Meyer's Vernunftlehre Teil 1 

 
 

 



 
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§. 285.

Die logische Eintheilung der Begriffe (divisio logica) besteht
in einer deutlichen Vorstellung aller niedrigern Begriffe, die einander entgegen gesetzt
sind, und die unter einem und eben demselben höhern Begriffe
enthalten sind. Dieser höhere Begriff heisst der eingetheilte Begriff (divisum),
und die niedrigern Begriffe, die Glieder der Eintheilung (membra dividentia).
Wenn man demnach eine logische Eintheilung machen will, 1) so nehme man
einen abgesonderten Begriff; 2) man erfinde alle Unterschiede seiner niedrigern
Begriffe, die einander entgegen gesetzt sind; 3) diese Unterschiede verbinde
man nach und nach, durch eine Entgegensetzung, mit dem höhern Begriffe.
Z.E. alle Begriffe sind entweder dunkele oder klare Begriffe.

§. 286.

Eine Eintheilung eines Gliedes der Eintheilung wird eine Untereintheilung
(subdivisio) genannt, und verschiedene Eintheilungen eines Begriffs,
welche in verschiedener Absicht gemacht werden, heissen Nebeneintheilungen
(codivisiones). Es ist vor sich klar was der eingetheilte Begriff der Untereintheilung
(subdivisum), und der Nebeneintheilungen (codivisum) sei. Desgleichen
die Glieder der Untereintheilung (membra subdividentia), und der
Nebeneintheilungen (membra codividentia) sind.

§. 287.

Wenn eine logische Eintheilung richtig sein soll, so muss 1) der
eingetheilte Begriff nicht weiter sein, als die Glieder der Eintheilung, wenn
sie durch eine Entgegensetzung (disiunctive) zusammen genommen werden;
oder es muss kein Glied der Eintheilung ausgelassen werden, weil sonst nicht
alle niedrigere Begriffe, die einander entgegen gesetzt sind, würden angeführt
sein §. 285. 262. 2) Der eingetheilte Begriff muss nicht enger sein, als
die Glieder der Eintheilung, wenn sie durch eine Entgegensetzung zusammen genommen
werden §. 262. Sonst würde man unter die
 
[80]
  Glieder
der Eintheilung einen Begriff mengen, welcher kein niedriger Begriff des eingetheilten
Begriffs ist §. 285. Folglich sind der eingetheilte Begriff, und die
Glieder der Eintheilung, wenn sie durch eine Entgegensetzung zusammen genommen
werden, Wechselbegriffe §. 262, und die Eintheilung muss den eingetheilten
Begriff erschöpfen.

§. 288.

3) Die Glieder der Eintheilung müssen so entgegen gesetzt
sein, dass keines dem andern zukommt §. 285. 260. 4) Der eingetheilte
Begriff muss keinem Gliede der Eintheilung widersprechen: denn er ist in
ihm enthalten §. 285. 260. 5) Die Glieder der Untereintheilung müssen
nicht, unter die Glieder der Eintheilung, gesetzt werden: sonst würden
nicht alle Glieder einander entgegen gesetzt sein n. 3. 4. §.286. 6) Die Zahl
der Glieder der Eintheilung muss bloss durch die Natur des eingetheilten
Begriffs, und der Absicht, in welcher er eingetheilt wird, bestimmt werden.

§. 289.

Wem der eingetheilte Begriff zukommt, dem kommt auch Ein
Glied der Eintheilung zu; wem Ein Glied der Eintheilung zukommt, dem kommt
auch der eingetheilte Begriff zu; wem der eingetheilte Begriff nicht zukommt,
dem kommt keins von den Gliedern der Eintheilung zu; wem keins von den
Gliedern der Eintheilung zukommt, dem kommt auch der eingetheilte Begriff
nicht zu §. 287.

§. 290.

Die logischen Eintheilungen 1) befördern die Erfindung gelehrter
Begriffe durch die willkürliche Verbindung §. 285. 266. 2) Dienen uns, um
unsere abgesonderten Begriffe in eine gehörige Ordnung und Verbindung zu
setzen, und sie desto leichter zu behalten; 3) überzeugen uns von der Allgemeinheit
unserer abstracten Erkenntniss.

§. 291.

Man muss sich bei den Eintheilungen in acht nehmen, dass man
sie, nebst ihren Unterabtheilungen, nicht zu sehr häufe, weil sonst eine grosse
Verwirrung entsteht; und man muss bei denselben alles gezwungene Wesen
verhüten.


 
[81]
  Der neunte Abschnitt,
von den gelehrten Urtheilen.


§. 292.

Begriffe, die einander zukommen §. 260, stimmen mit einander
überein; die aber einander nicht zukommen, sind einander zuwider, oder
streiten mit einander (repugnare). Die Übereinstimmung und der Streit mehrerer
Begriffe sind die logischen Verhältnisse der Begriffe (logica conceptuum
relatio). Ein Urtheil (iudicium) ist eine Vorstellung eines logischen
Verhältnisses einiger Begriffe; und in so ferne von demselben alles abgesondert
wird, ohne welchem die Wahrheit desselben gelehrt erkannt werden
kann, wird es ein logisches Urtheil (iudicium logicum) genennet, welches ein
gelehrtes Urtheil (iudicium eruditum) ist, wenn es allen Regeln der gelehrten
Erkenntniss, so viel als möglich ist, gemäss ist.

§. 293.

Derjenige Begriff, von welchem wir uns in einem Urtheile vorstellen,
dass ihm ein anderer zu oder nicht zukomme, ist das Subject (subiectum);
der andere im Gegentheil, von dem wir uns vorstellen, dass er dem Subjecte
zu oder nicht zukomme, ist das Prädicat (praedicatum). Die Vorstellung
der Übereinstimmung mehrerer Begriffe ist der Verbindungsbegriff (copula).
Die Verneinung (negatio) ist die Vorstellung der Abwesenheit einer Sache, und
die Vorstellung der Abwesenheit des Verbindungsbegriffs ist die Verneinung
des Verbindungsbegriffs (negatio copulae). Sie ist also die Vorstellung des
Streits des Prädicats mit dem Subjecte §. 292.

§. 294.

In einem logischen Urtheile stellen wir uns entweder vor, dass
das Prädicat dem Subjecte zukomme, oder nicht zukomme §. 292. 293. Jenes
ist ein bejahendes Urtheil (iudicium affirmans, affirmativum), dieses
 
[82]
  ein
verneinendes (iudicium negans, negativum). Z.E. die Seele kann denken, die
Materie kann nicht denken. In einem verneinenden Urtheile ist die Verneinung
des Verbindungsbegriffs §. 293. Und wenn in einem Urtheile entweder in dem
Subjecte oder Prädicate, oder in beiden zugleich eine Verneinung ist, wenn nur
der Verbindungsbegriff nicht verneinet wird, so ist es ein bejahendes Urtheil,
welches ein unendliches Urtheil genennet wird (iudicium infinitum). Man kann
also alle verneinende Urtheile in bejahende verwandeln, wenn man die Verneinung
von dem Verbindungsbegriffe weg zum Prädicate setzt. Z.E. die Seele
ist nicht sterblich, die Seele ist unsterblich. Die Beschaffenheit der Urtheile
(qualitas iudicii) besteht in ihrer Bejahung und Verneinung.

§. 295.

Ein bejahendes Urtheil ist wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte
zukommt, und zwar eben so, als jenes von diesem bejahet wird; es ist aber
falsch, wenn das Prädicat dem Subjecte nicht zukommt, wenigstens auf die Art
ihm nicht zukommt, als es von ihm bejahet wird. Ein verneinendes Urtheil ist
wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte nicht zukommt, und zwar so, wie es
von ihm verneinet wird; es ist aber falsch, wenn das Prädicat dem Subjecte
zukommt, wenigstens nicht so zuwider ist, wie es von ihm verneinet wird §. 294.
99. Wenn ein wahres Urtheil für falsch, und ein falsches für wahr gehalten
wird, so ist es ein irriges Urtheil §. 109.

§. 296.

Die Wahrheit und Unrichtigkeit eines Urtheils steckt in dem Verbindungsbegriffe
und in der Verneinung desselben §. 295. 293. Folglich kann
1) das Subject und Prädicat eines falschen Urtheils wahr sein; 2) das Subject
und Prädicat eines wahren bejahenden Urtheils falsch sein; 3) das Subject wahr
und das Prädicat falsch, oder umgekehrt in einem wahren verneinenden Urtheile
sein.

 
[83]
 

§. 297.

Alle wahre Urtheile haben einen Grund und einen hinreichenden
Grund ihrer Wahrheit §. 16. Dieser Grund wird die Bedingung
der Urtheile genennet (hypothesis, conditio iudicii). Folglich kann aus derselben
die Wahrheit und Unrichtigkeit der Urtheile erkannt werden. Sie ist
demnach das Kennzeichen und der Beweisthum der Wahrheit §. 94. 191.

§. 298.

Die Bedingungen der Urtheile sind 1) entweder zureichende oder
unzureichende Bedingungen §. 297. 119. 191; 2) entweder innerliche oder äusserliche
Bedingungen §. 297. 94; 3) entweder schlechterdings nothwendige oder
zufällige Bedingungen. Jene sind das Wesen, die wesentlichen Stücke, die
Eigenschaften oder die Erklärung des Subjects, und diese seine zufälligen Beschaffenheiten
und Verhältnisse §. 297. 121. 273. Wenn die zufällige Bedingung
eines Urtheils mit dem Subjecte desselben verbunden wird, so wird
sie die Bestimmung oder Einschränkung des Urtheils genennet (determinatio
et limitatio iudicii).

§. 299.

Wenn die Bedingung eines Urtheils 1) eine innerliche, schlechterdings
nothwendige und zureichende Bedingung ist, so ist sie von dem Subjecte
unzertrennlich. Man mag sie also gedenken oder nicht, so ist sie doch da,
und folglich kommt auch das Prädicat dem Subjecte zu oder nicht, nach dem es
entweder bejahet oder verneinet. Die Wahrheit erfodert alsdenn nicht, dass
man diese Bedingung mit dem Urtheil verbinde §. 295. Ist sie aber 2) eine
zufällige Bedingung, so ist sie bald da, bald nicht da, und das Urtheil würde
bald wahr, bald nicht wahr sein. Es erfodert es demnach die Wahrheit, dass
man diese Bedingungen mit dem Urtheile verbinde. Ein bestimmtes Urtheil
(iudicium determinatum, limitatum) ist ein Urtheil, welches eine Bestimmung
hat; ein Urtheil, welches nicht bestimmt ist, ist ein unbestimmtes Urtheil
(iudicium indeterminatum, illimitatum).

 
[84]
 

§. 300.

Die Zergliederung eines Urtheils (analysis, resolutio iudicii)
besteht darin, wenn man nach und nach auf alle Theile desselben Achtung giebt.
Alle Urtheile können zergliedert werden §. 139, und durch diese Arbeit findet
man nicht nur die Beweise der Urtheile §. 297; sondern man lernt sie auch
recht fassen, und andern vortragen.

§. 301.

Das Subject eines Urtheils ist entweder ein einzelner oder ein
abstracter Begriff §. 293. 260. Jenes ist ein einzelnes (iudicium singulare),
dieses ein gemeines Urtheil (iudicium commune). Welches das Prädicat entweder
von allen unter dem Subjecte enthaltenen, oder von einigen bejahet oder
verneinet. Jenes ist ein allgemeines (iudicium universale), dieses ein besonderes
Urtheil (iudicium particulare). Das letzte ist entweder zugleich allgemein
wahr, ein nicht bloss besonderes Urtheil (iudicium non tantum particulare),
oder nicht, ein bloss besonderes Urtheil (iudicium tantum particulare). Alle
diese Urtheile bejahen entweder, oder verneinen §. 294. Die allgemein bejahenden
Urtheile heissen A; die allgemein verneinenden E; die besonders bejahenden
I; und die besonders verneinenden O. Das Prädicat aller allgemeinen
Urtheile ist, in Absicht auf das Subject, ein allgemeiner Begriff, weil die verneinenden
in bejahende können verwandelt werden §. 294. 262. Und weil sowohl
in den einzeln, als auch in den allgemeinen Urtheilen, geurtheilt wird,
dass das Prädicat dem ganzen Subjecte zukomme oder nicht; so kann man die
einzeln Urtheile zu den allgemeinen rechnen. In so ferne ein Urtheil entweder
ein einzelnes oder ein gemeines ist, in so ferne schreibt +W schreibt zu -W man ihm eine Grösse
zu (quantitas iudicii).

§. 302.

Ein allgemein bejahendes Urtheil ist wahr, wenn das Prädicat
allen unter dem Subjecte enthaltenen zukommt §. 301. 295. Es ist also falsch,
wenn das Prädicat keinem einzigen unter dem Subjecte enthaltenen zukommt,

 
[85]
  oder einigen, oder auch nur einem einzigen derselben nicht zukommt.
Ein allgemein verneinendes Urtheil ist wahr, wenn das Prädicat allen unter dem
Subjecte enthaltenen zuwider ist §. 301. 295. Es ist also falsch, wenn das
Prädicat allen unter dem Subjecte enthaltenen, oder einigen derselben, oder
auch nur einem einzigen derselben zukommt.

§. 303.

Wenn die zureichende Bedingung eines gemeinen Urtheils 1) in
dem Subjecte schlechterdings nothwendig ist, so ist sie von demselben unzertrennlich,
und befindet sich, wo sich das Subject befindet, folglich in allen unter
ihm enthaltenen §. 263. Also ist alsdenn das Urtheil allgemein wahr, denn
wo die Bedingung ist, da ist auch das Prädicat §. 299. Wenn daher ein Prädicat
von einem abstracten Begriffe um seines Wesens, oder wesentlichen Stücks,
oder Eigenschaft, oder Erklärung willen bejahet oder verneinet wird, so ist das
Urtheil allgemein wahr §. 298. 299. 2) Wenn diese Bedingung eine Bestimmung
ist, so wird sie schlechterdings nothwendig, so bald sie mit dem Subjecte verbunden
wird, weil von demselben dadurch alle Dinge ausgeschlossen werden,
denen diese Bestimmung nicht zukommt §. 299. Und also ist das bestimmte
Urtheil allgemein wahr.

§. 304.

Ein Urtheil hat entweder nur Ein Subject und Ein Prädicat, oder
mehrere. Jenes ist ein einfaches Urtheil (iudicium simplex), dieses aber ein
zusammengesetztes (iudicium compositum). Wenn das Subject und Prädicat
aus mehrern Begriffen zusammengesetzt sind, so werden entweder einige derselben
um der übrigen willen gedacht, oder es wird keiner um des andern
willen gedacht. In dem ersten Falle sind die Begriffe, um welcher willen die
übrigen gedacht worden, die Hauptsubjecte und Hauptprädicate (subiectum
et praedicatum principale), und die übrigen die Nebensubjecte und Nebenprädicate
(subiectum et praedicatum minus principale). In dem andern Falle
ist, das zusammengesetzte
 
[86]
  Urtheil, ein Verbindungsurtheil (iudicium copulativum).

§. 305.

