Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 062 |
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| 01 | betrachtet. Der hypothetische Satz: wenn eine vollkommene Gerechtigkeit | ||||||
| 02 | da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft, enthält eigentlich | ||||||
| 03 | das Verhältniß zweier Sätze: es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da, | ||||||
| 04 | und: der beharrlich Böse wird bestraft. Ob beide dieser Sätze an sich | ||||||
| 05 | wahr seien, bleibt hier unausgemacht. Es ist nur die Consequenz, die durch | ||||||
| 06 | dieses Urtheil gedacht wird. Endlich enthält das disjunctive Urtheil ein | ||||||
| 07 | Verhältniß zweier oder mehrerer Sätze gegen einander, aber nicht der Abfolge, | ||||||
| 08 | sondern der logischen Entgegensetzung, so fern die Sphäre des einen | ||||||
| 09 | die des andern ausschließt, aber doch zugleich der Gemeinschaft, in so fern | ||||||
| 10 | sie zusammen die Sphäre der eigentlichen Erkenntniß ausfüllen, also ein | ||||||
| 11 | Verhältniß der Theile der Sphäre eines Erkenntnisses, da die Sphäre | ||||||
| 12 | eines jeden Theils ein Ergänzungsstück der Sphäre des andern zu dem | ||||||
| 13 | ganzen Inbegriff der eingetheilten Erkenntniß ist; z. E. die Welt ist entweder | ||||||
| 14 | durch einen blinden Zufall da, oder durch innre Nothwendigkeit, | ||||||
| 15 | oder durch eine äußere Ursache. Jeder dieser Sätze nimmt einen Theil | ||||||
| 16 | der Sphäre des möglichen Erkenntnisses über das Dasein einer Welt überhaupt | ||||||
| 17 | ein, alle zusammen die ganze Sphäre. Das Erkenntniß aus einer | ||||||
| 18 | dieser Sphären wegnehmen, heißt, sie in eine der übrigen setzen, und dagegen | ||||||
| 19 | sie in eine Sphäre setzen, heißt, sie aus den übrigen wegnehmen. | ||||||
| 20 | Es ist also in einem disjunctiven Urtheile eine gewisse Gemeinschaft der | ||||||
| 21 | Erkenntnisse, die darin besteht, daß sie sich wechselseitig einander ausschließen, | ||||||
| 22 | aber dadurch doch im Ganzen die wahre Erkenntniß bestimmen, | ||||||
| 23 | indem sie zusammengenommen den ganzen Inhalt einer einzigen gegebenen | ||||||
| 24 | Erkenntniß ausmachen. Und dieses ist es auch nur, was ich des | ||||||
| 25 | folgenden wegen hiebei anzumerken nöthig finde. | ||||||
| 26 | 4. Die Modalität der Urtheile ist eine ganz besondere Function derselben, | ||||||
| 27 | die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte | ||||||
| 28 | des Urtheils beiträgt (denn außer Größe, Qualität und Verhältniß ist | ||||||
| 29 | nichts mehr, was den Inhalt eines Urtheils ausmachte), sondern nur den | ||||||
| 30 | Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. | ||||||
| 31 | Problematische Urtheile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen | ||||||
| 32 | als blos möglich (beliebig) annimmt; assertorische, da es als | ||||||
| 33 | wirklich (wahr) betrachtet wird; apodiktische, in denen man es als | ||||||
| 34 | nothwendig ansieht*). So sind die beiden Urtheile, deren Verhältniß | ||||||
| *) Gleich als wenn das Denken im ersten Fall eine Function des Verstandes, im zweiten der Urtheilskraft, im dritten der Vernunft wäre; eine Bemerkung, die erst in der Folge ihre Aufklärung erwartet. | |||||||
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