Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 196

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Erläuterung der Regel, mit der wir uns beschäftigen, in den      
  02 Fällen der Veränderungen, die nicht mechanisch sind, z. E. derer in unserer      
  03 Seele, oder die von ihr überhaupt abhängen, ist ihrer Natur nach schwer,      
  04 wie überhaupt diese Wirkungen sowohl als ihre Gründe bei weitem so      
  05 faßlich und anschauend deutlich nicht können dargestellt werden, als die in      
  06 der Körperwelt. Gleichwohl will ich, so viel es mir möglich zu sein scheint,      
  07 hierin Licht zu verschaffen suchen.      
           
  08 Die Verabscheuung ist eben so wohl was Positives als die Begierde.      
  09 Die erste ist eine Folge einer positiven Unlust, wie diese die positive Folge      
  10 einer Lust ist. Nur in so fern wir an eben demselben Gegenstande Lust      
  11 und Unlust zugleich empfinden, so sind die Begierden und Verabscheuungen      
  12 desselben in einer wirklichen Entgegensetzung. Allein in so fern eben derselbe      
  13 Grund, der an einem Objecte Lust veranlaßt, zugleich der Grund      
  14 einer wahren Unlust an andern wird, so sind die Gründe der Begierden      
  15 zugleich Gründe der Verabscheuungen, und es ist der Grund einer Begierde      
  16 zugleich der Grund von Etwas, das in einer realen Opposition damit      
  17 steht, ob diese gleich nur potential ist. So wie die Bewegungen der      
  18 Körper, die in derselben geraden Linie in entgegengesetzter Richtung sich      
  19 von einander entfernen, ob sie gleich einer des andern Bewegung selber      
  20 aufzuheben nicht bestrebt sind, dennoch eine als die Negative der andern      
  21 angesehen wird, weil sie potential einander entgegen gesetzt sind. Diesemnach,      
  22 ein so großer Grad der Begierde in jemand zum Ruhme entspringt,      
  23 ein eben so großer Grad des Abscheues entsteht zugleich in Beziehung auf      
  24 das Gegentheil, und dieser Abscheu ist zwar nur potential, so lange noch      
  25 die Umstände nicht in der wirklichen Entgegensetzung in Ansehung der      
  26 Ruhmbegierde stehen, gleichwohl ist durch eben dieselbe Ursache der Ruhmbegierde      
  27 ein positiver Grund eines gleichen Grades der Unlust in der      
  28 Seele festgesetzt, in so fern sich die Umstände der Welt denen entgegengesetzt      
  29 zutragen möchten, die die erstere begünstigen.*) Wir werden bald      
  30 sehen, daß es in dem vollkommensten Wesen nicht so bewandt sei, und daß      
  31 der Grund seiner höchsten Lust sogar alle Möglichkeit der Unlust ausschließe.      
           
  32 Bei den Handlungen des Verstandes finden wir sogar, daß, in je      
  33 höherem Grade eine gewisse Idee klar oder deutlich gemacht wird, desto      
           
    *) Um des willen mußte der stoische Weise alle dergleichen Triebe, die ein Gefühl großer sinnlicher Lust enthalten, ausrotten, weil man mit ihnen zugleich Gründe großer Unzufriedenheit und Mißvergnügens pflanzt, die nach dem abwechselnden Spiel des Weltlaufs den ganzen Werth der erstern aufheben können.      
           
     

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