Ein Urtheil, welches bejahet, dass aus der Bedingung ein Urtheil
folge, ohne dass jene oder dieses für wahr oder falsch ausgegeben wird, ist
ein bedingtes Urtheil (iudicium hypotheticum, conditionale). Die Bedingung
der bedingten Urtheile heisst das erste, oder vorhergehende (prius, antecedens),
das Urtheil aber, welches aus ihr folgt, das letzte oder nachfolgende (posterius,
consequens). Es sind demnach nicht alle Urtheile bedingt, die eine Bedingung
haben §. 297.

§. 306.

Zur Wahrheit der bedingten Urtheile wird nicht erfodert, dass
das erste und letzte wahr sei; sondern dass es eine richtige Folge habe, oder
dass das erste der hinreichende Grund der Wahrheit des letzten sei. In dem
entgegengesetzten Falle ist das bedingte Urtheil falsch §. 305. 295.

§. 307.

Ein disjunctives Urtheil (iudicium disiunctivum) ist ein Urtheil,
welches bejahet, dass unter mehrern Urtheilen eins wahr und die übrigen falsch
sind, doch dergestalt, dass nicht bestimmt wird, welches wahr und welches
falsch ist. Die mehrern Urtheile, aus denen es zusammengesetzt ist, heissen
die Glieder der Disjunction, oder der Entgegensetzung (membra disiunctionis,
disiunctiva), z.E. die Seele ist entweder einfach, oder zusammengesetzt.

§. 308.

Wenn ein disjunctives Urtheil wahr sein soll, so müssen sich die
Glieder der Disjunction eben so gegen einander verhalten, als man in demselben
sich vorstellt §. 295. Folglich 1) müssen nicht mehr Glieder als eins wahr
sein. Wenn also alle Glieder oder auch nur zwei wahr sind zu gleicher Zeit,
so ist das Urtheil falsch; 2) Ein Glied muss nothwendig wahr sein; wenn also
alle Glieder falsch sind, oder eins nur zufälliger Weise wahr ist, so ist das
Urtheil falsch; 3) kein Glied muss ausgelassen werden,
 
[87]
  denn wenn das
ausgelassene auch falsch wäre, so würde doch aus der Disjunction nicht erhellen,
dass unter den angeführten Eins nothwendig wahr sei §. 307.

§. 309.

Die Vorstellung der Art und Weise, wie das Prädicat dem Subjecte
zu oder nicht zukommt, ist die Bestimmung des Verbindungsbegriffs
und der Verneinung desselben (modus formalis). Ein Urtheil hat entweder
eine solche Bestimmung, oder nicht. Jenes ist ein unreines (iudicium modale,
modificatum, complexum qua copulam), dieses aber ein reines Urtheil (iudicium
purum), z.E. diese Welt ist nothwendig da, sie ist nicht nothwendig da. Bei
der Wahrheit der unreinen Urtheile muss man sonderlich, auf die Bestimmung
des Verbindungsbegriffs und der Verneinung desselben, Achtung geben.

§. 310.

Ein Urtheil, welches aus einem bejahenden und verneinenden
auf eine sehr versteckte Art zusammengesetzt ist, heisst ein exponibeles Urtheil
(iudicium exponibile). Wenn es wahr sein soll, so müssen beide Urtheile richtig
sein, und man muss demnach, um sich davon zu versichern, dasselbe zergliedern.
Z.E. GOtt allein ist schlechterdings unsterblich.

§. 311.

Die Urtheile, welche zu gleicher Zeit den Zustand des Gemüths
in Absicht auf ein gewisses Urtheil vorstellen, sind Urtheile die nicht logisch
sind (iudicia non logica). Zum Exempel: O wie sehr betrügt sich der Sünder!
Solche Urtheile sind sehr praktisch, und damit die gelehrte Erkenntniss nicht
bloss gelehrt werde, so muss man sich hüten, dass nicht alle gelehrte Urtheile
einfach oder bloss logisch sein.

§. 312.

Alle gelehrten Urtheile sind entweder Erwägungsurtheile (iudicia
theoretica$f), oder Übungsurtheile (iudicia practica) §. 217. Diese urtheilen, dass
etwas gethan oder gelassen werden solle, z.E. wir müssen die Gesetze beobachten;
jene aber nicht, z.E. die Tugend macht uns glückselig.

 
[88]
 

§. 313.

Alle gelehrte Urtheile sind entweder erweisliche (iudicia
demonstrativa), oder unerweisliche Urtheile (iudicia indemonstrabilia). Dieser
ihre Wahrheit erhellet aus ihnen selbst, so bald wir sie deutlich erkennen; jene
aber können ohne Beweis nicht gewiss sein §. 192.

§. 314.

Das Prädicat eines bejahenden Urtheils ist entweder mit dem
Subjecte einerlei, oder es ist von ihm verschieden. Jenes ist ein leeres Urtheil
(iudicium identicum), welches entweder ganz leer ist (iudicium ex toto identicum),
oder eines Theils (iudicium ex parte identicum). Das Prädicat des
erstern ist von dem Subjecte gar nicht verschieden, das Prädicat des letztern
aber ist nur ein Theil des Subjects. Weil kein Begriff sich selbst zuwider ist,
so erkennen wir die Wahrheit aller leeren Urtheile, so bald wir sie verstehen
§. 295; sie sind also unerweislich §. 313. Wenn ein Urtheil nicht leer ist, so
muss man befürchten, dass zwischen dem Subjecte und Prädicate eine so grosse
Verschiedenheit sein könne, dass sie einander nicht zukommen. Folglich sind
sie nicht unerweislich, und es giebt also, ausser den leeren, keine unerweisliche
Urtheile §. 313.

§. 315.

Die unerweislichen Urtheile sind entweder Erwägungsurtheile, oder
Übungsurtheile. Jene sind Grundurtheile (axioma), diese aber Heischeurtheile
(postulatum). Man muss kein erweisliches Urtheil für ein unerweisliches halten
§. 313.

§. 316.

So ofte wir einen Begriff von sich selbst, oder einen Theil desselben
von ihm bejahen, so ofte haben wir ein Grundurtheil §. 315. 314. Man
kann also aus den Erklärungen Grundurtheile finden, wenn man von dem erklärten
Begriffe bejahet: 1) die ganze Erklärung, und in so ferne sind die
logischen Erklärungen unerweislich; 2) einige Merkmale der Erklärung; 3) die
einzeln Merkmale derselben §. 268.

 
[89]
 

§. 317.

So ofte ich eine Sache, die man als eine Würkung betrachten
kann, mir vorstelle, und ich bejahe von demjenigen, der sie hervorbringen will,
dass er sie oder einen Theil derselben hervorbringen müsse, so habe ich ein
Heischeurtheil §. 315. 314. Wenn also der erklärte Begriff als eine Würkung
betrachtet werden kann, und ich bejahe von demjenigen, der sie hervorbringen
will, dass er 1) die ganze Erklärung, 2) oder einige Merkmale, oder 3) einzelne
Merkmale hervorbringen müsse: so finde ich Heischeurtheile aus den Erklärungen
§. 268.

§. 318.

In einer Demonstration aus der Vernunft müssen, alle Beweisthümer,
völlig gewiss sein §. 193. 204; sie sind also entweder erweislich oder
nicht §. 313. In dem ersten Falle müssen sie wieder bewiesen werden. Folglich
wird ein Beweis nicht eher eine Demonstration, bis ich nicht auf lauter
unerweisliche Beweisthümer komme. Die leeren Urtheile, die Grundurtheile und
Heischeurtheile sind demnach die ersten Anfänge aller Demonstrationen aus der
Vernunft §. 314. 315. Alsdenn beruhiget sich der Verstand völlig, wenn der
Beweis bis auf solche Urtheile fortgeführt worden.

§. 319.

Die erweislichen Urtheile sind entweder bloss durch die Erfahrung
gewiss, oder nicht. Jene sind anschauende Urtheile (iudicium intuitivum),
diese aber Nachurtheile (iudicium discursivum). Das anschauende
Urtheil besteht aus lauter Erfahrungsbegriffen, und ist eine unmittelbare
Erfahrung §. 201, und ein einzelnes Urtheil §. 301. Kein anschauendes
Urtheil ist unerweislich §. 313. 314, denn ich muss mich allemal eines einzeln
Falles erinnern, und daher erkennen, wie und ob ich ohne Betrug zu einem
solchen Urtheile gelanget bin §. 202. Alle anschauenden Urtheile sind die ersten
Anfänge aller Demonstrationen aus der Erfahrung §. 202.

§. 320.

Wenn man ein anschauendes Urtheil finden will, so nehme man
1) die Sache, die man empfindet,
 
[90]
  zum Subjecte an; 2) man zergliedere die
Empfindung, nach §. 142. 257; 3) die entdeckten Merkmale bejahe man von dem
Subjecte §. 319.

§. 321.

Die Prädicate anschauender Urtheile können zufällige Beschaffenheiten,
Veränderungen, Verhältnisse, Würkungen, Ursachen, Handlungen und
Leiden sein; niemals aber das Wesen, die wesentlichen Stücke, die Eigenschaften,
und verneinenden Merkmale §. 256. Kein verneinend Urtheil ist ein anschauendes
Urtheil, ob es wohl aus einem anschauenden Urtheile kann hergeleitet werden,
indem die Merkmale, welche denenjenigen entgegen gesetzt sind, die wir in dem
Subjecte empfinden, mit Wahrheit von demselben verneinet werden können
§. 295.

§. 322.

Aus den anschauenden Urtheilen werden allgemeine hergeleitet:
1) Wenn man von allen Dingen einer Art, nach §. 320, ein anschauendes Urtheil
fället, und alsdenn schliesst, dass das Prädicat von der ganzen Art allgemein
bejahet werden könne §. 263. 2) Wenn man aus Einem anschauenden Urtheile
ein allgemeines herleiten will, so a) suche man den höhern Begriff, unter welchen
das Subject gehört, nach §. 259. b) Man suche die Bedingung des anschauenden
Urtheils. c) Man untersuche, ob sie in dem höhern Begriffe schlechterdings
nothwendig, oder zufällig sei. In dem letzten Falle verbinde man sie mit dem
Subjecte, und alsdenn kann man in beiden Fällen das Prädicat allgemein von
dem höhern Begriffe bejahen §. 299.

§. 323.

Die Nachurtheile werden entweder aus der Erfahrung oder aus
der Vernunft demonstrirt §. 319. Jene sind mittelbare Erfahrungen §. 203. 204.
Ein Erfahrungsurtheil ist ein jedes Urtheil, welches durch die Erfahrung gewiss
ist, es mag nun entweder ein anschauendes Urtheil sein §. 319, oder ein Nachurtheil.

§. 324.

Die Nachurtheile erfodern entweder einen kürzern oder einen
längern Beweis §. 319. Jene heissen Zusätze (consectarium, corollarium), und
sie können
 
[91]
  entweder Erwägungs- oder Übungsurtheile sein §. 312. Sie
werden mehrentheils ohne Beweis angeführt, und leicht gefunden, wenn man
einige wenige Erklärungen, unerweisliche Urtheile und andere Wahrheiten mit einander
vergleicht.

§. 325.

Die Nachurtheile, welche einen längern Beweis (entweder aus
der Erfahrung oder aus der Vernunft) erfodern, sind entweder Erwägungsurtheile,
oder Übungsurtheile §. 312. Jene heissen Lehrsätze (theorema), diese aber
Aufgaben (problema).

§. 326.

Wenn man einen Lehrsatz erfinden will, so muss man 1) das
Urtheil erfinden, oder es kann schon bekannt sein; 2) man muss einen längern
Beweis erfinden, folglich a) muss man alle Beweisthümer aufsuchen, es mögen uns
nun dieselben entweder schon bekannt sein, oder man mag sie von andern lernen,
oder erst von neuen erfinden; b) man muss sie in einen deutlichen Zusammenhang
setzen, und c) muss man die Kunst verstehen, einen Beweis aus vielen
Beweisthümern zusammen zu setzen, ohne eine Verwirrung zu verursachen §. 325.

§. 327.

Wer sich, in der Erfindung der Lehrsätze, üben will, der muss
von den leichtern den Anfang machen, und von solchen, die durch die Erfahrung
probirt werden können, damit er seine Fehltritte desto leichter erkenne.

§. 328.

Um der Deutlichkeit willen wird eine Aufgabe in drei Theile zergliedert:
1) Die Frage (quaestio problematis) ist die Vorstellung der Handlung,
welche gethan oder unterlassen werden soll. So ofte wir uns eine Sache vorstellen,
die als eine Würkung betrachtet werden kann, so ofte kann man eine
Frage aufwerfen. 2) Die Auflösung (solutio problematis) zergliedert die Entstehungsart
der Frage. Sie muss also entweder alle Handlungen anführen, woraus
die Frage besteht, oder alle Ursachen, oder beides zugleich, und wenn man
sie finden will, muss man den Gegenstand der Frage logisch erklären. 3) Der

 
[92]
  Beweis der Aufgabe (demonstratio problematis), welcher demonstrirt, dass
durch die Beobachtung der Auflösung die Frage würklich werde. Er setzt demnach
die Auflösung als eine Bedingung voraus, und die ganze Aufgabe kann
wie ein bedingter Lehrsatz angesehen werden §. 305. Die Probe der Aufgabe
(proba, examen problematis) ist dasjenige, wodurch man überzeugt wird, dass
man die Auflösung beobachtet habe.

§. 329.

Wenn man keine Unmöglichkeit in der Frage entdecken kann,
so kann man sich an die Auflösung wagen, und man kann dieselbe entweder
durch die Erfahrung, oder aus der Vernunft und durch die Abstraction, oder
auf eine willkürliche Art erfinden. Wenn man sie durch die Erfahrung finden
will, so muss man 1) bei der Sache zugegen zu sein suchen, wenn sie entsteht,
und sich von der Entstehungsart derselben durch die Erfahrung einen deutlichen
Begriff machen §. 257. 2) Man muss alle Ursachen, und alles, was bei dem
Entstehen vorgeht, genau beobachten, wenn es nämlich in unsere Sinne fällt.
3) Die übrigen Ursachen, und die übrigen Stücke der Entstehung, die nicht in
unsere Sinne fallen, muss man zu errathen suchen, vermittelst des Theils der
Gelehrsamkeit, in dessen Umfang der Gegenstand gehört. 4) Man vergleiche die
Würkung, deren Entstehungsart wir nicht erfahren können, mit einer andern,
die wir durch die Erfahrung auflösen können, und schliesse: dass jene auf eine
ähnliche Art und durch ähnliche Ursachen entstehe.

§. 330.

Wenn man eine Würkung bloss willkürlich annimmt, 1) so muss
man in denen Theilen der Gelehrsamkeit, wohin sie gehört, wohl bewandert
sein, sich von ihr einen deutlichen Begriff machen, und auf alle Kräfte und
Ursachen, die uns bekannt sind, besinnen, ob wir etwa was antreffen, welches
in die Auflösung der Frage gehört. 2) Wenn man viele Handlungen und Ursachen
willkürlich mit einander verknüpft, und Achtung giebt, was herauskommt,
 
[93]
 
so findet man auch manche Auflösungen zu manchen Aufgaben.

§. 331.

