Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 055 |
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01 | Zur Speculation würden wir, wenn es uns damit auch gelänge, doch | ||||||
02 | keinen wahren Erwerb in Naturkenntniß und überhaupt in Ansehung der | ||||||
03 | Gegenstände, die uns irgend gegeben werden mögen, machen, sondern | ||||||
04 | allenfalls einen weiten Schritt vom Sinnlichbedingten (bei welchem zu | ||||||
05 | bleiben und die Kette der Ursachen fleißig durchzuwandern wir so schon | ||||||
06 | genug zu thun haben) zum Übersinnlichen thun, um unser Erkenntniß von | ||||||
07 | der Seite der Gründe zu vollenden und zu begrenzen, indessen daß immer | ||||||
08 | eine unendliche Kluft zwischen jener Grenze und dem, was wir kennen, unausgefüllt | ||||||
09 | übrig bliebe, und wir mehr einer eiteln Fragsucht, als einer | ||||||
10 | gründlichen Wißbegierde Gehör gegeben hätten. | ||||||
11 | Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen | ||||||
12 | (im theoretischen Erkenntnisse) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, | ||||||
13 | das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der | ||||||
14 | reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung | ||||||
15 | eines Gesetzes praktisch ist. Die objective Realität eines reinen | ||||||
16 | Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im | ||||||
17 | moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben; denn so | ||||||
18 | kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie | ||||||
19 | gleich nicht auf empirischen Principien beruht. Im Begriffe eines Willens | ||||||
20 | aber ist der Begriff der Causalität schon enthalten, mithin in dem eines | ||||||
21 | reinen Willens der Begriff einer Causalität mit Freiheit, d. i. die nicht | ||||||
22 | nach Naturgesetzen bestimmbar, folglich keiner empirischen Anschauung als | ||||||
23 | Beweises seiner Realität fähig ist, dennoch aber in dem reinen praktischen | ||||||
24 | Gesetze a priori seine objective Realität, doch (wie leicht einzusehen) nicht | ||||||
25 | zum Behufe des theoretischen, sondern blos praktischen Gebrauchs der Vernunft, | ||||||
26 | vollkommen rechtfertigt. Nun ist der Begriff eines Wesens, das freien | ||||||
27 | Willen hat, der Begriff einer causa noumenon , und daß sich dieser Begriff | ||||||
28 | nicht selbst widerspreche, dafür ist man schon dadurch gesichert, daß | ||||||
29 | der Begriff einer Ursache als gänzlich vom reinen Verstande entsprungen, | ||||||
30 | zugleich auch seiner objectiven Realität in Ansehung der Gegenstände überhaupt | ||||||
31 | durch die Deduction gesichert, dabei seinem Ursprunge nach von | ||||||
32 | allen sinnlichen Bedingungen unabhängig, also für sich auf Phänomene | ||||||
33 | nicht eingeschränkt (es sei denn, wo ein theoretischer bestimmter Gebrauch | ||||||
34 | davon gemacht werden wollte), auf Dinge als reine Verstandeswesen allerdings | ||||||
35 | angewandt werden könne. Weil aber dieser Anwendung keine Anschauung, | ||||||
36 | als die jederzeit nur sinnlich sein kann, untergelegt werden kann, | ||||||
37 | so ist causa noumenon in Ansehung des theoretischen Gebrauchs der Vernunft, | ||||||
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