer so vollkommenen Regel der Sittlichkeit für uns allerdings  | 
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 auch als Vorschrift zur Befolgung geltend, er selbst aber nicht als  | 
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 Beispiel der Nachahmung, mithin auch nicht als Beweis der Thunlichkeit  | 
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 und Erreichbarkeit eines so reinen und hohen moralischen Guts für uns  | 
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 uns vorgestellt werden können *).  | 
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 *) Es ist freilich eine Beschränktheit der menschlichen Vernunft, die doch einmal  von ihr nicht zu trennen ist: daß wir uns keinen moralischen Werth von Belange an  [Seitenumbruch] den Handlungen einer Person denken können, ohne zugleich sie oder ihre Äußerung auf  menschliche Weise vorstellig zu machen; obzwar damit eben nicht behauptet werden  will, daß es an sich (κατ' αληθειαν ) auch so bewandt sei; denn wir bedürfen, um uns  übersinnliche Beschaffenheiten faßlich zu machen, immer einer gewissen Analogie mit  Naturwesen. So legt ein philosophischer Dichter dem Menschen, so fern er einen Hang  zum Bösen in sich zu bekämpfen hat, selbst darum, wenn er ihn nur zu überwältigen weiß,  einen höhern Rang auf der moralischen Stufenleiter der Wesen bei, als selbst den  Himmelsbewohnern, die vermöge der Heiligkeit ihrer Natur über alle mögliche Verleitung  weggesetzt sind (die Welt mit ihren Mängeln - ist besser als ein Reich von  willenlosen Engeln. Haller). - Zu dieser Vorstellungsart bequemt sich auch die  Schrift, um die Liebe Gottes zum menschlichen Geschlecht uns ihrem Grade nach faßlich  zu machen, indem sie ihm die höchste Aufopferung beilegt, die nur ein liebendes  Wesen thun kann, um selbst Unwürdige glücklich zu machen ("Also hat Gott die Welt  geliebt," u. s. w.): ob wir uns gleich durch die Vernunft keinen Begriff davon machen  können, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört,  aufopfern und sich eines Besitzes berauben könne. Das ist der Schematism der  Analogie (zur Erläuterung), den wir nicht entbehren können. Diesen aber in einen  Schematism der Objectsbestimmung (zur Erweiterung unseres Erkenntnisses)  zu verwandeln ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion)  von den nachtheiligsten Folgen ist. - Hier will ich nur noch beiläufig anmerken,  daß man im Aufsteigen vom sinnlichen zum Übersinnlichen zwar wohl schematisiren  (einen Begriff durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen), schlechterdings  aber nicht nach der Analogie von dem, was dem Ersteren zukommt, daß es  auch dem Letzteren beigelegt werden müsse, schließen (und so seinen Begriff erweitern)  könne; und dieses zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil ein solcher Schluß wider alle Analogie laufen würde, der daraus, weil wir ein Schema zu einem Begriffe,  um ihn uns verständlich zu machen (durch ein Beispiel zu belegen), nothwendig  brauchen, die Folge ziehen wollte, daß es auch nothwendig dem Gegenstande selbst als  sein Prädicat zukommen müsse. Ich kann nämlich nicht sagen: so wie ich mir die Ursache  einer Pflanze (oder jedes organischen Geschöpfs und überhaupt der zweckvollen  Welt) nicht anders faßlich machen kann, als nach der Analogie eines Künstlers in  Beziehung auf sein Werk (eine Uhr), nämlich dadurch, daß ich ihr Verstand beilege: so  muß auch die Ursache selbst (der Pflanze, der Welt überhaupt) Verstand haben; d. i.  ihr Verstand beizulegen, ist nicht bloß eine Bedingung meiner Faßlichkeit, sondern der  Möglichkeit Ursache zu sein selbst. Zwischen dem Verhältnisse aber eines Schema zu  seinem Begriffe und dem Verhältnisse eben dieses Schema des Begriffs zur Sache selbst  ist gar keine Analogie, sondern ein gewaltiger Sprung (μεταβασισ εισ αλλο γενοσ), der  gerade in den Anthropomorphism hinein führt, wovon ich die Beweise anderwärts gegeben  habe.   | 
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