Mitten in einem Lehrgebäude geräth man, durch den Verfolg der
Demonstrationen aus der Vernunft, unvermerkt auf viele Auflösungen; und
wenn man die Auflösungen der niedrigern Fragen schon gefunden hat, so darf
man nur ihre Verschiedenheit absondern, so hat man die Auflösung der höhern
Frage, die mag nun von einer abstracten Handlung, oder einer andern abstracten
Würkung reden.

§. 332.

Um der Deutlichkeit der Aufgabe willen, muss man, aus den
deutlichen Begriffen von der Würkung und den in der Auflösung enthaltenen
Ursachen, finden, was eine jedwede Ursach zu der Würkung beitrage.

§. 333.

Um die Kürze der Aufgaben in einem Lehrgebäude zu erhalten,
1) muss man in dem vorhergehenden die Handlungen und Würkungen auflösen,
aus welchen die Handlungen und Würkungen der folgenden Aufgaben zusammengesetzt
sind; zum 2) muss man in dem vorhergehenden diejenigen Handlungen
und Würkungen auflösen, unter welchen die Fragen der folgenden Aufgaben
enthalten sind.

§. 334.

Eine Aufgabe ist 1) wahr (veritas problematis), wenn sie nichts
Unmögliches in sich enthält, folglich wenn die Auflösung der Frage nicht zuwider
ist; 2) vollständig (completum problema), wenn durch die Beobachtung
der Auflösung dasjenige erfolget, wovon die Frage ist; 3) genau (problema
accuratum, adaequatum), wenn sie weder zu wenig noch zu viel in sich enthält.
Und das sind drei Vollkommenheiten der Aufgaben.

§. 335.

Eine Aufgabe ist falsch, 1) wenn die Auflösung schlechterdings
unmöglich ist; 2) wenn die Auflösung in gewisser Absicht unmöglich, z.E.
wenn sie durch die Kräfte der Menschen, oder in gewissen Umständen nicht
möglich ist; 3) wenn die Auflösung zwar würklich werden
 
[94]
  kann, aber zur
Frage nichts beiträgt; 4) wenn sie der Frage sogar widerspricht §. 334.

§. 336.

Eine Aufgabe ist unvollständig, 1) wenn durch die genaueste Beobachtung
der Auflösung der Zweck nicht erreicht wird; 2) wenn man nicht
weiss, wie die Auflösung würklich gemacht werden kann; 3) wenn die Auflösung
nicht in allen Fällen, wo es nöthig ist, ausgeübt werden kann §. 334.

§. 337.

Eine Aufgabe ist nicht genau, wenn sie zwar wahr und vollständig
ist, aber durch Umwege führt, und zu viel in sich enthält §. 334.

§. 338.

Verborgene Eigenschaften (qualitates occultae) sind Beschaffenheiten,
von denen wir keine klare und deutliche Erkenntniss haben, und die
wir ohne genugsamen Grund annehmen. Da sie nun wider die Natur der gelehrten
Erkenntniss streiten §. 21. 168, so ist derjenige, der sie annimmt, entweder
dumm, oder ein Betrüger. Folglich muss man sie alsdenn sonderlich
vermeiden, wenn man die Gründe der Dinge, ihrer Natur und Veränderungen
untersucht, folglich auch bei der Auflösung der Aufgaben.

§. 339.

Ein Lehnurtheil (lemma) ist ein erweisliches Urtheil, welches in
einem Lehrgebäude ohne Beweis angenommen wird, weil es mit seinem Beweise
zu einem andern Lehrgebäude gehört.

§. 340.

Anmerkungen (scholia) sind Urtheile, welche in einem Lehrgebäude
weder Beweisthümer sind, noch bewiesen werden, die aber des mehrern
Nutzens wegen unter die übrigen gemenget worden.

§. 341.

Gleichgültige Urtheile (iudicia aequipollentia*4) sind verschiedene
Urtheile, in denen das logische Verhältniss eines und eben desselben Subjects
und Prädicats einerlei ist. Z.E. nicht alle Menschen sind tugendhaft, einige
Menschen sind nicht tugendhaft; nicht kein Mensch ist gelehrt, einige Menschen
sind gelehrt; alles hat einen Grund, nichts ist ohne Grund. Da nun die Wahrheit
 
[95]
 
und Unrichtigkeit eines Urtheils in dem logischen Verhältnisse angetroffen
wird §. 295. 296, so sind 1) alle übrige gleichgültige Urtheile wahr, wenn
Eins wahr ist; und 2) alle übrige falsch, wenn Eins falsch ist. Die Gleichgültigkeit
der Urtheile hanget von solchen Abänderungen des Urtheils ab, welche
die Wahrheit oder Unrichtigkeit desselben nicht verändern; sonst sind es keine
gleichgültige Urtheile.

§. 342.

Urtheile, welche einerlei Subject, Prädicat und Beschaffenheit
haben, und unter welchen nur Eins allgemein ist, enthalten einander in sich
(iudicia subalternata). Das allgemeine enthält die andern in sich (iudicium
subalternans), und die übrigen werden in ihm enthalten (iudicium subalternatum).
Z.E. alle Menschen können irren, einige Menschen können irren, Ein
Mensch kann irren; kein Mensch ist unsündlich, einige Menschen sind nicht
unsündlich, Ein Mensch ist nicht unsündlich. 1) Wenn das allgemeine Urtheil
wahr, so sind auch diejenigen wahr, die in ihm enthalten sind, aber nicht umgekehrt;
2) wenn die Urtheile falsch sind, die in dem allgemeinen enthalten
sind, so ist auch das allgemeine falsch, aber nicht umgekehrt §. 302.

§. 343.

Urtheile widersprechen einander (iudicia contradictoria), deren
das eine accurat verneinet, was das andere bejahet. Z.E. die Urtheile A und
O, desgleichen E und I widersprechen einander, wenn sie ein und eben dieselben
Subjecte und Prädicate haben §. 301. 341. Da nun ein jeder Begriff
einem jedweden andern Begriffe entweder zukommt, oder nicht: denn
es kann gar nicht gedacht werden, dass beides zugleich oder keins von beiden
sein könne; so ist unter allen widersprechenden Urtheilen entweder das bejahende
wahr, und das verneinende falsch, oder das verneinende wahr und das bejahende
falsch §. 295. Folglich kann man 1) von der Wahrheit des einen unter widersprechenden
Urtheilen, auf die Unrichtigkeit des
 
[96]
  andern; und 2) von der
Unrichtigkeit des einen auf die Wahrheit des andern schliessen.

§. 344.

Wenn ein Urtheil besonders bejahet, was das andere besonders
verneinet, so sind sie auf eine besondere Art einander entgegengesetzt (iudicia
subcontraria). Folglich die Urtheile I und O, wenn sie einerlei Subjecte
und Prädicate haben. 1) Diese Urtheile können zugleich wahr sein. Denn da
ihr Prädicat in Absicht auf das Subject ein besonderer Begriff sein kann
§. 262; so lässt er sich von demselben mit Wahrheit besonders bejahen und
verneinen §. 295. 2) Diese Urtheile können niemals beide zugleich falsch sein.
Denn wenn I und O falsch sind, so sind auch A und E falsch §. 342. Folglich
könnten A und O, E und I, die einerlei Prädicate und Subjecte haben, zu
gleicher Zeit falsch sein, welches unmöglich ist §. 343.

§. 345.

Wenn ein Urtheil allgemein bejahet, was das andere allgemein
verneinet, folglich wenn A und E einerlei Subject und Prädicat haben, so sind
sie auf eine allgemeine Art einander entgegengesetzt (iudicia contraria).
1) Diese Urtheile können beide falsch sein. Denn ihr Prädicat kann in Absicht
auf das Subject ein besonderer Begriff sein §. 262. Folglich kann es von ihm
weder allgemein bejahet, noch allgemein verneinet werden §. 302. 2) Diese Urtheile
können nicht beide wahr sein. Denn wenn A und E wahr wären, so
wären auch I und O wahr §. 342. Folglich könnten A und O, desgleichen E
und I, ob sie gleich einerlei Subject und Prädicat hätten, zugleich wahr sein,
und das ist unmöglich §. 343.

§. 346.

Diejenige Veränderung, vermöge welcher aus dem Subjecte eines
Urtheils das Prädicat, und aus dem Prädicate das Subject gemacht wird, heisst
die Umkehrung eines Urtheils (conversio iudicii). Das Urtheil, mit welchem
die Veränderung vorgeht, heisst das umgekehrte (iudicium conversum), und
welches daher
 
[97]
  entsteht, das umkehrende Urtheil (iudicium convertens).
Bei der Umkehrung wird entweder die Grösse des Urtheils geändert, oder nicht.
In dem ersten Falle geschiehet die Umkehrung zufälliger Weise (conversio
per accidens), in dem andern aber schlechtweg (conversio simplex). In so ferne
ein wahres Urtheil nach der Umkehrung auch wahr bleibt, in so ferne kann es
umgekehrt werden (iudicium converti potest, iudicium reciprocabile).

§. 347.

Alle bejahende Urtheile, deren Subject und Prädicat Wechselbegriffe
sind, können schlechtweg umgekehrt werden, es mögen nun allgemeine
oder einzelne Urtheile sein. Denn das Subject kommt auch allen unter dem
Prädicate enthaltenen zu §. 262. Folglich kann es von dem Prädicate allgemein
bejahet werden §. 302. 346. Z.E. die Urtheile, welche die Erklärung von dem
erklärten Begriffe, und die Glieder der Eintheilung, unter einer Disjunction zusammengenommen,
von dem eingetheilten Begriffe bejahen §. 270. 287.

§. 348.

Alle wahren besonders bejahenden Urtheile können schlechtweg
umgekehrt werden. Denn der abstracte Begriff des Subjects kommt den einigen
unter ihm enthaltenen zu §. 260, und kann also von ihnen besonders bejahet
werden §. 295. Und da das Prädicat einigen unter dem Subjecte enthaltenen
zukommt §. 295, so kann es als ihr höherer Begriff §. 260 zum Subjecte angenommen
werden. Folglich kann das vorige Subject von dem vorigen Prädicate
besonders bejahet werden §. 346.

§. 349.

Ein allgemein verneinendes Urtheil kann 1) schlechtweg umgekehrt
werden. Widrigenfalls müsste das Subject nicht allen unter dem Prädicate
enthaltenen zuwider sein §. 302, folglich müsste es einigen derselben zukommen
§. 343. Folglich müsste auch das Prädicat einigen unter dem Subjecte enthaltenen
zukommen §. 348. Folglich wäre das allgemein verneinende Urtheil
falsch
 
[98]
  §. 302, welches ungereimt ist; 2) zufälliger Weise. Denn da es
schlechtweg umgekehrt werden kann, so ist auch das besondere Urtheil wahr,
welches in dem allgemeinen umkehrenden Urtheile enthalten ist §. 342, und
durch dasselbe wird es zufälliger Weise umgekehrt §. 346.

§. 350.

Alle allgemein bejahenden Urtheile können zufälliger Weise
umgekehrt werden. Denn wenn sie wahr sind, so sind auch die in ihnen enthaltenen
besonders bejahenden Urtheile wahr §. 342. Diese können schlechtweg
umgekehrt werden §. 348, und eben dadurch werden die allgemeinen zufälliger Weise
umgekehrt §. 346.

§. 351.

Wenn man in den besonders verneinenden Urtheilen, die
Verneinung zum Prädicate setzt, so werden sie besonders bejahende
Urtheile §. 249, und können also alsdenn schlechtweg umgekehrt werden §. 348.

§. 352.

Ein allgemein bejahendes Urtheil wird contraponirt (contrapositio),
wenn man sein Prädicat in einen verneinenden Begriff verwandelt, und
das vorige Subject von demselben allgemein verneinet. Alle wahren allgemein
bejahenden Urtheile können contraponirt werden, das ist, wem ihr Prädicat
nicht zukommt, denen kommt auch ihr Subject nicht zu. Widrigenfalls müsste
einigen Dingen das Prädicat zuwider sein, und das Subject zukommen §. 343.
Man könnte also von einigen unter dem Subjecte enthaltenen das Prädicat mit
Wahrheit verneinen §. 295. Also wäre das allgemein bejahende Urtheil falsch
§. 302, und das ist ungereimt.

Der zehnte Abschnitt,
von den gelehrten Vernunftschlüssen.


§. 353.

Wenn einige wahre Urtheile den hinreichenden Grund der Wahrheit
eines andern enthalten, so sind sie mit einander verbunden §. 15, und in
diesem Verhältnisse wahrer
 
[99]
  Urtheile bestehet der Zusammenhang der Wahrheiten
(nexus veritatum).

§. 354.

Ein Vernunftschluss (ratiocinium) ist eine deutliche Vorstellung
des Zusammenhangs der Wahrheiten; welcher, wenn er in einem höhern Grade
vollkommen ist, ein gelehrter, oder ein logischer Vernunftschluss genennet
wird (ratiocinium logicum, eruditum).

§. 355.

In einem Vernunftschlusse leiten wir eine Wahrheit aus andern
Wahrheiten her §. 353. 354. Und da also diese andern Wahrheiten die Beweisthümer
der erstern sind §. 191, so machen wir einen Vernunftschluss, wenn wir
eine Wahrheit aus ihren Beweisthümern deutlich herleiten. Folglich ist, die
deutliche Vorstellung der Folge eines Beweises, ein Vernunftschluss §. 191.

§. 356.

Dasjenige Urtheil, welches in einem Vernunftschlusse aus andern
hergeleitet wird, ist das Schlussurtheil (conclusio, probandum, principiatum).
Diejenigen Urtheile aber, aus welchen das Schlussurtheil hergeleitet wird, sind
die Vorderurtheile (praemissae, data, sumtiones, principia).

§. 357.

Die Subjecte und Prädicate der Urtheile, aus denen ein Vernunftschluss
besteht, heissen die Hauptbegriffe eines Vernunftschlusses (termini).
Das Subject des Schlussurtheils, ist der kleinere Hauptbegriff (terminus minor),
sein Prädicat aber, der grössere Hauptbegriff (terminus maior). Der Hauptbegriff,
welcher, ausser dem kleinern und grössern, in den Vorderurtheilen angetroffen
wird, heisst der mittlere Hauptbegriff (terminus medius).

§. 358.

Da die Vorderurtheile den Beweisthum des Schlussurtheils enthalten
§. 355. 356, in denenselben aber, ausser den Theilen des Schlussurtheils,
nichts weiter enthalten ist als der mittlere Hauptbegriff §. 357; so ist derselbe
der Beweisthum §. 191, folglich die Bedingung des Schlussurtheils §. 297.
Man findet also den mittlern
 
[100]
  Hauptbegriff nach der Anleitung des 297
und 298sten Absatzes; und ein Vernunftschluss bestehet darin, wenn wir ein
Urtheil aus seiner Bedingung auf eine deutliche Art herleiten §. 355.

§. 359.

Die Materie des Vernunftschlusses (ratiocinii materia) bestehet
in den Vorderurtheilen desselben, seine Form aber (ratiocinii forma) in
der Folge des Schlussurtheils aus den Vorderurtheilen.

§. 360.

