Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 012 |
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| 01 | IX |
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| 02 | Die letzte Schwierigkeit, die ich noch wegräumen will, ist diejenige, | ||||||
| 03 | die man mir wegen der Unhöflichkeit machen wird. Es scheint: da | ||||||
| 04 | ich den Männern, die ich mich unterfangen habe zu widerlegen, mit | ||||||
| 05 | mehr Ehrerbietigkeit hätte begegnen können, als ich wirklich gethan | ||||||
| 06 | habe. Ich hätte mein Urtheil, das ich über ihre Sätze fälle, in einem | ||||||
| 07 | viel gelindern Tone aussprechen sollen. Ich hätte sie nicht Irrthümer, | ||||||
| 08 | Falschheiten oder auch Verblendungen nennen sollen. Die Härte | ||||||
| 09 | dieser Ausdrücke scheint den großen Namen verkleinerlich zu sein, gegen | ||||||
| 10 | die sie gerichtet sind. Zu der Zeit der Unterscheidungen, welche auch | ||||||
| 11 | die Zeit der Rauhigkeit der Sitten war, würde man geantwortet haben: | ||||||
| 12 | daß man die Sätze von allen persönlichen Vorzügen ihrer Urheber abgesondert | ||||||
| 13 | beurtheilen müsse. Die Höflichkeit dieses Jahrhunderts aber | ||||||
| 14 | legt mir ein ganz ander Gesetz auf. Ich würde nicht zu entschuldigen | ||||||
| 15 | sein, wenn die Art meines Ausdrucks die Hochachtung, die das Verdienst | ||||||
| 16 | großer Männer von mir fordert, beleidigte. Allein ich bin versichert, | ||||||
| 17 | daß dieses nicht sei. Wenn wir neben den größten Entdeckungen | ||||||
| 18 | offenbare Irrthümer antreffen: so ist dieses nicht sowohl ein Fehler des | ||||||
| 19 | Menschen, als vielmehr der Menschheit; und man würde dieser in der | ||||||
| 20 | Person der Gelehrten gar zu viel Ehre anthun, wenn man sie von | ||||||
| 21 | denselben gänzlich ausnehmen wollte. Ein großer Mann, der sich ein | ||||||
| 22 | Gebäude von Sätzen errichtet, kann seine Aufmerksamkeit nicht auf alle | ||||||
| 23 | mögliche Seiten gleich stark kehren. Er ist in einer gewissen Betrachtung | ||||||
| 24 | insbesondere verwickelt, und es ist kein Wunder, wenn ihm alsdann | ||||||
| 25 | von irgend einer andern Seite Fehler entwischen, die er unfehlbar | ||||||
| 26 | vermieden haben würde, wenn er außerhalb dieser Beschäftigung | ||||||
| 27 | nur seine Aufmerksamkeit auf dieselbe gerichtet hätte. | ||||||
| 28 | Ich will die Wahrheit nur ohne Umschweife gestehen. Ich werde | ||||||
| 29 | nicht ungeneigt sein, diejenige Sätze für wirkliche Irrthümer und | ||||||
| 30 | Falschheiten zu halten, welche in meiner Betrachtung unter dieser Gestalt | ||||||
| 31 | erscheinen; und warum sollte ich mir den Zwang anthun, diesen | ||||||
| 32 | Gedanken in meiner Schrift so ängstlich zu verbergen, um dasjenige | ||||||
| 33 | zu scheinen, was ich nicht denke, was aber die Welt gerne hätte, da | ||||||
| 34 | ich es dächte? | ||||||
| 35 | Und überhaupt zu reden, würde ich mit der Ceremonie auch | ||||||
| 36 | schlecht zurechte kommen, allen meinen Urtheilen, die ich über große | ||||||
| 37 | Männer ausspreche, einen gewissen Schwung der Artigkeit zu ertheilen, | ||||||
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