Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 013

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 man auf die Faßlichkeit eines weitläuftigen, dennoch aber in einem Princip      
  02 zusammenhängenden Ganzen speculativer Erkenntniß seine Absicht      
  03 richtet, könnte man mit eben so gutem Rechte sagen: manches Buch      
  04 wäre viel deutlicher geworden, wenn es nicht so gar deutlich      
  05 hätte werden sollen. Denn die Hülfsmittel der Deutlichkeit helfen      
  06 zwar in Theilen, zerstreuen aber öfters im Ganzen, indem sie den      
  07 Leser nicht schnell gnug zu Überschauung des Ganzen gelangen lassen und      
  08 durch alle ihre helle Farben gleichwohl die Articulation oder den Gliederbau      
  09 des Systems verkleben und unkenntlich machen, auf den es doch, um      
  10 über die Einheit und Tüchtigkeit desselben urtheilen zu können, am meisten      
  11 ankommt.      
           
  12 Es kann, wie mich dünkt, dem Leser zu nicht geringer Anlockung dienen,      
  13 seine Bemühung mit der des Verfassers zu vereinigen, wenn er die      
  14 Aussicht hat, ein großes und wichtiges Werk nach dem vorgelegten Entwurfe      
  15 ganz und doch dauerhaft zu vollführen. Nun ist Metaphysik nach      
  16 den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften,      
  17 die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit und mit      
  18 nur weniger, aber vereinigter Bemühung versprechen darf, so daß nichts      
  19 für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier      
  20 alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten      
  21 vermehren zu können. Denn es ist nichts als das Inventarium      
  22 aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet. Es      
  23 kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst      
  24 hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans      
  25 Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Princip desselben      
  26 entdeckt hat. Die vollkommene Einheit dieser Art Erkenntnisse und      
  27 zwar aus lauter reinen Begriffen, ohne daß irgend etwas von Erfahrung,      
  28 oder auch nur besondere Anschauung, die zur bestimmten      
  29 leiten sollte, auf sie einigen Einfluß haben kann, sie zu erweitern und zu      
  30 vermehren, machen diese unbedingte Vollständigkeit nicht allein thunlich,      
  31 sondern auch nothwendig. Tecum habita et noris, quam sit tibi curta      
  32 supellex. Persius.      
           
  33 Ein solches System der reinen (speculativen) Vernunft hoffe ich unter      
  34 dem Titel Metaphysik der Natur selbst zu liefern, welches bei noch      
  35 nicht der Hälfte der Weitläuftigkeit dennoch ungleich reicheren Inhalt      
  36 haben soll, als hier die Kritik, die zuvörderst die Quellen und Bedingungen      
  37 ihrer Möglichkeit darlegen mußte und einen ganz verwachsenen Boden      
           
     

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