Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 517 |
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01 | Der transscendentalen Methodenlehre |
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02 | Zweites Hauptstück. |
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03 | Der Kanon der reinen Vernunft. |
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04 | Es ist demüthigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem | ||||||
05 | reinen Gebrauche nichts ausrichtet und sogar noch einer Disciplin bedarf, | ||||||
06 | um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daherkommen, | ||||||
07 | zu verhüten. Allein andererseits erhebt es sie wiederum und | ||||||
08 | giebt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disciplin selbst ausüben | ||||||
09 | kann und muß, ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen | ||||||
10 | daß die Grenzen, die sie ihrem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt | ||||||
11 | ist, zugleich die vernünftelnde Anmaßungen jedes gegners einschränken, | ||||||
12 | und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forderungen | ||||||
13 | übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicher stellen könne. Der | ||||||
14 | größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft | ||||||
15 | ist also wohl nur negativ: da sie nämlich nicht als Organon zur Erweiterung, | ||||||
16 | sondern als Disciplin zur Grenzbestimmung dient und, anstatt | ||||||
17 | Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten. | ||||||
18 | Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen | ||||||
19 | geben, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören, und die | ||||||
20 | vielleicht nur durch Mißverstand zu Irrthümern Anlaß geben, in der That | ||||||
21 | aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen. Denn welcher | ||||||
22 | Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über | ||||||
23 | die Grenze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben | ||||||
24 | sein? Sie ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie | ||||||
25 | bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Speculation an, um sich | ||||||
26 | ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermuthlich wird auf dem | ||||||
27 | einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, | ||||||
28 | besseres Glück für sie zu hoffen sein. | ||||||
29 | Ich verstehe unter einem Kanon den Inbegriff der Grundsätze a priori | ||||||
30 | des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnißvermögen überhaupt. So ist | ||||||
31 | die allgemeine Logik in ihrem analytischen Theile ein Kanon für Verstand | ||||||
32 | und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahirt | ||||||
33 | von allem Inhalte. So war die transscendentale Analytik der Kanon | ||||||
34 | des reinen Verstandes; denn der ist allein wahrer synthetischer Erkenntnisse | ||||||
35 | a priori fähig. Wo aber kein richtiger Gebrauch einer Erkenntnißkraft | ||||||
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