Ein richtiger Vernunftschluss (ratiocinium verum) muss sowohl
in der Materie, als auch in der Form richtig sein §. 359. 355. 193. Wenn
also entweder die Materie falsch ist, oder die Form, oder beides zu gleicher
Zeit, so ist es ein falscher, unrichtiger Vernunftschluss (ratiocinium falsum).
Ein irriger Vernunftschluss (ratiocinium erroneum) ist ein falscher Vernunftschluss,
in so ferne er für einen richtigen gehalten wird §. 109. Aus §. 193
und 194 erhellet, wenn ehe ein Vernunftschluss eine demonstrativische Gewissheit
hat, oder nicht.

§. 361.

Weil die Folge in einem jedweden Vernunftschlusse deutlich sein
muss §. 355, keine Deutlichkeit aber ohne Ordnung möglich ist §. 142; so müssen
die Urtheile eines Vernunftschlusses gehörig zusammengeordnet werden. Da
nun keine Ordnung ohne Regeln möglich ist, so sind gewisse Regeln zu schliessen
nöthig, nach welchen ein Vernunftschluss eingerichtet werden muss, wenn er
eine richtige und deutliche Folge haben soll.

§. 362.

Es ist unmöglich, dass etwas zu gleicher Zeit sei, und nicht
sei. Oder, wenn von einem Dinge ein und eben dasselbe zu gleicher Zeit bejahet
oder verneinet wird, so ist es Nichts. Dieser Satz heisst der Satz des
Widerspruchs (principium contradictionis), und er ist das erste innerliche Kennzeichen
der Wahrheit §. 95, auf welchem alle Folgen der Vernunftschlüsse
beruhen müssen, wenn sie wahr sein sollen §. 361.

 
[101]
 

§. 363.

Was von einem Begriffe mit Wahrheit allgemein bejahet
oder verneinet werden kann, das kann auch mit Wahrheit von einem jedweden
andern Begriffe bejahet oder verneinet werden, welcher unter jenen
gehört §. 342. Widrigenfalls müssten zwei widersprechende Urtheile zugleich
wahr sein §. 343, und das ist wider den Satz des Widerspruchs §. 362. Dieser
Satz wird, der Schluss von dem Allgemeinen auf das Besondere, genannt
(dictum de omni et nullo).

§. 364.

Wenn der hinreichende Grund wahr ist, so ist auch seine
Folge wahr, widrigenfalls wäre, der hinreichende Grund, kein hinreichender
Grund §. 15, welches wider §. 362. Folglich, wenn die Folge falsch ist, so
ist auch der hinreichende Grund falsch, weil sonst der hinreichende Grund
ohne Folge sein könnte. Dieser Schluss heisst, der Schluss von dem hinreichenden
Grunde auf seine Folge (a ratione sufficiente ad rationatum valet
consequentia).

§. 365.

Wenn eins unter widersprechenden Urtheilen wahr ist, so ist
das andere falsch; und wenn das eine falsch ist, so ist das andere wahr
§. 343. 362. Dieser Satz heisst: der Schluss vom Gegentheil (ab uno oppositorum
ad alterum valet consequentia).

§. 366.

Wenn ein Urtheil wahr ist, so muss auch dasjenige wahr sein,
welches durch eine logische Veränderung des ersten entstanden ist, die der
Wahrheit unbeschadet vorgenommen werden kann. Widrigenfalls müsste
die logische Veränderung der Wahrheit nachtheilig sein, und nicht nachtheilig
sein, welches unmöglich ist §. 362. Dieser Schluss heisst: der Schluss von der
logischen Veränderung eines wahren Urtheils.

§. 367.

Ein ordentlicher Vernunftschluss (ratiocinium ordinarium) ist
ein Vernunftschluss, in welchem
 
[102]
  von dem Allgemeinen auf das Besondere
geschlossen wird §. 363. Zum Exempel: alle Tugenden tragen etwas zu meiner
Glückseligkeit bei; nun sind alle philosophische Tugenden Tugenden, also
tragen alle philosophische Tugenden etwas zu meiner Glückseligkeit bei. Alle
übrige Vernunftschlüsse sind ausserordentliche Vernunftschlüsse (ratiocinium
extraordinarium).

§. 368.

Alle ordentliche Vernunftschlüsse haben zwei Vorderurtheile, die
den mittlern Hauptbegriff mit einander gemein haben §. 367. Dasjenige Vorderurtheil
in denselben, welches den grössern Hauptbegriff enthält, heisst der
Obersatz der ordentlichen Vernunftschlüsse (propositio maior ratiociniorum
ordinariorum); welches aber den kleinern Hauptbegriff enthält, der Untersatz
derselben (propositio minor).

§. 369.

Diejenige Gattung der ordentlichen Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Subjecte des Obersatzes und in dem Prädicate
des Untersatzes steht, heisst die erste Figur (figura prima ratiociniorum).
Zum Exempel: alle Menschen können irren; die Gelehrten sind Menschen, also
können die Gelehrten irren. In dieser Figur hat der Untersatz und der Schlusssatz
Ein Subject §. 368. Folglich haben diese beiden Urtheile allemal einerlei
Grösse §. 301.

§. 370.

Diejenige Gattung der ordentlichen Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Prädicate beider Vorderurtheile steht, heisst
die andere Figur (figura secunda). Z.E. keine ungereimte Sache ist wahr, alles
was in der Bibel steht ist wahr; also ist nichts, was in der Bibel steht, ungereimt.

§. 371.

Diejenige Gattung der ordentlichen Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Subjecte beider Vorderurtheile steht, heisst die
dritte Figur (figura tertia). Zum Exempel: alle Gelehrte haben einen verbesserten
Verstand, einige Gelehrte sind lasterhaft;
 
[103]
  also haben einige Lasterhafte
einen verbesserten Verstand.

§. 372.

Diejenige Gattung der ordentlichen Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Prädicate des Obersatzes, und in dem Subjecte
des Untersatzes steht, heisst die vierte, oder die galenische Figur (figura
quarta, galenica). Zum Exempel: kein dummer Mensch ist gelehrt, einige Gelehrte
sind fromm; also sind einige Fromme keine dummen Leute.

§. 373.

Die Figuren der Vernunftschlüsse (figurae ratiociniorum), sind
demnach verschiedene Gattungen ordentlicher Vernunftschlüsse, welche aus der
verschiedenen Zusammenordnung des mittlern Hauptbegriffs mit den übrigen
Hauptbegriffen in den Vorderurtheilen entstehen; und es giebt nicht mehr als
vier Figuren §. 369. 372.

§. 374.

Aus dem Schlusse von dem Allgemeinen auf das Besondere §. 363,
fliessen folgende Regeln aller ordentlichen Vernunftschlüsse: 1) In einem ordentlichen
Vernunftschlusse können nicht mehr noch weniger Hauptbegriffe enthalten
sein, als drei. Ein solcher Schluss enthält nur drei Urtheile, folglich
nur sechs Stellen für die Hauptbegriffe §. 368. 357. Nun enthält er 1) einen
Hauptbegriff, von welchem etwas allgemein bejahet oder verneinet wird, und von
welchem in dem andern Vorderurtheile gesagt wird, dass ein anderer Begriff
zu ihm gehöre. Er kommt also zweimal vor, weil er der mittlere Hauptbegriff
ist §. 368. 2) Der kleinere Hauptbegriff kommt in dem Schlussurtheile und dem
Untersatze vor §. 357. 368; und 3) der grössere Hauptbegriff in dem Schlussurtheile
und dem Obersatze §. 357. 368.

§. 375.

2) Der mittlere Hauptbegriff muss nicht in das Schlussurtheil
gesetzt werden. Denn in den ordentlichen Vernunftschlüssen wird der grössere
Hauptbegriff von dem kleinern in dem Schlusssatze bejahet oder verneinet,
 
[104]
 
weil nach Aussage der Vorderurtheile der kleinere Hauptbegriff zu dem mittlern
gehört, von welchem der grössere bejahet oder verneinet werden kann §. 364.
Folglich kann der Schlusssatz nur aus dem kleinern und grössern Hauptbegriffe
bestehen.

§. 376.

3) Die Vorderurtheile dürfen nicht insgesammt verneinen, denn
Eins muss bejahen, dass der kleinere oder grössere Hauptbegriff mit dem mittlern
verbunden sei §. 363, oder aus lauter verneinenden Vorderurtheilen folget nichts,
ob gleich aus lauter bejahenden etwas folgt. Wenn der mittlere Hauptbegriff
ein verneinender Begriff ist, so ist wenigstens ein Vorderurtheil bloss unendlich
§. 294, und alsdenn scheint es bloss, als wenn alle Vorderurtheile verneinten.

§. 377.

4) Die Vorderurtheile dürfen nicht insgesammt besondere Urtheile
sein; sonst würde man nicht von dem Allgemeinen aufs Besondere
schliessen §. 363, oder aus lauter besondern Vorderurtheilen folgt nichts, ob gleich
aus lauter allgemeinen etwas folgen kann.

§. 378.

5) Wenn ein Vorderurtheil verneint, so muss auch das Schlussurtheil
verneinen: denn alsdenn richtet sich der Vernunftschluss nach dem
verneinenden Theile des Schlusses vom Allgemeinen aufs Besondere §. 363, und
er muss also ein verneinendes Schlussurtheil haben.

§. 379.

6) Wenn ein Vorderurtheil ein besonderes Urtheil ist, so muss
auch das Schlussurtheil ein besonderes sein; denn alsdenn schliesst man:
weil einige Dinge von einer Art zu demjenigen Begriffe gehören, von welchem
etwas allgemein bejahet oder verneinet wird, so kann dieses auch von dem
einigen bejahet oder verneinet werden §. 363.

§. 380.

7) Das Schlussurtheil richtet sich allemal nach dem schwächern
Theile des Vernunftschlusses: denn die verneinenden und besondern Vorderurtheile
 
[105]
 
werden der schwächere Theil des Vernunftschlusses genannt (pars
ratiocinii debilior) §. 378. 379.

§. 381.

8) In dem Schlussurtheile muss nicht weniger enthalten sein,
als in den Vorderurtheilen. Denn sonst würden der kleinere und grössere
Hauptbegriff in dem Schlussurtheile weniger in sich enthalten, als in den Vorderurtheilen,
und es würden also in dem Vernunftschlusse mehr als drei Hauptbegriffe
angetroffen werden §. 374.

§. 382.

9) In dem Schlussurtheile muss nicht mehr enthalten sein,
als in den Vorderurtheilen. Sonst würde der kleinere und grössere Hauptbegriff
in dem Schlussurtheile mehr enthalten, als in den Vorderurtheilen, und es wären
also mehr als drei Hauptbegriffe in dem Vernunftschlusse §. 374.

§. 383.

Ausser diesen Regeln müssen in der ersten Figur noch zwei Regeln
beobachtet werden: 1) Der Untersatz muss in der ersten Figur allemal bejahen.
Denn da er zu seinem Subjecte, das Subject des Schlusssatzes, hat
§. 369, so bejahet er von demselben, dass es zu dem mittlern Hauptbegriffe
gehöre §. 363. Ist der mittlere Hauptbegriff verneinend, so ist der
Untersatz unendlich §. 376, und also doch ein bejahendes Urtheil §. 294.

§. 384.

2) Der Obersatz muss in der ersten Figur allemal allgemein
sein. Denn, ist der Schlusssatz allgemein, so kann der Obersatz nur allgemein sein
§. 379; ist er aber ein besonderes Urtheil, so ist der Untersatz auch dergleichen
§. 369, und also muss der Obersatz abermals allgemein sein §. 377. Weil die
einzeln Urtheile zu den allgemeinen gehören §. 301, so machen sie keine
Ausnahme von den Regeln, welche die Allgemeinheit der Urtheile eines Vernunftschlusses
fodern.

§. 385.

Die Arten der ordentlichen Vernunftschlüsse (modi ratiociniorum
ordinariorum), sind verschiedene Arten der Vernunftschlüsse einer Figur,
welche
 
[106]
  aus der verschiedenen Beschaffenheit und Grösse der Urtheile eines
Vernunftschlusses entstehen.

§. 386.

Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur allgemein bejahet, so bejahet
auch §. 383. 378 allgemein §. 379. 369 der Untersatz, und der Obersatz muss
auch bejahen §. 378 und allgemein sein §. 384. 379. Die Art der Vernunftschlüsse
in der ersten Figur, deren Schlusssatz allgemein bejahet, heisst
Barbara, z.E. alle Wahrheiten sind nützlich, alle philosophische Wahrheiten
sind Wahrheiten; also sind alle philosophische Wahrheiten nützlich.

§. 387.

Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur allgemein verneinet,
so muss der Untersatz allgemein §. 369. 379 bejahen §. 383, und der Obersatz
allgemein §. 384. 379 verneinen §. 380. Die Art der Vernunftschlüsse in der
ersten Figur, die einen allgemein verneinenden Schlusssatz haben, heissen Celarent,
z.E. kein Laster macht mich vollkommener, aller Hochmuth ist ein Laster; also
macht mich kein Hochmuth vollkommener.

§. 388.

Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur besonders bejahet, so
muss der Untersatz besonders §. 369. 380 bejahen §. 383. 378, und der Obersatz
allgemein §. 384. 377 bejahen §. 378. Die Art der Vernunftschlüsse in
der ersten Figur, deren Schlusssatz besonders bejahet, heisst Darii, z.E. alle
beharrlich Ungläubige werden verdammt, einige Gelehrte sind beharrlich Ungläubige;
also werden einige Gelehrte verdammt.

§. 389.

Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur besonders verneinet, so
muss der Untersatz besonders §. 369 bejahen §. 383, und der Obersatz allgemein
§. 384. 377 verneinen §. 380. Die Art der Vernunftschlüsse in der ersten Figur,
deren Schlusssatz besonders verneinet, heisst Ferio; z.E. keine gute Handlung
wird von GOtt gestraft, einige blosse Naturwerke der Menschen sind gute Handlungen;
also werden einige blosse Naturwerke der
 
[107]
  Menschen von GOtt nicht
gestraft. In der ersten Figur sind nur vier Arten der Vernunftschlüsse möglich
§. 385-388.

§. 390.

Alle wahre Urtheile, welche in ordentlichen Vernunftschlüssen
Schlussurtheile sein können, sind e[n]tweder A oder E, oder I oder O §. 301.
Folglich können, in der ersten Figur, alle diese Urtheile geschlossen werden
§. 386-389, und deswegen wird sie eine vollkommene Figur genannt. Daher
sind die übrigen Figuren nicht nöthig.

§. 391.

Wenn man wider die bisherigen Regeln zu schliessen Vernunftschlüsse
macht, deren Vordersätze und Schlusssätze richtig sind; so folgen die
letztern aus den erstern nicht nothwendig, sondern sie sind nur zufälliger Weise
wahr. Solche Schlüsse sind also, keine Einwürfe wider die Richtigkeit dieser Regeln.

§. 392.

Ein bedingter Vernunftschluss (ratiocinium hypotheticum, conditionale,
connexum) ist ein Vernunftschluss, welcher von dem hinreichenden
Grunde auf die Folge schliesst §. 364. Da nun in keiner Art der Urtheile die
Folge eines Urtheils aus seiner Bedingung bejahet wird, als in den bedingten
§. 305; so haben diese Vernunftschlüsse ein bedingtes Vorderurtheil, welches
ihr Obersatz genennet wird. Es muss derselbe eine richtige Folge haben §. 306,
sonst schliesst man von dem Stocke im Winkel (argumentum a baculo ad
angulum).

