Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 239 |
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01 | geht, die zweite grüblerisch, indem sie eigentlich auf keinen geht, sondern | ||||||
02 | nur mit einem Gegenstande beschäftigt ist, den die verliebte Neigung sich | ||||||
03 | in Gedanken schafft und mit allen edlen und schönen Eigenschaften ausziert, | ||||||
04 | welche die Natur selten in einem Menschen vereinigt und noch seltner | ||||||
05 | demjenigen zuführt, der sie schätzen kann und der vielleicht eines solchen | ||||||
06 | Besitzes würdig sein würde. Daher entspringt der Aufschub und endlich | ||||||
07 | die völlige Entsagung auf die eheliche Verbindung, oder, welches vielleicht | ||||||
08 | eben so schlimm ist, eine grämische Reue nach einer getroffenen Wahl, | ||||||
09 | welche die großen Erwartungen nicht erfüllt, die man sich gemacht hatte; | ||||||
10 | denn nicht selten findet der äsopische Hahn eine Perle, welchem ein gemeines | ||||||
11 | Gerstenkorn besser würde geziemt haben. | ||||||
12 | Wir können hiebei überhaupt bemerken, daß, so reizend auch die Eindrücke | ||||||
13 | des zärtlichen Gefühls sein mögen, man doch Ursache habe in der | ||||||
14 | Verfeinigung desselben behutsam zu sein, wofern wir uns nicht durch übergroße | ||||||
15 | Reizbarkeit nur viel Unmuth und eine Quelle von Übel erklügeln | ||||||
16 | wollen. Ich möchte edleren Seelen wohl vorschlagen, das Gefühl in Ansehung | ||||||
17 | der Eigenschaften, die ihnen selbst zukommen, oder der Handlungen, | ||||||
18 | die sie selber thun, so sehr zu verfeinern, als sie können, dagegen in Ansehung | ||||||
19 | dessen, was sie genießen, oder von andern erwarten, den Geschmack | ||||||
20 | in seiner Einfalt zu erhalten: wenn ich nur einsähe, wie dieses zu leisten | ||||||
21 | möglich sei. In dem Falle aber, daß es anginge, würden sie andere glücklich | ||||||
22 | machen und auch selbst glücklich sein. Es ist niemals aus den Augen | ||||||
23 | zu lassen: daß, in welcher Art es auch sei, man keine sehr hohe Ansprüche | ||||||
24 | auf die Glückseligkeiten des Lebens und die Vollkommenheit der Menschen | ||||||
25 | machen müsse; denn derjenige, welcher jederzeit nur etwas Mittelmäßiges | ||||||
26 | erwartet, hat den Vortheil, daß der Erfolg selten seine Hoffnung widerlegt, | ||||||
27 | dagegen bisweilen ihn auch wohl unvermuthete Vollkommenheiten | ||||||
28 | überraschen. | ||||||
29 | Allen diesen Reizen droht endlich das Alter, der große Verwüster der | ||||||
30 | Schönheit, und es müssen, wenn es nach der natürlichen Ordnung gehen | ||||||
31 | soll, allmählig die erhabenen und edlen Eigenschaften die Stelle der schönen | ||||||
32 | einnehmen, um eine Person, so wie sie nachläßt liebenswürdig zu sein, | ||||||
33 | immer einer größeren Achtung werth zu machen. Meiner Meinung nach | ||||||
34 | sollte in der schönen Einfalt, die durch ein verfeinertes Gefühl an allem, | ||||||
35 | was reizend und edel ist, erhoben worden, die ganze Vollkommenheit des | ||||||
36 | schönen Geschlechts in der Blüthe der Jahre bestehen. Allmählig, so wie | ||||||
37 | die Ansprüche auf Reizungen nachlassen, könnte das Lesen der Bücher und | ||||||
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