Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 006 |
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01 | bedarf. Dagegen eröffnet sich nun eine vorher kaum zu erwartende | ||||||
02 | und sehr befriedigende Bestätigung der consequenten Denkungsart | ||||||
03 | der speculativen Kritik darin, daß, da diese die Gegenstände der Erfahrung | ||||||
04 | als solche und darunter selbst unser eigenes Subject nur für Erscheinungen | ||||||
05 | gelten zu lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge an sich selbst zum | ||||||
06 | Grunde zu legen, also nicht alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen | ||||||
07 | Begriff für leer an Inhalt zu halten einschärfte: praktische Vernunft jetzt | ||||||
08 | für sich selbst, und ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu | ||||||
09 | haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, | ||||||
10 | nämlich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich als praktischem Begriffe | ||||||
11 | auch nur zum praktischen Gebrauche), also dasjenige, was dort bloß | ||||||
12 | gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt. Hiebei erhält nun | ||||||
13 | zugleich die befremdliche, obzwar unstreitige, Behauptung der speculativen | ||||||
14 | Kritik, daß sogar das denkende Subject ihm selbst in der inneren | ||||||
15 | Anschauung bloß Erscheinung sei, in der Kritik der praktischen Vernunft | ||||||
16 | auch ihre volle Bestätigung, so gut, daß man auf sie kommen muß, | ||||||
17 | wenn die erstere diesen Satz auch gar nicht bewiesen hätte*). | ||||||
18 | Hiedurch verstehe ich auch, warum die erheblichsten Einwürfe wider | ||||||
19 | die Kritik, die mir bisher noch vorgekommen sind, sich gerade um diese | ||||||
20 | zwei Angel drehen: nämlich einerseits im theoretischen Erkenntniß geleugnete | ||||||
21 | und im praktischen behauptete objective Realität der auf Noumenen | ||||||
22 | angewandten Kategorien, andererseits die paradoxe Forderung, | ||||||
23 | sich als Subject der Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch in Absicht | ||||||
24 | auf die Natur zum Phänomen in seinem eigenen empirischen Bewußtsein | ||||||
25 | zu machen. Denn so lange man sich noch keine bestimmte Begriffe von | ||||||
26 | Sittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht errathen, was man | ||||||
27 | einerseits der vorgeblichen Erscheinung als Noumen zum Grunde legen | ||||||
28 | wolle, und andererseits, ob es überall auch möglich sei, sich noch von ihm | ||||||
29 | einen Begriff zu machen, wenn man vorher alle Begriffe des reinen Verstandes | ||||||
30 | im theoretischen Gebrauche schon ausschließungsweise den bloßen | ||||||
31 | Erscheinungen gewidmet hätte. Nur eine ausführliche Kritik der praktischen | ||||||
*) Die Vereinigung der Causalität als Freiheit mit ihr als Naturmechanism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjecte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewußtsein vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich. | |||||||
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