Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 349

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 uns das Naturgesetz führt, wenn sie bis zu einer gewissen Höhe, aber immer      
  02 diesen Gesetzen gemäß getrieben werden, gar nicht aufgelöset werden, z. B.      
  03 woher Materien einander anziehen. Allein wenn wir die Natur ganz und      
  04 gar verlassen, oder im Fortgange ihrer Verknüpfung alle mögliche Erfahrung      
  05 übersteigen, mithin uns in bloße Ideen vertiefen, alsdann können      
  06 wir nicht sagen, daß uns der Gegenstand unbegreiflich sei, und die Natur      
  07 der Dinge uns unauflösliche Aufgaben vorlege; denn wir haben es alsdann      
  08 gar nicht mit der Natur oder überhaupt mit gegebenen Objecten,      
  09 sondern blos mit Begriffen zu thun, die in unserer Vernunft lediglich ihren      
  10 Ursprung haben, und mit bloßen Gedanken=Wesen, in Ansehung deren alle      
  11 Aufgaben, die aus dem Begriffe derselben entspringen, müssen aufgelöset      
  12 werden können, weil die Vernunft von ihrem eigenen Verfahren allerdings      
  13 vollständige Rechenschaft geben kann und muß *). Da die psychologische,      
  14 kosmologische und theologische Ideen lauter reine Vernunftbegriffe sind,      
  15 die in keiner Erfahrung gegeben werden können, so sind uns die Fragen,      
  16 die uns die Vernunft in Ansehung ihrer vorlegt, nicht durch die Gegenstände,      
  17 sondern durch bloße Maximen der Vernunft um ihrer Selbstbefriedigung      
  18 willen aufgegeben und müssen insgesammt hinreichend beantwortet      
  19 werden können; welches auch dadurch geschieht, daß man zeigt, daß      
  20 sie Grundsätze sind, unsern Verstandesgebrauch zur durchgängigen Einhelligkeit,      
  21 Vollständigkeit und synthetischen Einheit zu bringen, und so fern      
  22 blos von der Erfahrung, aber im ganzen derselben gelten. Obgleich aber      
  23 ein absolutes Ganze der Erfahrung unmöglich ist, so ist doch die Idee      
  24 eines Ganzen der Erkenntniß nach Principien überhaupt dasjenige, was      
  25 ihr allein eine besondere Art der Einheit, nämlich die von einem System,      
  26 verschaffen kann, ohne die unser Erkenntniß nichts als Stückwerk ist und      
           
    *) Herr Platner in seinen Aphorismen sagt daher mit Scharfsinnigkeit § 728, 729: "Wenn die Vernunft ein Kriterium ist, so kann kein Begriff möglich sein, welcher der menschlichen Vernunft unbegreiflich ist. - In dem Wirklichen allein findet Unbegreiflichkeit statt. Hier entsteht die Unbegreiflichkeit aus der Unzulänglichkeit der erworbenen Ideen." - es klingt also nur paradox und ist übrigens nicht befremdlich, zu sagen, in der Natur sei uns vieles unbegreiflich (z. B. das Zeugungsvermögen), wenn wir aber noch höher steigen und selbst über die Natur hinaus gehen, so werde uns wieder alles begreiflich; denn wir verlassen alsdann ganz die Gegenstände, die uns gegeben werden können, und beschäftigen uns blos mit Ideen, bei denen wir das Gesetz, welches die Vernunft durch sie dem Verstande zu seinem Gebrauch in der Erfahrung vorschreibt, gar wohl begreifen können, weil es ihr eigenes Product ist.      
           
     

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