| Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 294 | |||||||
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| 01 | begriffen nach der Regel: was ich nicht anders als wahr denken kann, das | ||||||
| 02 | ist wahr. Zu solchen Grundsätzen wird unter andern gezählt: was ich nicht | ||||||
| 03 | existirend denken kann, das ist einmal nicht gewesen; ein jedes Ding mu | ||||||
| 04 | irgendwo und irgendwenn sein u.d.g. Ich werde in wenig Worten die | ||||||
| 05 | wahre Beschaffenheit der ersten Grundwahrheiten der Metaphysik, imgleichen | ||||||
| 06 | den wahren Gehalt dieser Methode des Herrn Crusius anzeigen, | ||||||
| 07 | die nicht so weit von der Denkungsart der Philosophie in diesem Stücke | ||||||
| 08 | abweicht, als man wohl denkt. Man wird auch überhaupt den Grad der | ||||||
| 09 | möglichen Gewißheit der Metaphysik hieraus abnehmen können. | ||||||
| 10 | Alle wahre Urtheile müssen entweder bejahend oder verneinend sein. | ||||||
| 11 | Weil die Form einer jeden Bejahung darin besteht, daß etwas als ein | ||||||
| 12 | Merkmal von einem Dinge, d. i. als einerlei mit dem Merkmale eines | ||||||
| 13 | Dinges, vorgestellt werde, so ist ein jedes bejahende Urtheil wahr, wenn | ||||||
| 14 | das Prädicat mit dem Subjecte identisch ist. Und da die Form einer | ||||||
| 15 | jeden Verneinung darin besteht, daß etwas einem Dinge als widerstreitend | ||||||
| 16 | vorgestellt werde, so ist ein verneinendes Urtheil wahr, wenn das | ||||||
| 17 | Prädicat dem Subjecte widerspricht. Der Satz also, der das Wesen | ||||||
| 18 | einer jeden Bejahung ausdrückt und mithin die oberste Formel aller bejahenden | ||||||
| 19 | Urtheile enthält, heißt: Einem jeden Subjecte kommt ein Prädicat | ||||||
| 20 | zu, welches ihm identisch ist. Dieses ist der Satz der Identität. | ||||||
| 21 | Und da der Satz, welcher das Wesen aller Verneinung ausdrückt: keinem | ||||||
| 22 | Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht, der Satz des | ||||||
| 23 | Widerspruchs ist, so ist dieser die erste Formel aller verneinenden Urtheile. | ||||||
| 24 | Beide zusammen machen die oberste und allgemeine Grundsätze | ||||||
| 25 | im formalen Verstande von der ganzen menschlichen Vernunft aus. Und | ||||||
| 26 | hierin haben die meisten geirrt, daß sie dem Satze des Widerspruchs den | ||||||
| 27 | Rang in Ansehung aller Wahrheiten eingeräumt haben, den er doch nur | ||||||
| 28 | in Betracht der verneinenden hat. Es ist aber ein jeder Satz unerweislich, | ||||||
| 29 | der unmittelbar unter einem dieser obersten Grundsätze gedacht wird, | ||||||
| 30 | aber nicht anders gedacht werden kann: nämlich wenn entweder die Identität | ||||||
| 31 | oder der Widerspruch unmittelbar in den Begriffen liegt und nicht | ||||||
| 32 | durch Zergliederung kann oder darf vermittelst eines Zwischenmerkmals | ||||||
| 33 | eingesehen werden. Alle andere sind erweislich. Ein Körper ist theilbar, | ||||||
| 34 | ist ein erweislicher Satz, denn man kann durch Zergliederung und also | ||||||
| 35 | mittelbar die Identität des Prädicats und Subjects zeigen: der Körper | ||||||
| 36 | ist zusammengesetzt, was aber zusammengesetzt ist, ist theilbar, folglich | ||||||
| 37 | ist ein Körper theilbar. Das vermittelnde Merkmal ist hier zusammengesetzt | ||||||
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