Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 360 |
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| 01 | einzigen unter denen, die Ariosto dort mit der hier verlornen Vernunft | ||||||
| 02 | angefüllt gesehen hat, und die ihre Besitzer dereinst werden wiedersuchen | ||||||
| 03 | müssen, so völlig entleert ist das große Werk von einem jeden Tropfen | ||||||
| 04 | derselben. Nichts destoweniger herrscht darin eine so wundersame Übereinkunft | ||||||
| 05 | mit demjenigen, was die feinste Ergrübelung der Vernunft über | ||||||
| 06 | den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, daß der Leser mir es verzeihen | ||||||
| 07 | wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung | ||||||
| 08 | finde, die so viel andere Sammler in den Spielen der Natur angetroffen | ||||||
| 09 | haben, als wenn sie etwa im fleckichten Marmor die heilige Familie, | ||||||
| 10 | oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln, | ||||||
| 11 | oder sogar, wie der Spötter Liscow auf einer gefrorenen Fensterscheibe | ||||||
| 12 | die Zahl des Thieres und die dreifache Krone entdecken; lauter Dinge, | ||||||
| 13 | die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefüllt ist. | ||||||
| 14 | Das große Werk dieses Schriftstellers enthält acht Quartbände voll | ||||||
| 15 | Unsinn, welche er unter dem Titel: Arcana caelestia , der Welt als eine | ||||||
| 16 | neue Offenbarung vorlegt, und wo seine Erscheinungen mehrentheils auf | ||||||
| 17 | die Entdeckung des geheimen Sinnes in den zwei ersten Büchern Mosis | ||||||
| 18 | und eine ähnliche Erklärungsart der ganzen H. Schrift angewendet werden. | ||||||
| 19 | Alle diese schwärmende Auslegungen gehen mich hier nichts an; | ||||||
| 20 | man kann aber, wenn man will, einige Nachrichten von denselben in des | ||||||
| 21 | Herrn Doctor Ernesti Theol. Bibliothek im ersten Bande aufsuchen. Nur | ||||||
| 22 | die audita et visa , d. i. was seine eigne Augen sollen gesehen und eigene | ||||||
| 23 | Ohren gehört haben, sind alles, was wir vornehmlich aus den Beilagen | ||||||
| 24 | zu seinen Capiteln ziehen wollen, weil sie allen übrigen Träumereien zum | ||||||
| 25 | Grunde liegen und auch ziemlich in das Abenteuer einschlagen, das wir | ||||||
| 26 | oben auf dem Luftschiffe der Metaphysik gewagt haben. Der Stil des | ||||||
| 27 | Verfassers ist platt. Seine Erzählungen und ihre Zusammenordnung | ||||||
| 28 | scheinen in der That aus fanatischem Anschauen entsprungen zu sein | ||||||
| 29 | und geben gar wenig Verdacht, daß speculative Hirngespinste einer verkehrt | ||||||
| 30 | grüblenden Vernunft ihn bewogen haben sollten, dieselbe zu erdichten | ||||||
| 31 | und zum Betruge anzulegen. In so fern haben sie also einige Wichtigkeit | ||||||
| 32 | und verdienen wirklich in einem kleinen Auszuge vorgestellt zu werden, | ||||||
| 33 | vielleicht mehr, als so manche Spielwerke hirnloser Vernünftler, welche | ||||||
| 34 | unsere Journale anschwellen, weil eine zusammenhängende Täuschung der | ||||||
| 35 | Sinne überhaupt ein viel merkwürdiger Phänomenon ist, als der Betrug | ||||||
| 36 | der Vernunft, dessen Gründe bekannt genug sind, und der auch großen | ||||||
| 37 | Theils durch willkürliche Richtung der Gemüthskräfte und etwas mehr | ||||||
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