Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 161 |
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01 | blicken lasse, woraus wir vermuthen, was uns auch nicht bekannt | ||||||
02 | ist, werde eben so bewandt sein; welches zwar sehr vernünftig gedacht ist, | ||||||
03 | aber nicht strenge schließt. | ||||||
04 | Dagegen wofern wir uns nicht zu sehr schmeicheln, so scheint unser | ||||||
05 | entworfener ontologische Beweis derjenigen Schärfe fähig zu sein, die | ||||||
06 | man in einer Demonstration fordert. Indessen wenn die Frage wäre, | ||||||
07 | welcher denn überhaupt unter beiden der beste sei, so würde man antworten: | ||||||
08 | so bald es auf logische Genauigkeit und Vollständigkeit ankommt, | ||||||
09 | so ist es der ontologische, verlangt man aber Faßlichkeit für den gemeinen | ||||||
10 | richtigen Begriff, Lebhaftigkeit des Eindrucks, Schönheit und Bewegkraft | ||||||
11 | auf die moralische Triebfedern der menschlichen Natur, so ist | ||||||
12 | dem kosmologischen Beweise der Vorzug zuzugestehen. Und da es ohne | ||||||
13 | Zweifel von mehr Erheblichkeit ist, den Menschen mit hohen Empfindungen, | ||||||
14 | die fruchtbar an edler Thätigkeit sind, zu beleben, indem man zugleich | ||||||
15 | den gesunden Verstand überzeugt, als mit sorgfältig abgewogenen | ||||||
16 | Vernunftschlüssen zu unterweisen, dadurch daß der feinern Speculation | ||||||
17 | ein Gnüge gethan wird, so ist, wenn man aufrichtig verfahren will, dem | ||||||
18 | bekannten kosmologischen Beweise der Vorzug der allgemeinern Nutzbarkeit | ||||||
19 | nicht abzusprechen. | ||||||
20 | Es ist demnach kein schmeichlerischer Kunstgriff, der um fremden Beifall | ||||||
21 | buhlt, sondern Aufrichtigkeit, wenn ich einer solchen Ausführung der | ||||||
22 | wichtigen Erkenntniß von Gott und seinen Eigenschaften, als Reimarus | ||||||
23 | in seinem Buche von der natürlichen Religion liefert, den Vorzug der | ||||||
24 | Nutzbarkeit gerne einräume über einen jeden andern Beweis, in welchem | ||||||
25 | mehr auf logische Schärfe gesehen worden, und über den meinigen. Denn | ||||||
26 | ohne den Werth dieser und anderer Schriften dieses Mannes in Erwägung | ||||||
27 | zu ziehen, der hauptsächlich in einem ungekünstelten Gebrauche einer | ||||||
28 | gesunden und schönen Vernunft besteht, so haben dergleichen Gründe wirklich | ||||||
29 | eine große Beweiskraft und erregen mehr Anschauung als die logisch | ||||||
30 | abgezogene Begriffe, obgleich die letztere den Gegenstand genauer zu verstehen | ||||||
31 | geben. | ||||||
32 | Gleichwohl da ein forschender Verstand, wenn er einmal auf die | ||||||
33 | Spur der Untersuchung gerathen ist, nicht eher befriedigt wird, als bis | ||||||
34 | alles um ihn licht ist und bis sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, der | ||||||
35 | Zirkel, der seine Frage umgrenzt, völlig schließt, so wird niemand eine | ||||||
36 | Bemühung, die wie die gegenwärtige auf die logische Genauigkeit in | ||||||
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