| Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 256 | |||||||
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| 01 | aber nie erfüllten Hoffnungen hinhält? Man mag also entweder | ||||||
| 02 | sein Wissen oder Nichtwissen demonstriren, so muß doch einmal über | ||||||
| 03 | die Natur dieser angemaßten Wissenschaft etwas Sicheres ausgemacht | ||||||
| 04 | werden; denn auf demselben Fuße kann es mit ihr unmöglich länger bleiben. | ||||||
| 05 | Es scheint beinahe belachenswerth, indessen daß jede andre Wissenschaft | ||||||
| 06 | unaufhörlich fortrückt, sich in dieser, die doch die Weisheit selbst sein | ||||||
| 07 | will, deren Orakel jeder Mensch befrägt, beständig auf derselben Stelle | ||||||
| 08 | herumzudrehen, ohne einen Schritt weiter zu kommen. Auch haben sich | ||||||
| 09 | ihre Anhänger gar sehr verloren, und man sieht nicht, daß diejenigen, die | ||||||
| 10 | sich stark genug fühlen, in andern Wissenschaften zu glänzen, ihren Ruhm | ||||||
| 11 | in dieser wagen wollen, wo jedermann, der sonst in allen übrigen Dingen | ||||||
| 12 | unwissend ist, sich ein entscheidendes Urtheil anmaßt, weil in diesem Lande | ||||||
| 13 | in der That noch kein sicheres Maß und Gewicht vorhanden ist, um | ||||||
| 14 | Gründlichkeit von seichtem Geschwätze zu unterscheiden. | ||||||
| 15 | Es ist aber eben nicht so etwas Unerhörtes, daß nach langer Bearbeitung | ||||||
| 16 | einer Wissenschaft, wenn man Wunder denkt, wie weit man schon | ||||||
| 17 | darin gekommen sei, endlich sich jemand die Frage einfallen läßt: ob und | ||||||
| 18 | wie überhaupt eine solche Wissenschaft möglich sei. Denn die menschliche | ||||||
| 19 | Vernunft ist so baulustig, daß sie mehrmals schon den Thurm aufgeführt, | ||||||
| 20 | hernach aber wieder abgetragen hat, um zu sehen, wie das Fundament | ||||||
| 21 | desselben wohl beschaffen sein möchte. Es ist niemals zu spät, vernünftig | ||||||
| 22 | und weise zu werden; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht spät | ||||||
| 23 | kommt, sie in Gang zu bringen. | ||||||
| 24 | Zu fragen, ob eine Wissenschaft auch wohl möglich sei, setzt voraus, | ||||||
| 25 | daß man an der Wirklichkeit derselben zweifle. Ein solcher Zweifel aber | ||||||
| 26 | beleidigt jedermann, dessen ganze Habseligkeit vielleicht in diesem vermeinten | ||||||
| 27 | Kleinode bestehen möchte; und daher mag sich der, so sich diesen | ||||||
| 28 | Zweifel entfallen läßt, nur immer auf Widerstand von allen Seiten gefaßt | ||||||
| 29 | machen. Einige werden in stolzem Bewußtsein ihres alten und eben | ||||||
| 30 | daher für rechtmäßig gehaltenen Besitzes mit ihren metaphysischen Compendien | ||||||
| 31 | in der Hand auf ihn mit Verachtung herabsehen; andere, die | ||||||
| 32 | nirgend etwas sehen, als was mit dem einerlei ist, was sie schon sonst | ||||||
| 33 | irgendwo gesehen haben, werden ihn nicht verstehen, und alles wird einige | ||||||
| 34 | Zeit hindurch so bleiben, als ob gar nichts vorgefallen wäre, was eine | ||||||
| 35 | nahe Veränderung besorgen oder hoffen ließe. | ||||||
| 36 | Gleichwohl getraue ich mir vorauszusagen, daß der selbstdenkende | ||||||
| 37 | Leser dieser Prolegomenen nicht blos an seiner bisherigen Wissenschaft | ||||||
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