Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 011

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu benehmen; denn nach so viel Fehltritten, denen der menschliche      
  02 Verstand zu allen Zeiten unterworfen gewesen, ist es keine Schande mehr      
  03 geirrt zu haben. Es steckt eine ganz andere Absicht unter meinem      
  04 Verfahren. Der Leser dieser Blätter ist ohne Zweifel schon durch die      
  05 Lehrsätze, die jetzt von den lebendigen Kräften im Schwange gehen,      
  06 vorbereitet, ehe er sich zu meiner Abhandlung wendet. Er weiß es,      
  07 was man gedacht hat, ehe Leibniz seine Kräftenschätzung der Welt      
  08 ankündigte, und der Gedanke dieses Mannes muß ihm auch schon bekannt      
  09 sein. Er hat sich unfehlbar durch die Schlüsse einer von beiden      
  10 Parteien gewinnen lassen, und allem Absehen nach ist dieses die Leibnizische      
  11 Partei, denn ganz Deutschland hat sich jetzt zu derselben bekannt.      
  12 In dieser Verfassung liest er diese Blätter. Die Vertheidigungen      
  13 der lebendigen Kräfte haben unter der Gestalt geometrischer Beweise      
  14 seine ganze Seele eingenommen. Er sieht meine Gedanken also nur als      
  15 Zweifel an, und wenn ich sehr glücklich bin, noch etwa als scheinbare      
  16 Zweifel, deren Auflösung er der Zeit überläßt, und die der Wahrheit      
  17 dennoch nicht hinderlich fallen können. Hingegen muß ich meine ganze      
  18 Kunst anwenden, um die Aufmerksamkeit des Lesers etwas länger bei      
  19 mir aufzuhalten. Ich muß mich ihm in dem ganzen Lichte der Überzeugung      
  20 darstellen, das meine Beweise mir gewähren, um ihn auf die      
  21 Gründe aufmerksam zu machen, die mir diese Zuversicht einflößen.      
           
  22 Wenn ich meine Gedanken nur unter dem Namen der Zweifel      
  23 vortrüge, so würde die Welt, die ohnedem geneigt ist, sie für nichts      
  24 Besseres anzusehen, sehr leicht über dieselbe hinweg sein; denn eine      
  25 Meinung, die man einmal glaubt erwiesen zu haben, wird sich noch      
  26 sehr lange im Beifalle erhalten, wenn gleich die Zweifel, durch die sie      
  27 angefochten wird, noch so scheinbar sind und nicht leichtlich können      
  28 aufgelöset werden.      
           
  29 Ein Schriftsteller zieht gemeiniglich seinen Leser unvermerkt mit      
  30 in diejenige Verfassung, in der er sich bei Verfertigung seiner Schrift      
  31 selber befunden hatte. Ich wollte ihm also, wenn es möglich wäre,      
  32 lieber den Zustand der Überzeugung, als des Zweifels mittheilen;      
  33 denn jener würde mir und vielleicht auch der Wahrheit vortheilhafter      
  34 sein, als dieser. Dieses sind die kleinen Kunstgriffe, die ich jetzt nicht      
  35 verachten muß, um das Gleichgewicht der Wage nur einigermaßen      
  36 herzustellen, in der das Ansehen großer Männer einen so gewaltigen      
  37 Ausschlag giebt.      
           
           
     

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