Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 494 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Denn um die Principien derselben so früh als möglich in Ausübung zu | ||||||
02 | bringen und ihre Zulänglichkeit bei dem größten dialektischen Scheine | ||||||
03 | zu zeigen, ist es durchaus nöthig, die für den Dogmatiker so furchtbaren | ||||||
04 | Angriffe wider seine, obzwar noch schwache, aber durch Kritik aufgeklärte | ||||||
05 | Vernunft zu richten und ihn den Versuch machen zu lassen, die grundlosen | ||||||
06 | Behauptungen des Gegners Stück für Stück an jenen Grundsätzen zu | ||||||
07 | prüfen. Es kann ihm gar nicht schwer werden, sie in lauter Dunst aufzulösen, | ||||||
08 | und so fühlt er frühzeitig seine eigene Kraft, sich wider dergleichen | ||||||
09 | schädliche Blendwerke, die für ihn zuletzt allen Schein verlieren müssen, | ||||||
10 | völlig zu sichern. Ob nun zwar eben dieselbe Streiche, die das Gebäude | ||||||
11 | des Feindes niederschlagen, auch seinem eigenen speculativen Bauwerke, | ||||||
12 | wenn er etwa dergleichen zu errichten gedächte, eben so verderblich sein | ||||||
13 | müssen: so ist er darüber doch gänzlich unbekümmert, indem er es gar | ||||||
14 | nicht bedarf, darin zu wohnen, sondern noch eine Aussicht in das praktische | ||||||
15 | Feld vor sich hat, wo er mit Grunde einen festeren Boden hoffen kann, | ||||||
16 | um darauf sein vernünftiges und heilsames System zu errichten. | ||||||
17 | So giebts demnach keine eigentliche Polemik im Felde der reinen | ||||||
18 | Vernunft. Beide Theile sind Luftfechter, die sich mit ihrem Schatten | ||||||
19 | herumbalgen, denn sie gehen über die Natur hinaus, wo für ihre dogmatischen | ||||||
20 | Griffe nichts vorhanden ist, was sich fassen und halten ließe. | ||||||
21 | Sie haben gut kämpfen; die Schatten, die sie zerhauen, wachsen wie die | ||||||
22 | Helden in Walhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um sich | ||||||
23 | aufs neue in unblutigen Kämpfen belustigen zu können. | ||||||
24 | Es giebt aber auch keinen zulässigen sceptischen Gebrauch der reinen | ||||||
25 | Vernunft, welchen man den Grundsatz der Neutralität bei allen ihren | ||||||
26 | Streitigkeiten nennen könnte. Die Vernunft wider sich selbst zu verhetzen, | ||||||
27 | ihr auf beiden Seiten Waffen zu reichen und alsdann ihrem hitzigsten | ||||||
28 | Gefechte ruhig und spöttisch zuzusehen, sieht aus einem dogmatischen | ||||||
29 | Gesichtspunkte nicht wohl aus, sondern hat das Ansehen einer schadenfrohen | ||||||
30 | und hämischen Gemüthsart an sich. Wenn man indessen die unbezwingliche | ||||||
31 | Verblendung und das Großthun der Vernünftler, die sich | ||||||
32 | durch keine Kritik will mäßigen lassen, ansieht, so ist doch wirklich kein | ||||||
33 | anderer Rath, als der Großsprecherei auf einer Seite eine andere, welche | ||||||
34 | auf eben dieselben Rechte fußt, entgegen zu setzen, damit die Vernunft | ||||||
35 | durch den Widerstand eines Feindes wenigstens nur stutzig gemacht werde, | ||||||
36 | um in ihre Anmaßungen einigen Zweifel zu setzen und der Kritik Gehör | ||||||
37 | zu geben. Allein es bei diesen Zweifeln gänzlich bewenden zu lassen und | ||||||
[ Seite 493 ] [ Seite 495 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |