Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 454

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der      
  02 Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und      
  03 also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze      
  04 der Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Princip gemäße      
  05 Handlungen als Pflichten ansehen müssen.      
           
  06 Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee      
  07 der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch,      
  08 wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie      
  09 des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich      
  10 als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches      
  11 kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch      
  12 daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die      
  13 Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich      
  14 selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des      
  15 ersteren nach der Vernunft enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen      
  16 der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche      
  17 Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische      
  18 Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich      
  19 machen.      
           
  20 Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt      
  21 die Richtigkeit dieser Deduction. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht,      
  22 wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, der nicht,      
  23 wenn man ihm Beispiele der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit      
  24 in Befolgung guter Maximen, der Theilnehmung und des allgemeinen      
  25 Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vortheilen      
  26 und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt      
  27 sein möchte. Er kann es aber nur wegen seiner Neigungen und Antriebe      
  28 nicht wohl in sich zu Stande bringen, wobei er dennoch zugleich      
  29 wünscht, von solchen ihm selbst lästigen Neigungen frei zu sein. Er beweiset      
  30 hiedurch also, daß er mit einem Willen, der von Antrieben der      
  31 Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der      
  32 Dinge versetze, als die seiner Begierden im Felde der Sinnlichkeit, weil      
  33 er von jenem Wunsche keine Vergnügung der Begierden, mithin keinen      
  34 für irgend eine seiner wirklichen oder sonst erdenklichen Neigungen befriedigenden      
  35 Zustand (denn dadurch würde selbst die Idee, welche ihm      
  36 den Wunsch ablockt, ihre Vorzüglichkeit einbüßen), sondern nur einen      
  37 größeren inneren Werth seiner Person erwarten kann. Diese bessere Person      
           
     

[ Seite 453 ] [ Seite 455 ] [ Inhaltsverzeichnis ]