§. 393.

In einem bedingten Vernunftschlusse schliesst man entweder
1) von der Richtigkeit des erstern auf die Richtigkeit des letztern §. 364. 305.
Alsdenn bejahet der Untersatz, dass das erste wahr, und der Schlusssatz, dass
das letzte wahr (modus ratiociniorum hypotheticorum ponens). Zum Exempel:
wenn eine Vorsehung GOttes ist, so sind alle ängstliche Sorgen vergeblich; nun ist
das erste wahr, also auch das letzte; Oder 2) von der Unrichtigkeit des letztern
auf die Unrichtigkeit des erstern §. 364. 305. Alsdenn bejahet der Untersatz
die Unrichtigkeit des letztern, und der Schlusssatz die Unrichtigkeit des erstern

 
[108]
  (modus ratiociniorum hypotheticorum tollens), z.E. wenn ein blindes
Schicksal ist, so giebt es keine freie Handlungen; nun ist das letzte falsch, also
auch das erste.

§. 394.

Weil eine Sache mehrere hinreichende Gründe haben kann, so
kann man in den bedingten Vernunftschlüssen weder allemal von der Unrichtigkeit
des ersten auf die Unrichtigkeit des letzten, noch von der Richtigkeit
des letzten auf die Richtigkeit des ersten schliessen §. 305.

§. 395.

Die disjunctiven Vernunftschlüsse (ratiocinium disiunctivum) sind
Vernunftschlüsse, welche von einem Gegentheile auf das andere schliessen §. 365.
Folglich enthalten sie einen disjunctiven Vordersatz, welcher ihr Obersatz genennet
wird §. 307. Wenn derselbe einer der §. 308 erwiesenen Regeln zuwider ist,
so hat er keine Folge, und der disjunctive Vernunftschluss ist in der Form
unrichtig §. 360.

§. 396.

In den disjunctiven Vernunftschlüssen wird, entweder 1) von der
Richtigkeit Eines Gliedes der Disjunction, auf die Unrichtigkeit der übrigen geschlossen
§. 395. 365. Alsdenn muss der Untersatz ein Glied für wahr ausgeben,
und der Schlusssatz die übrigen für falsch (modus ratiociniorum disiunctivorum
ponendo tollens). Z.E. die Materie kann entweder denken oder nicht, nun ist
das andere wahr, also ist das erste falsch; oder 2) von der Unrichtigkeit aller
Glieder ausser Einem auf die Richtigkeit dieses Einen §. 395. 365. Alsdenn
muss in dem Untersatze von allen Gliedern ausser Einem bejahet werden, dass
sie falsch sind, und in dem Schlusssatze von diesem Einen, dass es wahr sei
(modus ratiociniorum disiunctivorum tollendo ponens). Zum Exempel: die Materie
kann entweder denken oder nicht; nun ist das erste falsch, also ist das andere wahr.

§. 397.

Ein Dilemma (ratiocinium cornutum, crocodillinum, dilemma,
trilemma etc.) ist ein bedingter Vernunftschluss, dessen letzteres ein disjunctives
Urtheil ist,
 
[109]
  in welchem alle Glieder falsch sind. Das bedingte Urtheil,
dessen letzteres disjunctiv ist, ist der Obersatz; der Untersatz bejahet, dass das
letztere insgesammt falsch ist, und der Schlusssatz bejahet, dass das erste falsch
sei. Ein Dilemma muss also, den Regeln der bedingten und der disjunctiven
Vernunftschlüsse zu gleicher Zeit gemäss sein §. 392. 393. 395. Zum Exempel:
wenn diese Welt nicht die beste wäre, so wäre entweder keine beste Welt
möglich, oder GOtt hätte keine Kenntniss von derselben gehabt, oder er hätte
sie nicht schaffen können, oder er hätte sie nicht schaffen wollen; nun ist das
letzte insgesammt falsch, also auch das erste.

§. 398.

Die Vernunftschlüsse, welche von der logischen Veränderung eines
Urtheils, auf das durch die Veränderung entstandene Urtheil schliessen, heissen
die unmittelbaren Folgerungen (consequentia immediata) §. 366. Zum Exempel:
alle Menschen können irren, also können auch einige Menschen irren; oder, es
ist ein GOtt, also ist falsch, dass kein GOtt sei.

§. 399.

Ein Vernunftschluss ist entweder so beschaffen, dass seine richtige
Form offenbar ist, oder sie ist versteckt: jener ist ein förmlicher Vernunftschluss
(ratiocinium formale), dieser aber ein versteckter (ratiocinium crypticum),
welcher also in der Form unrichtig zu sein scheinen kann. Um die
logische Kunst zu verbergen, und die Pedanterei zu vermeiden, sind die versteckten
Vernunftschlüsse anzupreisen.

§. 400.

Zu den versteckten Vernunftschlüssen gehören vornehmlich die
verstümmelten Vernunftschlüsse (enthymema), in welchem ein Urtheil ausgelassen
wird, das ist, nicht so deutlich als die übrigen gedacht wird, weil es ganz
gewiss und jemanden so geläufig ist, dass es ihm alsobald einfällt. Z.E. alle
Menschen können irren, also kann ich auch irren.

 
[110]
 

§. 401.

Zu den verstümmelten Vernunftschlüssen gehören 1) die zusammengezogene
Vernunftschlüsse (ratiocinium contractum), wenn man zum
Schlusssatze bloss den mittlern Hauptbegriff hinzu thut, doch so, dass er kein bedingtes
Urtheil wird. Zum Exempel: diese Welt ist die beste, weil sie von GOtt erwählt
worden. 2) Die Zergliederungsschlüsse (inductio), welche folgenden
Obersatz zum Grunde legen, ihn aber auslassen: was von einem jedweden
niedrigern Begriffe bejahet oder verneinet werden kann, das kann von
ihrem höhern Begriffe allgemein bejahet oder verneinet werden §. 263. Wenn in
dem Untersatze alle niedrigere Begriffe angeführt werden, so ist es ein ausführlicher
Zergliederungsschluss (inductio completa). Zum Exempel: die erste Person der
Gottheit ist GOtt, die andere auch, die dritte auch; also sind alle Personen der
Gottheit GOtt. 3) Die Exempelschlüsse (exemplum in ratiociniis), wenn man
dasjenige, was man von einem niedrigern Begriffe bejahet oder verneinet um
seines höhern Begriffs willen, von einem andern niedrigern Begriffe, der zu eben demselben
höhern Begriffe gehört, bejahet oder verneinet. Zum Exempel: die
Menschen können sündigen, also können auch alle heilige Engel sündigen.

§. 402.

Ein Vernunftschluss, welcher in der Form unrichtig ist (paralogismus),
wenn sein Fehler versteckt ist, wird ein Betrugschluss genennet
(sophisma, fallacia, captio).

§. 403.

Ein Betrugschluss kann entstehen: 1) wenn wir getrennte Dinge
auf eine unrichtige Art verknüpfen, und verknüpfte Dinge auf eine unrichtige
Art trennen (sophisma sensus$b compositi et divisi). Zum Exempel: wo drei Thaler
sind, da sind zwei Thaler; nun machen drei und zwei Thaler fünf Thaler aus,
also wo drei Thaler sind, da sind fünf Thaler. 2) Wenn ein Hauptbegriff auf
eine zweifache Weise genommen wird (sophisma figurae
 
[111]
  dictionis). Zum
Exempel: ein Weltweiser ist eine Gattung der Gelehrten, Leibniz ist ein Weltweiser,
also ist Leibniz eine Gattung der Gelehrten.

§. 404.

3) Wenn man einen Hauptbegriff einmal mit einer Einschränkung
und das anderemal ohne Einschränkung nimmt (fallacia accidentis, seu a dicto
secundum quid ad dictum simpliciter, aut vice versa). Z.E. wer da sagt, du
seist ein Thier, der redet die Wahrheit; wer nun sagt, du seist ein Esel, der
sagt, du seist ein Thier, also redet er die Wahrheit. 4) Wenn man einen unrechten
mittlern Hauptbegriff annimmt (fallacia medii). Z.E. wer blass aussieht,
studirt fleissig; nun sieht Cajus blass aus, also studirt er fleissig.

§. 405.

5) Wenn man das Urtheil, welches man bewiesen hat, für
dasjenige hält, welches man beweisen sollen (sophisma heterozeteseos). Zum
Exempel: wenn man die Unsterblichkeit der Seele beweisen soll, und man beweiset
ihre Unverweslichkeit. 6) Wenn man das Urtheil, welches man widerlegt
hat, für dasjenige hält, was man widerlegen sollte (sophisma ignorationis
elenchi). Z.E. wenn man wider denjenigen, welcher behauptet, dass die Seele
sterben könne, beweiset, dass sie ewig lebe. 7) Wenn ein zusammengesetztes
Urtheil bloss als ein einfaches in einem Vernunftschlusse angesehen wird (sophisma
polyzeteseos). Z.E. es ist entweder wahr, dass die Hunde allein unter allen
vierfüssigen Thieren Vernunft haben, oder es ist nicht wahr; ist das erste, so
haben die Hunde Vernunft, ist das letzte, so haben alle vierfüssige Thiere
Vernunft.

§. 406.

Ein Vernunftschluss besteht entweder aus mehrern Vernunftschlüssen,
oder nur aus Einem. Dieser ist ein einfacher (ratiocinium simplex,
probatio simplex), jener aber ein zusammengesetzter Vernunftschluss (ratiocinium
compositum). Wenn ein Vernunftschluss zusammengesetzt ist, so hängen
die mehrern Vernunftschlüsse,
 
[112]
  aus denen er besteht, entweder zusammen
oder nicht §. 353. In dem letzten Falle ist es ein ratiocinium copulatum, z.E.
alle Geister sind unsterblich, GOtt und alle menschliche Seelen sind Geister,
also sind sie unsterblich. In dem ersten Falle ist der Vordersatz des einen
der Schlusssatz des andern, und es wird eine Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse
genannt (ratiocinatio polysyllogistica, probatio composita). Zum Exempel:
was den Naturgesetzen gemäss ist, macht mich vollkommener, die Tugend ist
den Naturgesetzen gemäss, also macht mich die Tugend vollkommener; was
mich vollkommener macht, dazu bin ich verbunden, die Tugend macht mich
vollkommener, also bin ich zu ihr verbunden.

§. 407.

In einer Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse kommen nicht nur
welche vor, deren Schlusssätze Vordersätze anderer sind, sondern auch solche,
deren Vordersätze Schlusssätze anderer sind §. 406. Jene heissen Vorschlüsse (prosyllogismus),
und diese Nachschlüsse (episyllogismus). Und einige Urtheile
kommen in einer solchen Reihe zweimal vor §. 406.

§. 408.

Damit man in einer langen Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse
alle Verwirrung vermeide, so 1) theile man einen langen Beweis in viele Theile,
indem man die vornehmsten Vordersätze, als besondere Lehrsätze, besonders beweiset.
2) Man verknüpfe nicht lauter ordentliche und förmliche Vernunftschlüsse
mit einander. 3) Man beweise entweder nur die Obersätze der Vorschlüsse,
oder nur ihre Untersätze. 4) Man leite die Schlusssätze aus zusammengezogenen
Vernunftschlüssen her §. 401 (epicherema). 5) Man lasse alle Urtheile,
die zweimal vorkommen §. 407, weg, und das wird ein gehäufter Vernunftschluss
genannt (sorites). Z.E. die Tugend ist den Naturgesetzen gemäss,
was den Naturgesetzen gemäss, das macht mich vollkommener, was mich vollkommener
macht, dazu bin ich verbunden; also bin ich zur Tugend verbunden.

 
[113]
 

§. 409.

Wenn die Vernunftschlüsse, aus denen der gehäufte Vernunftschluss
besteht, aus der ersten Figur sind, und die Untersätze der Nachschlüsse
weggelassen werden, so ist es ein gemeiner gehäufter Vernunftschluss
(sorites communis). Z.E. das vorhin angeführte Beispiel. Besteht er
aber aus lauter bedingten Vorsätzen, so heisst er ein bedingter (sorites hypotheticus).
Z.E. wenn der Mensch einen eingeschränkten Verstand hat, so hat
er verworrene Vorstellungen; wenn er verworrene Vorstellungen hat, so kann
er irren; wenn er irren kann, so kann er sündigen: also, wenn der Mensch einen
eingeschränkten Verstand hat, so kann er sündigen.

§. 410.

Wenn in einer Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse Ein oder
mehrere Urtheile ausgelassen werden, so wird ein Sprung im Beweise begangen
(saltus in probando). Die ausgelassenen Urtheile sind entweder demjenigen,
der durch den Beweis überzeugt werden soll, gewiss, und fallen ihm leichte ein;
oder nicht. In dem ersten Falle ist der Sprung rechtmässig (saltus legitimus),
in dem andern aber unrechtmässig (saltus illegitimus).

§. 411.

Wenn ein Schlusssatz aus Vordersätzen hergeleitet wird, welche
eben so ungewiss sind als er selbst, so werden die Beweisthümer erbettelt
(petitio principii seu quaesiti). Wenn aber ein Schlusssatz zu seinem eigenen
Vordersatze angenommen wird, so nennt man diesen Fehler die Wiederkehr
im Beweise (circulus in probando).

§. 412.

Ein Beweis beweist zu wenig (probatio minus probans) wenn
durch ihn nicht der ganze Schlusssatz gewiss wird; folgt aber aus einem Beweise
ausser dem Schlusssatze etwas, welches falsch oder gar zu verschieden von
dem Schlusssatze ist, so beweist er zu viel (probatio plus probans).

 
[114]
 

§. 413.

Durch Vernunftschlüsse kann man 1) die deutlichste Gewissheit
erlangen, die einem Menschen möglich ist §. 355. 2) Den Irrthümern
am leichtesten widerstehen; 3) neue Wahrheiten erfinden; und 4) alle Beweisthümer
erfinden, die da nöthig sind, um ein gelehrtes Lehrgebäude aufzuführen
u.s.w.

Der andere Haupttheil,
von der Lehrart der gelehrten Erkenntniss.


§. 414.

Die Lehrart (methodus) ist eine merklichere oder grössere Ordnung
der Gedanken. In so ferne mehrere Gedanken auf einerlei Art entweder
beisammen sind, oder auf einander folgen, in so ferne ist unter ihnen eine Ordnung,
welche entsteht, wenn verschiedene Gedanken nach einerlei Regeln einander
zugeordnet werden.

§. 415.

Die Lehrart ist in der Erkenntniss §. 414. 11. und also
entweder eine Ordnung der gemeinen Erkenntniss, die gemeine Lehrart
(methodus vulgaris), oder der vernünftigen §. 17. 18, die vernünftige Lehrart
(methodus rationalis). Zu jener gehört die ästhetische Lehrart §. 19, zu dieser
aber die gelehrte Lehrart (methodus erudita, logica, philosophica), die Lehrart
der gelehrten Erkenntniss §. 21.

§. 416.

