Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 112

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 er giebt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu      
  02 einem möglichen Erkenntniß. Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen,      
  03 z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung      
  04 des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so      
  05 daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins      
  06 (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Object (ein bestimmter      
  07 Raum) erkannt wird. Die synthetische Einheit des Bewußtseins      
  08 ist also eine objective Bedingung aller Erkenntniß, nicht deren ich bloß      
  09 selbst bedarf, um ein Object zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung      
  10 stehen muß, um für mich Object zu werden, weil auf andere Art      
  11 und ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein      
  12 vereinigen würde.      
           
  13 Dieser letztere Satz ist, wie gesagt, selbst analytisch, ob er zwar die      
  14 synthetische Einheit zur Bedingung alles Denkens macht; denn er sagt      
  15 nichts weiter, als daß alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen      
  16 Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein      
  17 als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen und also als      
  18 in einer Apperception synthetisch verbunden durch den allgemeinen Ausdruck:      
  19 Ich denke, zusammenfassen kann.      
           
  20 Aber dieser Grundsatz ist doch nicht ein Princip für jeden überhaupt      
  21 möglichen Verstand, sondern nur für den, durch dessen reine Apperception      
  22 in der Vorstellung: Ich bin, noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist.      
  23 Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige      
  24 der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung      
  25 zugleich die Objecte dieser Vorstellung existirten, würde einen      
  26 besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des      
  27 Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß      
  28 denkt, nicht anschaut, bedarf. Aber für den menschlichen Verstand ist er      
  29 doch unvermeidlich der erste Grundsatz, so daß er sich sogar von einem      
  30 anderen möglichen Verstande, entweder einem solchen, der selbst anschauete,      
  31 oder, wenn gleich eine sinnliche Anschauung, aber doch von anderer Art      
  32 als die im Raume und der Zeit zum Grunde liegend besäße, sich nicht den      
  33 mindesten Begriff machen kann.      
           
           
     

[ Seite 111 ] [ Seite 113 ] [ Inhaltsverzeichnis ]