| Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 287 | |||||||
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| 01 | Anmerkung I | ||||||
| 02 | Die reine Mathematik und namentlich die reine Geometrie kann nur | ||||||
| 03 | unter der Bedingung allein objective Realität haben, daß sie blos auf Gegenstände | ||||||
| 04 | der Sinne geht, in Ansehung deren aber der Grundsatz feststeht: | ||||||
| 05 | daß unsre sinnliche Vorstellung keinesweges eine Vorstellung der Dinge | ||||||
| 06 | an sich selbst, sondern nur der Art sei, wie sie uns erscheinen. Daraus folgt, | ||||||
| 07 | daß die Sätze der Geometrie nicht etwa Bestimmungen eines bloßen Geschöpfs | ||||||
| 08 | unserer dichtenden Phantasie sind und also nicht mit Zuverlässigkeit | ||||||
| 09 | auf wirkliche Gegenstände könnten bezogen werden, sondern daß sie nothwendiger | ||||||
| 10 | Weise vom Raume und darum auch von allem, was im Raume | ||||||
| 11 | angetroffen werden mag, gelten, weil der Raum nichts anders ist, als die | ||||||
| 12 | Form aller äußeren Erscheinungen, unter der uns allein Gegenstände der | ||||||
| 13 | Sinne gegeben werden können. Die Sinnlichkeit, deren Form die Geometrie | ||||||
| 14 | zum Grunde legt, ist das, worauf die Möglichkeit äußerer Erscheinungen | ||||||
| 15 | beruht; diese also können niemals etwas anderes enthalten, als was | ||||||
| 16 | die Geometrie ihnen vorschreibt. Ganz anders würde es sein, wenn die | ||||||
| 17 | Sinne die Objecte vorstellen müßten, wie sie an sich selbst sind. Denn da | ||||||
| 18 | würde aus der Vorstellung vom Raume, die der Geometer a priori mit | ||||||
| 19 | allerlei Eigenschaften desselben zum Grunde legt, noch gar nicht folgen, | ||||||
| 20 | daß alles dieses sammt dem, was daraus gefolgert wird, sich gerade so in | ||||||
| 21 | der Natur verhalten müsse. Man würde den Raum des Geometers für | ||||||
| 22 | bloße Erdichtung halten und ihm keine objective Gültigkeit zutrauen, weil | ||||||
| 23 | man gar nicht einsieht, wie Dinge nothwendig mit dem Bilde, das wir | ||||||
| 24 | uns von selbst und zum voraus von ihnen machen, übereinstimmen müßten. | ||||||
| 25 | Wenn aber dieses Bild oder vielmehr diese formale Anschauung die | ||||||
| 26 | wesentliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit ist, vermittelst deren uns allein | ||||||
| 27 | Gegenstände gegeben werden, diese Sinnlichkeit aber nicht Dinge an sich | ||||||
| 28 | selbst, sondern nur ihre Erscheinungen vorstellt, so ist ganz leicht zu begreifen | ||||||
| 29 | und zugleich unwidersprechlich bewiesen: daß alle äußere Gegenstände | ||||||
| 30 | unsrer Sinnenwelt nothwendig mit den Sätzen der Geometrie nach | ||||||
| 31 | aller Pünktlichkeit übereinstimmen müssen, weil die Sinnlichkeit durch ihre | ||||||
| 32 | Form äußerer Anschauung (den Raum), womit sich der Geometer beschäftigt, | ||||||
| 33 | jene Gegenstände als bloße Erscheinungen selbst allererst möglich | ||||||
| 34 | macht. Es wird allemal ein bemerkungswürdiges Phänomen in der Geschichte | ||||||
| 35 | der Philosophie bleiben, daß es eine Zeit gegeben hat, da selbst Mathematiker, | ||||||
| 36 | die zugleich Philosophen waren, zwar nicht an der Richtigkeit | ||||||
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