Die gelehrte Lehrart befördert 1) die Deutlichkeit der gelehrten
Erkenntniss §. 142 n. 4. 2) Die Wahrheit in einem Lehrgebäude und die
Gründlichkeit §. 105. 3) Die Einheit und den durchgängigen Zusammenhang
eines Lehrgebäudes. 4) Die Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss: denn
alle Ordnung ist eine Vollkommenheit. 5) Das Behalten der Wahrheiten durchs
Gedächtniss §. 414.

 
[115]
 

§. 417.

Je mehr Gedanken mit einander verknüpft werden, nach je
mehrern und wichtigern gemeinschaftlichen Regeln diese Verknüpfung geschieht,
desto grösser und vollkommener ist die Lehrart §. 414. Folglich wird zur
grössten Vollkommenheit einer gelehrten Erkenntniss erfodert, dass sie so
methodisch sei als möglich §. 416.

§. 418.

Eine Lehrart verbindet die Gedanken, entweder nur nach einer
einzigen gemeinschaftlichen Regel, oder nach mehrern. Jene ist eine einfache
(methodus simplex), diese aber eine zusammengesetzte Lehrart (methodus
composita). Diese ist vollkommener als jene §. 417.

§. 419.

Die Verschiedenheit der Lehrarten rührt, von der Verschiedenheit
der Regeln, her, nach welchen die Gedanken einander zugeordnet werden
§. 414, und die Verschiedenheit der Regeln fliesst, aus der Verschiedenheit der
Erkenntnisskräfte, und aus der verschiedenen Beschaffenheit der Erkenntniss,
welche nach einer Lehrart gedacht werden soll.

§. 420.

Da die gelehrte Erkenntniss eine deutliche Erkenntniss aus Gründen
ist §. 21. 17, so müssen in der gelehrten Lehrart die Gedanken dergestalt
auf einander folgen, dass ihr Zusammenhang dadurch deutlich gewiss werde
§. 415. 419. Dieses ist das Grundgesetz der gelehrten Lehrart.

§. 421.

Die Lehrart dogmatischer Wahrheiten ist von der Lehrart der historischen
unterschieden §. 419. 104. In jener müssen die Gedanken aus einander
bewiesen werden, entweder durch eine Demonstration, oder durch einen unzureichenden
Beweis §. 191. Wenn das erste ist, so wird sie eine demonstrativische,
oder scientifische Lehrart genannt (methodus demonstrativa, scientifica,
apodictica).

§. 422.

In der gelehrten Lehrart dogmatischer Wahrheiten werden lauter
Gedanken einander zugeordnet, die entweder die Gründe der Wahrheit, Deutlichkeit
und Gewissheit anderer sind, oder die Folgen, oder beides zugleich
 
[116]
 
§. 421. 420. 15. Also werden die Gründe entweder den Folgen vorgesetzt,
oder nachgesetzt. Jene ist die synthetische (methodus synthetica), diese aber
die analytische Lehrart (methodus analytica). Folglich ist die gelehrte Lehrart
entweder synthetisch oder analytisch, sie mag nun demonstrativisch sein
oder nicht §. 421.

§. 423.

Die analytische Lehrart ist sehr unbequem, wenn man ein weitläuftiges
Lehrgebäude nach ihr abhandeln, oder lernen wollte. Sie schickt sich
aber sehr gut, 1) wenn man einen Grundriss zu einem Lehrgebäude zeichnen
will, um dasselbe hernach nach der synthetischen Lehrart abzuhandeln; 2) wenn
man, aus den Folgen und Schlusssätzen, die Gründe und Vordersätze erfinden will;
3) wenn man ein schon gelerntes Lehrgebäude ofte wiederholen will; 4) wenn man
die einzeln kürzern Theile eines Lehrgebäudes recht durchdenken will §. 422.

§. 424.

Die synthetische Lehrart ist allemal mit vielen Unbequemlichkeiten
verbunden, wenn man sich derselben in solchen Fällen bedient, wo
die analytische angepriesen worden §. 423. Sie hat aber grosse Vortheile,
wenn man sich derselben bedient: 1) wenn man ein schon erfundenes Lehrgebäude,
im Ganzen betrachtet, durchdenken und abhandeln will; 2) wenn man
dasselbe lernen will; 3) wenn man aus den Gründen und Vordersätzen die
Folgen und Schlusssätze erfinden will §. 422.

§. 425.

In der synthetischen Lehrart müssen allemal die Gründe eher
gedacht werden, als die Folgen §. 422. Folglich 1) müssen die Begriffe, welche
Merkmale anderer Begriffe sind, eher erklärt werden als die andern §. 115, und
also die höhern eher als die niedrigern §. 261. 2) Die unerweislichen Wahrheiten
müssen vor den erweislichen vorhergehen §. 314-317. 3) Die Vordersätze
müssen eher gedacht werden als die Schlusssätze §. 356, und also die
Vorschlüsse eher als die Nachschlüsse §. 407. 4) Diejenigen erweislichen
Wahrheiten, aus denen andere folgen, müssen
 
[117]
  vor diesen vorhergehen.
In der analytischen Lehrart verhält sich alles umgekehrt §. 422.

§. 426.

Die synthetische Lehrart, welche nur bloss die Absicht hat, die
mathematische Gewissheit der Erkenntniss zu befördern §. 161, heisst die mathematische
Lehrart (methodus mathematica). Sie muss also nicht nur den Regeln
der synthetischen §. 425, aufs allergenaueste gemäss sein, sondern vermöge derselben
lässt man auch entweder alles weg, was nicht zur mathematischen Gewissheit
unentbehrlich erfodert wird, oder man bringt es in Anmerkungen
§. 340. Sie hat bei sehr schweren Demonstrationen, sonderlich für Anfänger,
einen grossen Nutzen, wenn man sich aber an dieselbe allein gewöhnt, so bekommt
man eine bloss gelehrte Erkenntniss §. 161, und es ist demnach nicht
zu rathen §. 40.

§. 427.

Die Kunst (ars) ist ein Inbegriff der Regeln, welche nach einer
Ordnung gedacht werden. Die künstliche Lehrart (methodus artificialis, scholae)
ist die Lehrart, in so fern sie durch die Kunst gelernt und ausgeübt wird. Die
natürliche Lehrart (methodus naturalis) ist die Lehrart, in so ferne sie nicht
künstlich ist, sondern aus der Natur der Erkenntniss und desjenigen, der da
denkt, folget. Die vermischte Lehrart (methodus mixta) ist die natürliche Lehrart,
in so ferne ihr die künstliche zu Hülfe kommt.

§. 428.

Unter den künstlichen gelehrten Lehrarten sind die besten 1) die
schliessende Lehrart (methodus syllogistica), wenn man alle Beweise in lauter
förmliche Schlüsse zergliedert, und keine Sprünge begeht. Sie thut einem Anfänger
gute Dienste. Sonst ist sie zu weitläuftig, zu ekelhaft und nicht deutlich
genung. 2) Die Lehrart nach Tabellen (methodus tabellaris), wenn man alle
Glieder der Eintheilungen und Theile des Ganzen so zusammenordnet, dass
daraus erhellet, zu was für einem höhern Begriffe und Ganzen ein jeder Gedanke
gehört.
 
[118]
  Sie befördert den deutlichen Begriff von einem ganzen Lehrgebäude,
und das Gedächtniss; allein sie fällt ofte in das Gezwungene, die Aufmerksamkeit
wird überladen, und die Gründlichkeit kann durch sie nicht gehörig
erlangt werden. 3) Die Lehrart nach einer Zertheilung eines ganzen
Lehrgebäudes, wenn man die Urtheile nach der Verschiedenheit ihrer Subjecte
auf einander folgen lässt; daher Capitel, Abschnitte u.s.w. entstehen. Wenn
sie mit der synthetischen verbunden wird, so hindert sie die Gründlichkeit nicht,
und schafft den Nutzen der Lehrart nach Tabellen.

§. 429.

Wenn man ein Lehrgebäude abhandeln will, so muss es nach der
synthetischen, und in einigen Fällen nach der analytischen Lehrart geschehen
§. 423. 424, denn sie schicken sich für die Natur eines Lehrgebäudes §. 420.
Was nun von allen übrigen künstlichen Lehrarten damit verbunden werden
kann, entweder die Deutlichkeit und Gewissheit zu befördern, oder das Gedächtniss,
oder die Ordnung zu vermehren, das verknüpfe man mit der synthetischen
und analytischen Lehrart. Folglich ist das gezwungene Wesen
in der Lehrart (affectatio in methodo) ein Fehler, 1) wenn die künstliche Lehrart
nichts taugt, der Natur zuwider ist, und ganz willkürlich ist. 2) Wenn
man sich an eine einfache Lehrart zu genau bindet, und von derselben niemals
eine Ausnahme machen will. 3) Wenn man die Regeln der Lehrart gar zu
genau und ängstlich beobachtet.

§. 430.

Die gelehrte Lehrart muss natürlich und ungekünstelt sein §. 429.
Sie muss also der Natur der gelehrten Erkenntniss gemäss sein, und ohne
ängstliche Mühe beobachtet werden. Folglich muss sie dem Kopfe desjenigen,
der nach ihr denken will, gemäss sein. Wem es also gegeben ist, der kann
sich 1) der sokratischen Lehrart (methodus socratica ) bedienen, vermöge
welcher die Gedanken so auf einander folgen, wie sie einander, als Fragen und
Antworten in dem Gespräche mehrerer Personen, veranlassen; 2) der platonischen
Lehrart (methodus platonica ), vermöge
 
[119]
  welcher die Gedanken,
wie in einer freien Rede, auf einander folgen, so dass alle Arten der gelehrten
Gedanken unter einander gemengt werden, ohne dass man förmliche und offenbare
Schlüsse mache.

§. 431.

Wenn man ein Lehrgebäude nach der synthetischen Lehrart abhandeln
will, so muss man 1) nur Eine Wahrheit zum Grunde legen, aus welcher
alles übrige hergeleitet wird, damit das Lehrgebäude eine Einheit und einen
durchgängigen Zusammenhang bekomme, damit es nicht mehr und nicht weniger
enthalte, als nöthig ist. 2) Man lege eine Zertheilung zum Grunde, und sondere
das Lehrgebäude in einige Abschnitte ab, doch so, dass keine Ausnahme von
der synthetischen Lehrart dadurch gemacht werde. 3) Die gelehrten Gedanken
selbst müssen folgendergestalt auf einander folgen. a) Zuerst kommen die Erklärungen;
b) alsdenn folgen entweder die unerweislichen Wahrheiten oder die
anschauenden Urtheile; c) alsdenn die erweislichen Wahrheiten. d) Die Zusätze
und Anmerkungen werden überall eingestreuet, wo sie nöthig und nützlich
sind §. 420. 425.

§. 432.

Die Lehrart historischer Wahrheit §. 421 muss der Natur der
historischen Wahrheiten gemäss sein §. 419; folglich muss man sie in der Ordnung
denken, in welcher ihre Gegenstände entweder dem Raume oder der
Zeit nach mit einander verbunden sind. Dahin gehört also die chronologische
Lehrart (methodus chronologica), wenn man die Begebenheiten in eben der
Folge denkt, als sie auf einander würklich erfolgt sind; und die geographische
Lehrart (methodus geographica), vermöge welcher man die Begebenheiten,
die an einem Orte sich zutragen, oder zugetragen haben, nach der
chronologischen Lehrart denkt. Weil nun auch die würklichen Begebenheiten
der Welt zusammenhängen, und ein Mensch ofte diesen Zusammenhang einsehen
kann, so kann man, wenigstens
 
[120]
  ofte, bei historischen Wahrheiten sich
auch der vernünftigen Lehrart bedienen §. 415.

§. 433.

Die beste gelehrte zusammengesetzte Lehrart kann einem Menschen
eine Unordnung zu sein scheinen, der ihre Regeln nicht kennt, oder der sich an
eine andere Lehrart gewöhnt hat, oder nur an eine einfache. Deswegen aber
kann man einer solchen Lehrart keinen gegründeten Vorwurf machen.

§. 434.

Eine Doctrin, eine Lehre (doctrina) ist ein Inbegriff dogmatischer
Wahrheiten, welche einen und eben denselben Gegenstand haben. Eine Disciplin
(disciplina) ist eine Lehre in so ferne sie methodisch erkannt wird. Eine
demonstrirte Disciplin ist eine Wissenschaft (scientia obiective spectata). Die
gelehrte Erkenntniss ist immer im Anfange eine Doctrin, alsdenn giebt man ihr
die Gestalt einer Disciplin, und endlich die Gestalt einer Wissenschaft, und
alsdenn hat sie ihre grösste Vollkommenheit erreicht.

§. 435.

Wer da denkt, der denkt entweder nach einer Lehrart, oder nach
keiner §. 414. Jener denkt methodisch (methodice cogitare, methodicum, acroamaticum,
disciplinale in cognitione), dieser aber tumultuarisch (tumultuaria
cognitio). Keine tumultuarische Erkenntniss kann recht gelehrt sein §. 416.

§. 436.

Das Meditiren (meditatio) ist diejenige Beschäftigung unserer Erkenntnisskräfte,
durch welche wir einer Sache nach den Regeln einer Lehrart
nachdenken. Geschieht es nach den Regeln der gelehrten Lehrart, so ist es
ein gelehrtes Meditiren (meditatio erudita), welches so mancherlei ist, als es
verschiedene Arten der gelehrten Lehrart giebt. Ohne diesem gelehrten Meditiren
können wir, keine gelehrte Erkenntniss, erlangen.

§. 437.

Wer gelehrt meditiren will 1) der erwähle sich einen Gegenstand,
auf welchen er seine Aufmerksamkeit richtet; 2) er denke nach und nach die
Merkmale desselben,
 
[121]
  welche seine Erklärung, die unerweislichen, und
endlich die erweislichen Prädicate desselben ausmachen. Diese hat man entweder
schon gelernt, und da thut man gut, wenn man beim Meditiren schreibt; oder
man will sie lernen, und da muss man in einem Buche lesen, oder dem mündlichen
Vortrage zuhören; oder man will sie erst erfinden. 3) Man untersuche,
ob das, was man denkt, ein Begriff, ein Urtheil, ein Lehrsatz u.s.w. sei, und
überlege es so lange, bis man allen Regeln Genüge geleistet, welche die Vernunftlehre
bei einer jeden Art der gelehrten Gedanken vorschreibt.

§. 438.

Es ist eine Schande, wenn man aus Pedanterei alle Arten zu
denken verachtet, die nicht über den Leisten derjenigen Lehrart geschlagen
sind, in die man sich verliebt hat, und wenn man, wie ein Charlatan, aus der
Lehrart, die man liebt, zu viel Wesens macht.

Der dritte Haupttheil,
von dem gelehrten Vortrage.
Der erste Abschnitt,
von dem Gebrauche der Worte.


§. 439.

Die logische Bezeichnungskunst (logica characteristica heuristica)
ist die Wissenschaft der Regeln, die man beobachten muss, wenn man die gelehrte
Erkenntniss auf eine geschickte Art bezeichnen will. Die logische Auslegungskunst
(hermeneutica logica) ist die Wissenschaft der Regeln, wie man
auf eine gelehrte Art aus den Zeichen die bezeichneten Sachen erkennen soll.

