| Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 183 | |||||||
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| 01 | also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht bloß ein | ||||||
| 02 | Mangel. Man bilde sich nicht ein, daß dieses lediglich auf die Begehungsfehler | ||||||
| 03 | ( demerita commissionis ) und nicht zugleich auf die | ||||||
| 04 | Unterlassungsfehler ( demerita omissionis ) gehe. Ein unvernünftig | ||||||
| 05 | Thier verübt keine Tugend. Es ist diese Unterlassung aber nicht Untugend | ||||||
| 06 | ( demeritum ). Denn es ist keinem inneren Gesetze entgegen gehandelt | ||||||
| 07 | worden. Es ward nicht durch inneres moralisches Gefühl zu einer | ||||||
| 08 | guten Handlung getrieben, und dadurch, daß es ihm widerstanden, oder | ||||||
| 09 | vermittelst eines Gegengewichts wurde das Zero oder die Unterlassung | ||||||
| 10 | als eine Folge nicht bestimmt. Sie ist hier eine Verneinung schlechthin | ||||||
| 11 | aus Mangel eines positiven Grundes und keine Beraubung. Setzet dagegen | ||||||
| 12 | einen Menschen, der demjenigen, dessen Noth er sieht und dem er | ||||||
| 13 | leicht helfen kann, nicht hilft. Hier ist, wie in dem Herzen eines jeden | ||||||
| 14 | Menschen, so auch bei ihm ein positives Gesetz der Nächstenliebe. Dieses | ||||||
| 15 | muß überwogen werden. Es gehört hiezu eine wirkliche innere Handlung | ||||||
| 16 | aus Bewegungsursachen, damit die Unterlassung möglich sei. Dieses | ||||||
| 17 | Zero ist die Folge einer realen Entgegensetzung. Es kostet auch wirklich | ||||||
| 18 | einigen Menschen im Anfange merkliche Mühe einiges Gute zu unterlassen, | ||||||
| 19 | wozu sie die positive Antriebe in sich bemerken; die Gewohnheit erleichtert | ||||||
| 20 | alles, und diese Handlung wird zuletzt wenig mehr wahrgenommen. | ||||||
| 21 | Es sind demnach die Begehungssünden von den Unterlassungssünden | ||||||
| 22 | moralisch nicht der Art, sondern der Größe nach nur unterschieden. | ||||||
| 23 | Physisch, nämlich den äußeren Folgen nach, sind sie auch wohl der Art | ||||||
| 24 | nach verschieden. Derjenige, der nichts bekommt, leidet ein Übel des | ||||||
| 25 | Mangels und, dem genommen wird, ein Übel der Beraubung. Allein | ||||||
| 26 | was den moralischen Zustand desjenigen, dem die Unterlassungssünde zukommt, | ||||||
| 27 | anlangt, so wird zur Begehungssünde nur ein größerer Grad der | ||||||
| 28 | Handlung erfordert: so wie das Gegengewicht am Hebel eine wahrhafte | ||||||
| 29 | Kraft anwendet, um die Last bloß in Ruhe zu erhalten, und nur einiger | ||||||
| 30 | Vermehrung bedarf, um sie auf die andere Seite wirklich zu bewegen. | ||||||
| 31 | Eben also, wer nicht bezahlt, was er schuldig ist, der wird in gewissen Umständen | ||||||
| 32 | betrügen, um zu gewinnen, und wer nicht hilft, wenn er kann, der | ||||||
| 33 | wird, so bald sich die Bewegursachen vergrößern, den andern verderben. | ||||||
| 34 | Liebe und Nicht=Liebe sind eins das contradictorische Gegentheil vom andern. | ||||||
| 35 | Nicht=Liebe ist eine wahrhafte Verneinung, aber in Ansehung | ||||||
| 36 | dessen, wozu man sich einer Verbindlichkeit zu lieben bewußt ist, ist diese | ||||||
| 37 | Verneinung nur durch reale Entgegensetzung und mithin nur als eine | ||||||
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