Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 456 |
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01 | Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, | ||||||
02 | wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. | ||||||
03 | Diese muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Widerspruch | ||||||
04 | zwischen Freiheit und Naturnothwendigkeit ebenderselben menschlichen | ||||||
05 | Handlungen angetroffen werde, denn sie kann eben so wenig den | ||||||
06 | Begriff der Natur, als den der Freiheit aufgeben. | ||||||
07 | Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens auf überzeugende | ||||||
08 | Art vertilgt werden, wenn man gleich, wie Freiheit möglich sei, niemals | ||||||
09 | begreifen könnte. Denn wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich | ||||||
10 | selbst, oder der Natur, die eben so nothwendig ist, widerspricht, so müßte | ||||||
11 | sie gegen die Naturnothwendigkeit durchaus aufgegeben werden. | ||||||
12 | Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entgehen, wenn das | ||||||
13 | Subject, was sich frei dünkt, sich selbst in demselben Sinne, oder in | ||||||
14 | eben demselben Verhältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn | ||||||
15 | es sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Naturgesetze unterworfen | ||||||
16 | annimmt. Daher ist es eine unnachlaßliche Aufgabe der speculativen | ||||||
17 | Philosophie: wenigstens zu zeigen, daß ihre Täuschung wegen des Widerspruchs | ||||||
18 | darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen Sinne | ||||||
19 | und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als | ||||||
20 | Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß | ||||||
21 | beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch als | ||||||
22 | nothwendig vereinigt in demselben Subject gedacht werden müssen, | ||||||
23 | weil sonst nicht Grund angegeben werden könnte, warum wir die Vernunft | ||||||
24 | mit einer Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Widerspruch | ||||||
25 | mit einer anderen, genugsam bewährten vereinigen läßt, dennoch | ||||||
26 | uns in ein Geschäfte verwickelt, wodurch die Vernunft in ihrem theoretischen | ||||||
27 | Gebrauche sehr in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber | ||||||
28 | bloß der speculativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn | ||||||
29 | schaffe. Also ist es nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er | ||||||
30 | den scheinbaren Widerstreit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn | ||||||
31 | im letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans , in dessen Besitz | ||||||
32 | sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne | ||||||
33 | Titel besessenen vermeinten Eigenthum verjagen kann. | ||||||
34 | Doch kann man hier noch nicht sagen, daß die Grenze der praktischen | ||||||
35 | Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar | ||||||
36 | nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der speculativen Vernunft, daß | ||||||
37 | diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, | ||||||
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