§. 440.

Ein Zeichen (signum, symbolum) ist ein Mittel, durch dessen Gebrauch
die Würklichkeit eines andern Dinges erkannt werden kann, welches
andere Ding
 
[122]
  die bezeichnete Sache oder die Bedeutung (signatum, significatus)
genannt wird. Ein Ausdruck (terminus) ist ein Zeichen der Erkenntniss;
die Ausdrücke, welche gewöhnlicher Weise in einer menschlichen Stimme bestehen,
heissen Worte (vocabulum). Die durch die Ausdrücke und Worte bezeichnete
Erkenntniss wird die Bedeutung derselben genannt (significatus vocabuli et
termini).

§. 441.

Diejenige Bedeutung, welche derjenige, der das Wort braucht,
durch das Wort bezeichnen will, ist die wahre Bedeutung (significatus hermeneutice
verus). Eine jede andere Bedeutung aber ist die falsche (significatus
hermeneutice falsus). Die wahre Bedeutung kann ein falscher Begriff, und die
falsche ein wahrer Begriff sein.

§. 442.

Die Rede (oratio) ist eine Reihe Worte, welche Vorstellungen
bezeichnet, die mit einander verknüpft sind. Diese Reihe der Vorstellungen
heisst der Sinn der Rede (sensus orationis), welcher entweder ein wahrer Sinn
ist (sensus hermeneutice verus), wenn ihn der Redende hat bezeichnen wollen,
oder ein falscher (sensus hermeneutice falsus), wenn er nicht der wahre ist.
Der Vortrag (propositio) ist die Hervorbringung einer Erkenntniss in andern,
vermittelst einer Rede, es mag nun derselbe entweder ein mündlicher oder
schriftlicher Vortrag sein.

§. 443.

So viele Arten der Erkenntniss es giebt, so viele Arten der Rede
und des Vortrages giebt es auch §. 442. Es giebt also gemeine Reden, ästhetische
Reden, vernünftige Reden, und auch dergleichen Arten des Vortrages
§. 17. 18. 19. Eine gelehrte Rede (oratio erudita) ist eine Rede, deren Sinn
eine gelehrte Erkenntniss ist §. 21, und wir tragen +W tragen vor -W etwas auf eine gelehrte
Art vor (erudite proponere), wenn wir, durch eine gelehrte Rede, in andern
eine gelehrte Erkenntniss hervorbringen.

§. 444.

Die gelehrte Rede muss, nebst allen ihren Theilen, dergestalt
beschaffen sein, dass die
 
[123]
  höchste Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss
nicht gehindert, sondern befördert und bezeichnet werde §. 442. Man muss
also in derselben 1) alle ästhetischen Regeln der Rede beobachten, welche der
logischen Vollkommenheit der Erkenntniss nicht zuwider sind §. 34. 2) Alle
ästhetischen Vollkommenheiten vermeiden, welche der erfoderten logischen Vollkommenheit
der Rede zuwider sind §. 34.

§. 445.

Eine Rede ist entweder bloss gelehrt (oratio mere erudita), wenn
sie nichts weiter als eine bloss gelehrte Erkenntniss bezeichnet, in dem entgegengesetzten
Falle aber ist sie keine bloss gelehrte Rede (oratio non mere erudita).
Und eben so ist der gelehrte Vortrag verschieden §. 443. Die letztern sind die
besten §. 40. 32.

§. 446.

Der gelehrte Ausdruck muss weitläuftig sein §. 25. 444. Folglich
1) muss ein Gelehrter so viele Ausdrücke wissen, als erfordert werden, alle seine gelehrte
Gedanken zu bezeichnen. 2) Man muss alle nöthige Kunstwörter seiner Hauptwissenschaft
wissen, und im Falle der Noth ist es erlaubt, neue Ausdrücke zu
erfinden. Ein Kunstwort (terminus technicus) ist ein Ausdruck, welcher ausser
einer Kunst oder Disciplin gar nicht gebraucht werden darf. 3) Man muss alle
gleichvielbedeutende Ausdrücke wissen (synonyma), oder alle Ausdrücke die
einerlei bedeuten. 4) Der gelehrte Ausdruck muss alles bezeichnen, was man
denkt, und weder mehr noch weniger bezeichnen als man sagen will. 5) Man
muss alle Bedeutungen eines Ausdrucks wissen, die er, durch den gemeinen
und gelehrten Gebrauch zu reden, schon bekommen hat. Der gemeine Gebrauch
zu reden (usus loquendi) ist die Übereinstimmung im gemeinen Leben, vermöge
welcher Leute, die eine Sprache reden, mit gewissen Worten eine oder mehrere
Bedeutungen verbinden. Der gelehrte Gebrauch zu reden (receptus terminorum
significatus)
 
[124]
  ist eben dergleichen Übereinstimmung dererjenigen, die sich
einer Disciplin befleissigen.

§. 447.

Der gelehrte Ausdruck muss, für die gelehrte Erkenntniss,
gross, wichtig und anständig genung sein §. 444. 26. Folglich muss man in
dem gelehrten Vortrage alle niederträchtigen, lächerlichen und pöbelhaften Ausdrücke
vermeiden, welche nur unter dem Pöbel gebräuchlich sind.

§. 448.

Der gelehrte Ausdruck muss richtig sein §. 444. 27. Ein
wahrer Ausdruck (terminus verus) muss seine wahre Bedeutung §. 441 richtig
bezeichnen; ein Ausdruck, der nicht wahr ist, ist ein falscher Ausdruck (terminus
falsus).

§. 449.

Ein Ausdruck ist falsch: 1) wenn seine Bedeutung ein falscher
Begriff ist, und derjenige, welcher den Ausdruck braucht, von der Unrichtigkeit
der Bedeutung überzeugt ist; 2) wenn wir einen Ausdruck zu verstehen glauben,
da wir ihn doch nicht verstehen; ein solcher falscher Ausdruck ist ein leerer
Ausdruck, oder ein leeres Wort (terminus inanis). Wir verstehen einen
Ausdruck (terminum intelligere), wenn wir aus ihm seine Bedeutung erkennen.
Ein leeres Wort entsteht: a) wenn wir, den Begriff von dem Worte selbst, für
seine Bedeutung halten §. 440. b) Wenn die Bedeutung des Worts ein irriger
oder betrügerischer Begriff ist (conceptus deceptor), ein Begriff, den wir zu
haben glauben, da wir doch keinen haben. 3) Wenn er einen wahren Begriff
nicht richtig bezeichnet §. 448.

§. 450.

Ein geläufiger Ausdruck (terminus familiaris) ist ein Ausdruck,
den wir uns angewöhnt haben, oder den wir zu verstehen glauben, ob wir ihn
gleich nicht verstehen, weil wir auf seine Bedeutung nicht Achtung geben.
Solche Ausdrücke können wahre Ausdrücke sein, allein wir stehen bei ihrem
Gebrauche in der grössten Gefahr, leere Ausdrücke auszuhecken, wenn wir ein
Paar geläufige
 
[125]
  Ausdrücke mit einander verbinden, deren Bedeutungen unmöglich
sind, oder einander widersprechen §. 449. Daher können Leute von
nichts reden, und doch einander zu verstehen scheinen, wenn sie nämlich Ausdrücke
gebrauchen, die ihnen geläufig sind.

§. 451.

Ob man gleich in den gelehrten Reden die falschen Ausdrücke
der ersten Art §. 449 nicht vermeiden kann, wenn man Irrthümer widerlegen
muss; so muss man doch alle andere falsche und leere Ausdrücke vermeiden,
weil aus ihrem Gebrauche Gedankenlosigkeit und Irrthümer entstehen. Zu dem
Ende muss man keinen Ausdruck brauchen, 1) dessen Bedeutung man nicht erkannt
hat, und 2) dessen Bedeutung man nicht untersucht hat, ob sie ein wahrer
oder falscher Begriff ist.

§. 452.

Ein grober Ausdruck (terminus crassus) ist ein Ausdruck, dessen
Bedeutung eine grobe Erkenntniss ist §. 102. Der Gebrauch der leeren Ausdrücke
in den gelehrten Reden ist die Wortkrämerei der Gelehrten, da man
Worte für Sachen verkauft. Z.E. wenn ein Gelehrter den Grund von einer
Sache angeben soll, und er hat die Sache mit einem Ausdrucke bezeichnet, den
er hernach als den Grund anführt, so verkauft er Worte für Sachen. Alles
dieses muss man vermeiden §. 451.

§. 453.

Der gelehrte Ausdruck muss klar sein §. 444. 28. Man muss
sie also nicht nur selbst von andern Ausdrücken gehörig unterscheiden können,
sondern ihre Bedeutung muss auch hinlänglich klar sein. Ein dunkeler Ausdruck
(terminus obscurus) hat eine dunkele Bedeutung, ein klarer (terminus
clarus) eine klare u.s.w. Ein dunkeler Ausdruck ist deswegen kein leerer
§. 449, und ein Ausdruck der mir dunkel ist, ist deswegen nicht schlechterdings
und andern Leuten dunkel §. 126.

§. 454.

Aus einem Ausdrucke kann seine Bedeutung entweder klar erkannt
werden, oder nicht. Jener ist ein verständlicher (terminus intelligibilis),
dieser aber
 
[126]
  ein unverständlicher Ausdruck (terminus non intelligibilis).
Ob man nun gleich in einer gelehrten Rede nicht lauter Ausdrücke brauchen
kann, die allen Leuten verständlich sind; so muss man doch lauter solche
Ausdrücke brauchen, welche auch Leuten von mittelmässigem Verstande,
und die der Sprache mittelmässig mächtig sind, verständlich sein können,
wenn sie auf die Rede auch nur mittelmässig Achtung geben §. 453.

§. 455.

Wer sich in einer gelehrten Rede der allerverständlichsten Ausdrücke
bedienen will §. 454, 1) der muss, die bekanntern und gewöhnlichern
Ausdrücke, den unbekanntern und ungewöhnlichern vorziehen, wenn sie übrigens
einander gleich sind. 2) Er muss mit dem Ausdrucke allemal diejenige Bedeutung
verbinden, welche durch den Gebrauch zu reden, sowohl im gemeinen
Leben als auch in den Disciplinen, damit verbunden ist §. 446, bis ihn die
Noth zum Gegentheil zwingt; 3) er muss, wenn der Gebrauch zu reden mannigfaltig
ist, mit den Ausdrücken die allergewöhnlichsten Bedeutungen (significatus
famosissimus) verknüpfen, das ist, diejenigen, welche von den meisten
in den meisten Fällen mit dem Ausdrucke verbunden sind; 4) wenn in einem
gewissen Falle die drei vorhergehenden Regeln nicht zureichen, so erkläre man
diejenige Bedeutung, in welcher man einen Ausdruck nimmt §. 268.

§. 456.

Der gelehrte Ausdruck muss gewiss sein §. 444. 29. Ein gewisser
Ausdruck (terminus certus) ist so beschaffen, dass man nicht nur gewiss
weiss, er habe eine Bedeutung, sondern er habe auch eben diese und keine
andere Bedeutung. Ein Ausdruck ist ungewiss (terminus incertus), wenn er
nicht gewiss ist; und durch den Gebrauch ungewisser Ausdrücke wird die Rede
auf Schrauben gesetzt.

§. 457.

Ein zweideutiger Ausdruck (terminus ambiguus, homonymus,
vagus) hat nicht immer Eine Bedeutung; so bald er sie bekommt, wird seine
Bedeutung
 
[127]
  festgesetzt (terminus fixus). Die Zweideutigkeit des Ausdrucks
hindert seine Gewissheit §. 456, man muss also alle Zweideutigkeit verhüten.
Und wenn der Gebrauch zu reden dazu nicht zureicht §. 446, so muss man die
Bedeutungen durch logische Erklärungen festsetzen.

§. 458.

Der gelehrte Ausdruck muss so sehr gefallen, dass man dadurch
gereizt werden kann, die unter ihm verborgen liegende Erkenntniss
aus ihm zu erkennen §. 444. 30. Folglich muss er mit allen Vollkommenheiten,
welche der gelehrten Erkenntniss nicht zuwider sind, ausgeschmückt werden,
dass man ihn gerne und mit Lust lese oder höre.

§. 459.

Bei dem Gebrauch der Worte in den logischen Erklärungen sind
noch vier Regeln zu beobachten: 1) Man muss auch in den Erklärungen den
Gebrauch zu reden beobachten, so lange es möglich ist §. 455. 2) Man muss
weder den Ausdruck des erklärten Begriffs, noch die gleichgültigen Ausdrücke
desselben, in die Rede setzen, welche die Erklärung bezeichnen; denn alsdenn
würde die Erklärung nicht deutlicher sein, als der erklärte Begriff §. 275, 446.
3) Eine Erklärung muss mit so wenig Worten ausgedruckt werden, als es ohne
Nachtheil der Deutlichkeit geschehen kann; damit durch zu viele Worte die Aufmerksamkeit
nicht zerstreuet werde.

§. 460.

Diejenige Bedeutung, um welcher willen ein Wort erfunden worden
und gebraucht wird, und wenn es sonst auch gar keine Bedeutung haben sollte,
heisst die eigentliche Bedeutung (significatus proprius), die andern Bedeutungen
sind uneigentliche (significatus improprius). Wenn man ein Wort braucht,
um jene zu bezeichnen, so ist es ein eigentliches (terminus proprius); braucht
man es aber um diese zu bezeichnen, so ist es ein uneigentliches Wort (terminus
improprius). Bei einem uneigentlichen Worte denken wir ausser der uneigentlichen
Bedeutung allemal die eigentliche, ob man gleich
 
[128]
  von einer
jeden einen ausführlichen Begriff haben könnte, ohne an die andere zu denken.
Daher muss man 4) in dem Ausdrucke der logischen Erklärungen alle uneigentliche
Ausdrücke verhüten, weil widrigenfalls die Erklärung zu weitläuftig sein
würde §. 270, und wenn wir in der Sprache manchmal keine eigentlichen Ausdrücke
finden können, so müssen wir ein uneigentliches Wort, durch die Erklärung
seiner uneigentlichen Bedeutung, vorher in ein eigentliches verwandeln,
ehe wir es in einer andern Erklärung brauchen.

§. 461.

Wenn man die Bedeutung eines vielbedeutenden Worts erklären
soll, so können wir eine unter seinen mehrern Bedeutungen erklären, welche uns
gefällig ist, wenn die mehrern Bedeutungen in einem gleichen Grade gewĆ‚öhnlich
sind. Und in dieser Absicht sind die Erklärungen ofte willkürlich.

§. 462.

Ein Urtheil, welches durch Ausdrücke bezeichnet wird, heisst ein
Satz (propositio, enunciatio). Ein Satz, in welchem nicht alle Begriffe mit besondern
Ausdrücken bezeichnet werden, heisst ein versteckter Satz (propositio
cryptica). Die Ausdrücke, welche die Grösse des Urtheils bezeichnen, heissen
die Zeichen der Grösse. In einem Satze sind entweder die Zeichen der Grösse
oder nicht (propositio definita, et indefinita). Die letzten werden durch den
Sprachgebrauch allgemein verstanden, und wer also nicht unrecht will verstanden
sein, der muss die Zeichen der Grösse in den Sätzen nicht auslassen, die er
nicht allgemein will verstanden wissen. Ein Satz wird verstanden, wenn alle in
demselben befindliche Ausdrücke verstanden werden §. 449.

