Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 211 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Zweiter Abschnitt. |
||||||
02 | Von den Eigenschaften des Erhabenen und Schönen am |
||||||
03 | Menschen überhaupt. |
||||||
04 | Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Kühnheit ist erhaben und groß, | ||||||
05 | List ist klein, aber schön. Die Behutsamkeit, sagte Cromwell, ist eine | ||||||
06 | Bürgermeistertugend. Wahrhaftigkeit und Redlichkeit ist einfältig und | ||||||
07 | edel, Scherz und gefällige Schmeichelei ist fein und schön. Artigkeit ist die | ||||||
08 | Schönheit der Tugend. Uneigennütziger Diensteifer ist edel, Geschliffenheit | ||||||
09 | (Politesse) und Höflichkeit sind schön. Erhabene Eigenschaften flößen | ||||||
10 | Hochachtung, schöne aber Liebe ein. Leute, deren Gefühl vornehmlich auf | ||||||
11 | das Schöne geht, suchen ihre redliche, beständige und ernsthafte Freunde | ||||||
12 | nur in der Noth auf; den scherzhaften, artigen und höflichen Gesellschafter | ||||||
13 | aber erwählen sie sich zum Umgange. Man schätzt manchen viel zu hoch, | ||||||
14 | als daß man ihn lieben könne. Er flößt Bewunderung ein, aber er ist zu | ||||||
15 | weit über uns, als daß wir mit der Vertraulichkeit der Liebe uns ihm zu | ||||||
16 | nähern getrauen. | ||||||
17 | Diejenige, welche beiderlei Gefühl in sich vereinbaren, werden finden: | ||||||
18 | daß die Rührung von dem Erhabenen mächtiger ist wie die vom Schönen, | ||||||
19 | nur daß sie ohne Abwechselung oder Begleitung der letzteren ermüdet und | ||||||
20 | nicht so lange genossen werden kann.*) Die hohen Empfindungen, zu | ||||||
21 | denen die Unterredung in einer Gesellschaft von guter Wahl sich bisweilen | ||||||
22 | erhebt, müssen sich dazwischen in heiteren Scherz auflösen, und die lachende | ||||||
23 | Freuden sollen mit der gerührten, ernsthaften Miene den schönen Contrast | ||||||
24 | machen, welcher beide Arten von Empfindung ungezwungen abwechseln | ||||||
25 | läßt. Freundschaft hat hauptsächlich den Zug des Erhabenen, Geschlechterliebe | ||||||
26 | aber des Schönen an sich. Doch geben Zärtlichkeit und | ||||||
*) Die Empfindungen des Erhabenen spannen die Kräfte der Seele stärker an und ermüden daher eher. Man wird ein Schäfergedicht länger in einer Folge lesen können als Miltons verlorenes Paradies und den de la Bruyere länger wie den Young. Es scheint mir sogar ein Fehler des letzteren als eines moralischen Dichters zu sein, daß er gar zu einförmig im erhabenen Tone anhält; denn die Stärke des Eindrucks kann nur durch Abstechungen mit sanfteren Stellen erneuert werden. Bei dem Schönen ermüdet nichts mehr als mühsame Kunst, die sich dabei verräth. Die Bemühung zu reizen wird peinlich und mit Beschwerlichkeit empfunden. | |||||||
[ Seite 210 ] [ Seite 212 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |