Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 197

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 daß die Bäume vor Alters nicht größer geworden als jetzo,      
  02 daß die Menschen weder älter noch stärker gewesen, als sie es jetzt      
  03 sind, es ist, sage ich, dieses noch nicht genug, um daraus zu schließen,      
  04 daß die Natur nicht veralte. Diese Beschaffenheiten haben ihre durch      
  05 die wesentliche Bestimmungen ihnen festgesetzte Schranken, welche auch      
  06 die vortheilhafteste Beschaffenheit der Natur und der blühendste Wohlstand      
  07 derselben nicht weiter treiben können. In allen Ländern ist in      
  08 Ansehung dessen kein Unterschied; die fetten und in den besten Himmelsgegenden      
  09 liegende Länder haben vor den magern und unfruchtbaren      
  10 hierin keinen Vorzug; allein ob, wenn man zwischen zuverlässigen Nachrichten      
  11 alter Zeiten und der genauen Beobachtung der gegenwärtigen      
  12 eine Vergleichung anstellen könnte, nicht einiger Unterschied in der      
  13 Fruchtbarkeit derselben würde zu bemerken sein, ob die Erde nicht etwa      
  14 ehedem weniger Wartung bedurft hat, dem menschlichen Geschlechte den      
  15 Unterhalt darzureichen, dieses scheint, wenn es entschieden werden könnte,      
  16 ein Licht in der vorhandenen Aufgabe zu versprechen. Es würde gleichsam      
  17 die ersten Glieder einer langen Progression vor Augen legen, an      
  18 welchen man erkennen könnte, welchem Zustande die Erde sich in langen      
  19 Zeitläuften ihres Alters allgemach nähere. Diese Vergleichung aber      
  20 ist sehr ungewiß, oder vielmehr unmöglich. Der Menschen Fleiß thut      
  21 so viel zur Fruchtbarkeit der Erde: daß man schwerlich wird ausmachen      
  22 können, ob an der Verwilderung und Verödung derjenigen Länder, die      
  23 vordem blühende Staaten waren und jetzt fast gänzlich entvölkert sind,      
  24 die Nachlässigkeit der erstern, oder die Abnahme der letztern am meisten      
  25 Schuld sei. Ich will diese Untersuchung denjenigen empfehlen, die      
  26 mehr Geschicklichkeit und Neigung haben diese Frage nach beiden Bedingungen      
  27 in den Denkmalen der Geschichte zu prüfen; ich will sie      
  28 lediglich als ein Naturkündiger abhandlen, um wo möglich von dieser      
  29 Seite zu einer gründlichen Einsicht zu gelangen.      
           
  30 Die Meinung der meisten Naturforscher, welche Theorien der Erde      
  31 entworfen haben, geht dahin, daß die Fruchtbarkeit der Erde allmählig      
  32 abnehme, daß sie sich dem Zustande mit langsamen Schritten nähere      
  33 unbewohnter und wüst zu werden, und daß es nur Zeit brauche, um      
  34 die Natur gänzlich veraltet und in der Ermattung ihrer Kräfte erstorben      
  35 zu sehen. Diese Frage ist wichtig, und es verlohnt sich wohl der Mühe      
  36 sich mit Behutsamkeit diesem Schlusse zu nähern.      
           
  37 Lasset uns aber vorher den Begriff bestimmen, den man sich von      
           
     

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