Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 468 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | auch die Naturwissenschaft, sie mag nun Körperlehre oder Seelenlehre | ||||||
02 | sein, in historische oder rationale Naturwissenschaft eingetheilt werden | ||||||
03 | müssen, wenn nur nicht das Wort Natur (weil dieses eine Ableitung des | ||||||
04 | mannigfaltigen zum Dasein der Dinge Gehörigen aus ihrem inneren | ||||||
05 | Princip bezeichnet) eine Erkenntniß durch Vernunft von ihrem Zusammenhange | ||||||
06 | nothwendig machte, wofern sie den Namen von Naturwissenschaft | ||||||
07 | verdienen soll. Daher wird die Naturlehre besser in historische | ||||||
08 | Naturlehre, welche nichts als systematisch geordnete Facta der | ||||||
09 | Naturdinge enthält (und wiederum aus Naturbeschreibung, als einem | ||||||
10 | Classensystem derselben nach Ähnlichkeiten, und Naturgeschichte, als | ||||||
11 | einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und | ||||||
12 | Örtern, bestehen würde), und Naturwissenschaft eingetheilt werden können. | ||||||
13 | Die Naturwissenschaft würde nun wiederum entweder eigentlich, | ||||||
14 | oder uneigentlich so genannte Naturwissenschaft sein, wovon die erstere | ||||||
15 | ihren Gegenstand gänzlich nach Principien a priori, die zweite nach Erfahrungsgesetzen | ||||||
16 | behandelt. | ||||||
17 | Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren | ||||||
18 | Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntniß, die blos empirische Gewißheit enthalten | ||||||
19 | kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige | ||||||
20 | Ganze der Erkenntniß, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft | ||||||
21 | heißen und, wenn die Verknüpfung der Erkenntniß in diesem | ||||||
22 | System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, sogar rationale | ||||||
23 | Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Principien in ihr, wie | ||||||
24 | z. B. in der Chemie, doch zuletzt blos empirisch sind, und die Gesetze, aus | ||||||
25 | denen die gegebene Facta durch die Vernunft erklärt werden, blos Erfahrungsgesetze | ||||||
26 | sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit | ||||||
27 | bei sich (sind nicht apodiktisch=gewiß), und alsdann verdient das | ||||||
28 | Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chemie | ||||||
29 | sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft heißen. | ||||||
30 | Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft | ||||||
31 | nur alsdann, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde | ||||||
32 | liegen, a priori erkannt werden und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. | ||||||
33 | Man nennt eine Naturerkenntniß von der ersteren Art rein; die von der | ||||||
34 | zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntniß genannt. Da | ||||||
35 | das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bei sich führt, dieser aber | ||||||
36 | den Begriff der Nothwendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, | ||||||
37 | die zu seinem Dasein gehören, bei sich führt, so sieht man leicht, warum | ||||||
[ Seite 467 ] [ Seite 469 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |