Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 198 |
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| 01 | dem Veralten eines sich durch natürliche Kräfte zur Vollkommenheit | ||||||
| 02 | ausbildenden und durch die Kräfte der Elemente modificirenden Körpers | ||||||
| 03 | zu machen hat. | ||||||
| 04 | Das Veralten eines Wesens ist in dem Ablauf seiner Veränderungen | ||||||
| 05 | nicht ein Abschnitt, der äußere und gewaltsame Ursachen zum | ||||||
| 06 | Grunde hat. Eben dieselbe Ursachen, durch welche ein Ding zur Vollkommenheit | ||||||
| 07 | gelangt und darin erhalten wird, bringen es durch unmerkliche | ||||||
| 08 | Stufen der Veränderungen seinem Untergange wiederum nahe. | ||||||
| 09 | Es ist eine natürliche Schattirung in der Fortsetzung seines Daseins | ||||||
| 10 | und eine Folge eben derselben Gründe, dadurch seine Ausbildung bewirkt | ||||||
| 11 | worden, daß es endlich verfallen und untergehen muß. Alle | ||||||
| 12 | Naturdinge sind diesem Gesetze unterworfen, daß derselbe Mechanismus, | ||||||
| 13 | der im Anfange an ihrer Vollkommenheit arbeitete, nachdem sie den | ||||||
| 14 | Punkt derselben erreicht haben, weil er fortfährt das Ding zu verändern, | ||||||
| 15 | selbiges nach und nach wiederum von den Bedingungen der guten Verfassung | ||||||
| 16 | entfernt und dem Verderben mit unvermerkten Schritten endlich | ||||||
| 17 | überliefert. Dieses Verfahren der Natur zeigt sich deutlich an der | ||||||
| 18 | Ökonomie des Pflanzen= und Thierreichs. Eben derselbe Trieb, der die | ||||||
| 19 | Bäume wachsen macht, bringt ihnen den Tod, wenn sie ihr Wachsthum | ||||||
| 20 | vollendet haben. Wenn die Fasern und Röhren keiner Ausdehnung | ||||||
| 21 | mehr fähig sind,so fängt der nährende Saft, indem er fortfährt sich | ||||||
| 22 | den Theilen einzuverleiben, das Inwendige der Gänge an zu verstopfen | ||||||
| 23 | und zu verdichten und das Gewächs durch die gehemmte Bewegung | ||||||
| 24 | der Säfte endlich absterben und verdorren zu machen. Eben der Mechanismus, | ||||||
| 25 | wodurch das Thier oder der Mensch lebt und aufwächst, bringt | ||||||
| 26 | ihm endlich den Tod, wenn das Wachsthum vollendet ist. Denn indem | ||||||
| 27 | die Nahrungssäfte, welche zu dessen Unterhalte dienen, die Canäle, | ||||||
| 28 | an die sie sich ansetzen, nicht mehr zugleich erweitern und in ihrem | ||||||
| 29 | Inhalte vergrößern, so verengen sie ihre inwendige Höhle, der Kreislauf | ||||||
| 30 | der Flüssigkeiten wird gehemmt, das Thier krümmt sich, veraltet | ||||||
| 31 | und stirbt. Eben so ist der allmähliche Verfall der guten Verfassung | ||||||
| 32 | der Erde ebenfalls in die Folge der Abänderungen, welche ihre Vollkommenheit | ||||||
| 33 | anfänglich bewirkten, so eingeflochten, daß er nur in langen | ||||||
| 34 | Zeitläuften kenntlich werden kann. Wir müssen daher auf die veränderlichen | ||||||
| 35 | Scenen, welche die Natur von ihrem Anfange an bis zur Vollendung | ||||||
| 36 | spielt, einen flüchtigen Blick werfen, um die ganze Kette der | ||||||
| 37 | Folgen zu übersehen, darin das Verderben das letzte Glied ist. | ||||||
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