Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 353 |
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| 01 | in Verfassung befunden hat, Menschen, Thiere und Gewächse unterhalten | ||||||
| 02 | zu können. Daß ein Planet nun einige tausend Jahre später | ||||||
| 03 | zu dieser Vollkommenheit kommt, das thut dem Zwecke seines Daseins | ||||||
| 04 | keinen Abbruch. Er wird eben um deswillen auch ins zukünftige länger | ||||||
| 05 | in der Vollkommenheit seiner Verfassung, wenn er sie einmal erreicht | ||||||
| 06 | hat, verbleiben; denn es ist einmal ein gewisses Naturgesetz: alles, | ||||||
| 07 | was einen Anfang hat, nähert sich beständig seinem Untergange und | ||||||
| 08 | ist demselben um so viel näher, je mehr es sich von dem Punkte seines | ||||||
| 09 | Anfanges entfernt hat. | ||||||
| 10 | Die satirische Vorstellung jenes witzigen Kopfes aus dem Haag, | ||||||
| 11 | welcher nach der Anführung der allgemeinen Nachrichten aus dem | ||||||
| 12 | Reiche der Wissenschaften die Einbildung von der nothwendigen Bevölkerung | ||||||
| 13 | aller Weltkörper auf der lächerlichen Seite vorzustellen wußte, | ||||||
| 14 | kann nicht anders, als gebilligt werden. "Diejenigen Creaturen," spricht | ||||||
| 15 | er, "welche die Wälder auf dem Kopfe eines Bettlers bewohnen, hatten | ||||||
| 16 | schon lange ihren Aufenthalt für eine unermeßliche Kugel und sich selber | ||||||
| 17 | als das Meisterstück der Schöpfung angesehen, als einer unter ihnen, | ||||||
| 18 | den der Himmel mit einer feinern Seele begabt hatte, ein kleiner | ||||||
| 19 | Fontenelle seines Geschlechts, den Kopf eines Edelmanns unvermuthet | ||||||
| 20 | gewahr ward. Alsbald rief er alle witzige Köpfe seines Quartiers zusammen | ||||||
| 21 | und sagte ihnen mit Entzückung: Wir sind nicht die einzigen | ||||||
| 22 | belebten Wesen der ganzen Natur; sehet hier ein neues Land, hier | ||||||
| 23 | wohnen mehr Läuse." Wenn der Ausgang dieses Schlusses ein | ||||||
| 24 | Lachen erweckt: so geschieht es nicht um deswillen, weil er von der | ||||||
| 25 | Menschen Art, zu urtheilen, weit abgeht; sondern weil eben derselbe | ||||||
| 26 | Irrthum, der bei dem Menschen eine gleiche Ursache zum Grunde hat, | ||||||
| 27 | bei diesen mehr Entschuldigung zu verdienen scheint. | ||||||
| 28 | Laßt uns ohne Vorurtheil urtheilen. Dieses Insect, welches sowohl | ||||||
| 29 | seiner Art zu leben, als auch seiner Nichtswürdigkeit nach die | ||||||
| 30 | Beschaffenheit der meisten Menschen sehr wohl ausdrückt, kann mit | ||||||
| 31 | gutem Fuge zu einer solchen Vergleichung gebraucht werden. Weil | ||||||
| 32 | seiner Einbildung nach der Natur an seinem Dasein unendlich viel | ||||||
| 33 | gelegen ist: so hält es die ganze übrige Schöpfung für vergeblich, die | ||||||
| 34 | nicht eine genaue Abzielung auf sein Geschlecht, als den Mittelpunkt | ||||||
| 35 | ihrer Zwecke, mit sich führt. Der Mensch, welcher gleich unendlich | ||||||
| 36 | weit von der obersten Stufe der Wesen absteht, ist so verwegen, von | ||||||
| 37 | der Nothwendigkeit seines Daseins sich mit gleicher Einbildung zu | ||||||
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