Kant: AA I, Geschichte und Naturbeschreibung ... , Seite 432 |
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01 | die Höhlen, die wir in dem Innern der Berge antreffen, die tiefsten Schachte | ||||||
02 | der Bergwerke, die wir Jahrhunderte hindurch erweitern, sind bei weitem | ||||||
03 | nicht zureichend, uns von dem inwendigen Bau des großen Klumpens, den | ||||||
04 | wir bewohnen, deutliche Kenntnisse zu verschaffen. | ||||||
05 | Die größte Tiefe, zu der Menschen von der obersten Fläche des festen | ||||||
06 | Landes hinabgekommen sind, beträgt noch nicht 500 Klafter, d. i. noch | ||||||
07 | nicht den sechstausendsten Theil von der Entfernung bis zum Mittelpunkte | ||||||
08 | der Erde, und gleichwohl befinden sich diese Grüfte noch in den Gebirgen, | ||||||
09 | und selbst alles feste Land ist ein Berg, in welchem, um nur zu gleicher | ||||||
10 | Tiefe, als der Meeresgrund liegt, zu gelangen, man wenigstens dreimal | ||||||
11 | tiefer hinab kommen müßte. | ||||||
12 | Was aber die Natur unserm Auge und unsern unmittelbaren Versuchen | ||||||
13 | verbirgt, das entdeckt sie selber durch ihre Wirkungen. Die Erdbeben | ||||||
14 | haben uns offenbart, daß die Oberfläche der Erde voller Wölbungen | ||||||
15 | und Höhlen sei, und daß unter unsern Füßen verborgene Minen mit | ||||||
16 | mannigfaltigen Irrgängen allenthalben fortlaufen. Der Verfolg in der | ||||||
17 | Geschichte des Erdbebens wird dieses außer Zweifel setzen. Diese Höhlen | ||||||
18 | haben wir eben derselben Ursache zuzuschreiben, welche den Meeren ihr | ||||||
19 | Bette zubereitet hat; denn es ist gewiß, wenn man von den Überbleibseln, | ||||||
20 | die das Weltmeer von seinem ehemaligen Aufenthalte über dem gesammten | ||||||
21 | festen Lande zurück gelassen hat, von den unermeßlichen Muschelhaufen, | ||||||
22 | die selbst in dem Innern der Berge angetroffen werden, von den versteinerten | ||||||
23 | Seethieren, die man aus den tiefsten Schachten herausbringt, ich | ||||||
24 | sage, wenn man von allem diesem nur einigermaßen unterrichtet ist, so | ||||||
25 | wird man leicht einsehen, daß erstlich das Meer ehedem eine lange Zeit | ||||||
26 | alles Land überdeckt habe, daß dieser Aufenthalt lange gedauret habe und | ||||||
27 | älter als die Sündfluth sei, und daß endlich das Gewässer sich unmöglich | ||||||
28 | anders habe zurück ziehen können, als daß der Boden desselben hin und | ||||||
29 | wieder in tiefe Grüfte herabgesunken und demselben tiefe Becken zubereitet zubereitet | ||||||
30 | hat, darin es abgeflossen ist, und zwischen deren Ufern es noch jetzt beschränkt | ||||||
31 | erhalten wird, indessen daß die erhöhten Gegenden dieser eingesunkenen | ||||||
32 | Rinde festes Land geworden, welches allenthalben mit Höhlungen | ||||||
33 | untergraben ist, und dessen Strecke mit den steilen Gipfeln besetzt ist, die | ||||||
34 | unter den Namen der Gebirge die oberste Höhe des festen Landes nach | ||||||
35 | allen denjenigen Richtungen durchlaufen, nach welchen es sich in eine beträchtliche | ||||||
36 | Länge erstreckt. | ||||||
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