§. 463.

Ein Vernunftschluss, wenn er durch Ausdrücke bezeichnet wird,
heisst eine Schlussrede (syllogismus). Man hüte sich, dass man die Schlussreden
nicht immer nach einer Ordnung, und mit einerlei Kunstworten vortrage.
Und wenn man die Schlussreden versteckt oder
 
[129]
  verstümmelt, so richte
man sich nach dem Zuhörer, damit er nicht irre gemacht werde, und sich aller
ausgelassenen Sätze erinnern könne. Diejenigen Betrugschlüsse, welche bloss
auf der Zweideutigkeit der Ausdrücke beruhen (sophisma ambiguitatis, amphiboliae),
sind kaum der Mühe werth, dass man ihrer Erwähnung thue.

Der andere Abschnitt,
von der gelehrten Schreibeart.


§. 464.

Die gelehrte Schreibeart (stilus eruditus, philosophicus), ist die
Übereinstimmung, oder ˇhnlichkeit der Art und Weise, wie man gelehrt redet.

§. 465.

Da die gelehrte Schreibeart ein Theil der gelehrten Rede ist
§. 464. 443, so hat sie mit derselben einerlei Absicht, nämlich die gelehrte Erkenntniss
bei sich selbst und andern zu befördern. Eine gute gelehrte Schreibeart
(stilus eruditus perfectus) muss also die gelehrte Erkenntniss und ihre Vollkommenheiten
befördern, welche aber dieselben hindert, ist eine schlechte gelehrte
Schreibeart (stilus eruditus imperfectus).

§. 466.

Zu den Vollkommenheiten der gelehrten Schreibeart gehören
1) alle Beschaffenheiten derselben, ohne welchen die Vollkommenheiten der gelehrten
Erkenntniss nicht erhalten werden können; 2) alle übrige Schönheiten
der Schreibeart, wenn sie der Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss nicht
zuwider sind. Ohne diesen würde die Schreibeart bloss gelehrt sein. Zu den
Unvollkommenheiten der gelehrten Schreibeart gehören: 1) alle Beschaffenheiten
derselben, wodurch die Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss gehindert
wird, und sollten es auch gleich*2 Schönheiten sein; 2) alle Beschaffenheiten, wodurch
Unvollkommenheiten in der gelehrten Erkenntniss verursacht werden;
 
[130]
 
3) alle Unvollkommenheiten, welche in keiner Schreibeart geduldet werden
können §. 465.

§. 467.

Die gelehrte Schreibeart muss dergestalt eingerichtet werden,
dass durch dieselbe, die Deutlichkeit der Erkenntniss der Wahrheit aus
Gründen, aufs beste befördert werde §. 465. Dieses ist das Grundgesetz der
gelehrten Schreibeart.

§. 468.

1) Die gelehrte Schreibeart muss deutlich sein §. 467. Die
Deutlichkeit der gelehrten Schreibeart (perspicuitas stili eruditi) ist die Vollkommenheit
derselben, vermöge welcher sie die Deutlichkeit der bezeichneten
Erkenntniss nicht hindert, sondern befördert. Die entgegengesetzte Unvollkommenheit
ist ihre Dunkelheit (obscuritas stili eruditi). Um die Schreibeart
deutlich zu machen, muss man 1) lauter klare Ausdrücke brauchen §. 453-455;
2) man muss nicht zu kurz, sondern wortreich reden; 3) man muss die
Theile der Rede so mit einander verbinden, dass daraus die Verbindung der
Gedanken aufs deutlichste und leichteste erkannt werden kann. Folglich muss
man a) alle seltenen und schweren Wortfügungen vermeiden; b) die Wortfügungen
nicht verwerfen; c) man muss die Ausdrücke, welche die Verbindungen der Gedanken
bezeichnen, nicht gar zu häufig auslassen; d) man muss nicht zu viele Einschiebsel
machen; 'e) man muss die Punkte nicht gar zu lang machen. Ein Satz,
welcher kein Theil eines andern Satzes ist, wird ein Punkt (punctum) genennet.
Also muss man kürzere und längere Punkte unter einander mengen.

§. 469.

2) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als möglich ist, rein
sein §. 467. Die Reinigkeit der gelehrten Schreibeart (puritas stili eruditi)
besteht in der Übereinstimmung derselben mit der verbesserten Natur der Sprache.
Die entgegengesetzte Unvollkommenheit ist die Unreinigkeit derselben (impuritas
stili eruditi). Da eine reine Schreibeart gefällt, so
 
[131]
  reizt sie die Aufmerksamkeit
des Lesers und Zuhörers, und sie befördert also die Deutlichkeit
der gelehrten Erkenntniss §. 142.

§. 470.

Wenn die Reinigkeit der Schreibeart ihre Deutlichkeit hindern
sollte, so muss man von der erstern eine Ausnahme machen §. 35. 21. Eine
solche nothwendige Unreinigkeit ist nur eine Scheinunvollkommenheit der gelehrten
Schreibeart §. 466.

§. 471.

Um der Reinigkeit der gelehrten Schreibeart willen muss man
vermeiden: 1) alle Zwitterwörter (vox hybrida), deren Theile aus verschiedenen
Sprachen genommen sind; 2) alle grammatischen Fehler; 3) alle barbarischen
Ausdrücke; 4) alle Ausdrücke aus fremden Sprachen, und fremde Wortfügungen,
sie müssten denn schon das Bürgerrecht erhalten haben; 5) alle veralteten Ausdrücke
und Wortfügungen; 6) alle neuen Wörter und Kunstwörter; 7) alle
Vielheit der Ausdrücke, wenn man statt derselben sich Eines Ausdrucks bedienen
kann, ob er gleich unrein ist §. 469. Von allen diesen Regeln kann man um
§. 470 willen Ausnahmen machen.

§. 472.

In Absicht auf die Reinigkeit der gelehrten Schreibeart muss
vermieden werden: 1) die nachlässige und unachtsame Barbarei schulfüchsischer
Gelehrten, vermöge welcher sie die Reinigkeit der Schreibeart ganz und gar versäumen;
2) die gar zu grosse Liebe zur Reinigkeit der Schreibeart, wenn man
sogar zum Nachtheil der Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss die Reinigkeit
recht gezwungen zu erhalten sucht §. 466.

§. 473.

3) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als möglich ist, füglich
sein. Die Füglichkeit der Schreibeart (concinnitas stili) besteht in der
proportionirten Übereinstimmung der Theile einer Rede, z.E. wenn man Perioden
macht. In einer bloss gelehrten Rede kann diese Vollkommenheit nicht erhalten
werden, allein in einer gelehrten Rede, die nicht bloss gelehrt ist, muss
 
[132]
  man
in denen Stellen, wo man zugleich schön denkt, auch für diese Vollkommenheit aufs
möglichste sorgen §. 467. 445, weil sie den Ausdruck angenehmer macht §. 458.

§. 474.

4) Die gelehrte Schreibeart muss zierlich sein, so viel als
mĀöglich ist §. 467. Die Zierlichkeit der Schreibeart (ornatus stili eruditi) besteht
darin, wenn an statt gewisser Ausdrücke andere gebraucht werden, wodurch
eben die Begriffe, aber auf eine schönere Art, bezeichnet werden. In
denenjenigen Theilen, wo die Rede bloss gelehrt ist, ist keine zierliche Schreibeart
möglich; wenn aber die gelehrte Rede zugleich schön sein muss, so muss
auch die gelehrte Schreibeart zierlich sein §. 445.

§. 475.

5) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als es möglich ist,
wohlklingend sein §. 467. Der Wohlklang der Schreibeart (sonoritas stili)
besteht in derjenigen Vollkommenheit, vermöge welcher sie den Ohren gefällt
§. 458. Diese Vollkommenheit muss man sonderlich in denenjenigen Stellen
einer gelehrten Rede suchen, da die Rede nicht bloss gelehrt ist §. 445.

§. 476.

Lauter einfache Sätze, und gar zu weitläuftige Punkte verdunkeln
die Schreibeart §. 468. In einer gelehrten Rede müssen also, auch um der Füglichkeit
und des Wohlklanges der Schreibeart willen §. 473. 475 die einfachen
und zusammengesetzten Punkte mit mittelmässig schönen Perioden abwechseln,
nach dem die bezeichneten Gedanken bloss gelehrt, oder zu gleicher Zeit mehr
oder weniger schön sind.

§. 477.

6) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als möglich ist,
schicklich sein §. 467. Die Schicklichkeit der Schreibeart (congruentia stili),
ist diejenige Vollkommenheit, vermöge welcher sich die Schreibeart für die bezeichnete
Erkenntniss, die redende Person und die Zuhörer schickt, und denselben
gemäss ist. Folglich muss die gelehrte Schreibeart für die gelehrte Erkenntniss
wichtig genung sein §. 447, und also nicht lächerlich,
 
[133]
  pöbelhaft,
niederträchtig. Und sie muss demjenigen, der sich ihrer bedient, natürlich, und
also nicht gezwungen sein.

§. 478.

Um der Schicklichkeit der gelehrten Schreibeart willen muss sie
1) in denjenigen Stellen, wo man bloss gelehrte Gedanken ausdruckt, nicht so
rein, füglich, zierlich und wohlklingend sein; als 2) in denenjenigen Stellen, wo
Gedanken ausgedruckt werden, die zugleich schön sind §. 477.

Der dritte Abschnitt,
von einer gelehrten Rede.


§. 479.

Der gelehrte Vortrag ist entweder ein mündlicher Vortrag, oder
ein schriftlicher, das ist, ein Buch oder eine Schrift (liber, scriptum). Wer
einen gelehrten Vortrag hält, der ist ein Lehrer, und wer seine gelehrte Erkenntniss
aus dem Vortrage eines andern erlangt, der lernt sie, und ist ein
Schüler, er mag nun entweder ein Leser oder ein Zuhörer sein.

§. 480.

Der Sinn einer gelehrten Rede muss eine gelehrte Erkenntniss
sein, die allen Regeln der Vollkommenheit derselben gemäss ist §. 10-438,
und der Ausdruck muss so beschaffen sein, wie wir bisher gezeiget haben
§. 439-478. Wir müssen also in einer gelehrten Rede alle Theile der gelehrten
Erkenntniss, und zwar in der Folge vortragen, wie sie auf einander folgen müssen,
wenn eine gelehrte Erkenntniss entstehen soll.

§. 481.

Eine gelehrte Rede muss auf eine ausführliche Art weitläuftig
sein §. 480. 41-65. Sie muss also weder zu kurz sein (oratio erudita nimis
brevis), wenn sie weniger von dem Gegenstande sagt, als zu der vollkommensten
gelehrten Erkenntniss zureicht; noch gar zu weitläuftig (oratio erudita
nimis prolixa), wenn sie
 
[134]
  mehr sagt, als zur Erlangung einer vollkommenen
gelehrten Erkenntniss nöthig ist.

§. 482.

Eine gelehrte Rede kann in Absicht auf einen zu weitläuftig, in
Absicht auf den andern zu kurz, und in Absicht auf den dritten ausführlich sein
§. 481. Folglich je weniger Fähigkeit ein Schüler besitzt, je weniger er schon
gelernt hat, und je weniger er sich auf einen Gegenstand legt, desto kürzer
muss der gelehrte Vortrag für ihn sein. Ein Schüler, von der entgegengesetzten
Art, muss durch einen weitläuftigern Vortrag unterwiesen werden.

§. 483.

Eine gelehrte Rede muss wichtig genung sein §. 480. 66-91.
447. 477. Der Gegenstand derselben muss also keine nichtswürdige Kleinigkeit
sein.

§. 484.

Eine gelehrte Rede muss so richtig sein, als möglich §. 480.
92-114. 448-452. Ein Gelehrter, welcher selbst irret, und noch dazu seine
Irrthümer ausbreitet, ist ein Verführer anderer Leute, und doppelt unvollkommen.
Man muss also seine eigene Erkenntniss vorher aufs sorgfältigste untersuchen,
ehe man sie vorträgt.

§. 485.

Eine gelehrte Rede muss deutlich und verständlich sein §. 480.
114-154. 468. Es ist also ein Fehler, 1) wenn der Lehrer ohne Verstand redet,
oder wenn seine Rede gar keinen Sinn hat; 2) wenn seine Worte und Wortfügungen
dunkel und zu schwer sind; 3) wenn er selbst nicht verstanden werden
kann. Ein Redender wird verstanden (proponens intelligitur), wenn man mit
seinen Worten eben die Reihe der Vorstellungen verbindet, welche er durch
dieselbe hat bezeichnen wollen. Man kann also ofte die Rede verstehen, ohne
den Redenden zu verstehen §. 449. Ein Lehrer muss also entweder selbst erklären,
in was für Bedeutungen er seine Worte nimmt, oder er muss keinen
andern Begriff mit ihnen verknüpfen, als von welchen er weiss, dass sie der
Schüler schon habe, und mit den Worten verknüpfe.

 
[135]
 

§. 486.

Wenn ein Lehrer verworrene Erkenntniss vorträgt, so muss sie
sein Schüler entweder schon besitzen, und er bringt sie ihm durch den Vortrag
nur ins Gedächtniss, oder er muss sie ihm auf eine andere Art, als durch den
Vortrag beibringen. Die deutliche Erkenntniss kann nur durch den Vortrag in
andern hervorgebracht werden §. 14. Ein Lehrer muss also eine sehr deutliche
Erkenntniss besitzen.

§. 487.

Der gelehrte Vortrag wird deutlich: 1) durch eine deutliche
Schreibeart §. 468. 2) Durch die Beobachtung einer bequemen Lehrart §. 416.
3) Wenn man die abstracte Erkenntniss durch schöne Beispiele erläutert.
4) Man trage eine Sache, wenn sie es ihrer Wichtigkeit wegen verdient, auf
eine vielfältige und mannigfaltige Art vor, und man bediene sich der ästhetischen
erläuternden Argumente. 5) Das Angenehme und Muntere im Vortrage befördert
die Aufmerksamkeit, und also auch die Deutlichkeit.

§. 488.

Eine gelehrte Rede muss überzeugend und gründlich sein
§. 480. 155-215. Es ist also ein Fehler, 1) wenn ein Lehrer gar keine Beweise
führt, alsdenn, wenn er eine erweisliche Erkenntniss vorträgt; 2) wenn
seine Beweise nicht in dem Grade gewiss sind, und von der Art der Gewissheit,
als die vorzutragende Erkenntniss erfodert; 3) wenn er seinen Schülern einen
blauen Dunst vormacht (fucus logicus), das ist, wenn er statt der Überzeugung
eine blosse Überredung bei ihnen hervorbringt §. 184.

§. 489.

Eine gelehrte Rede muss praktisch sein §. 480. 216-248.
Alles, was wir bisher von der gelehrten Rede angemerkt haben, muss auch auf
den gelehrten Vortrag angewendet werden §. 443.

§. 490.

Die Gabe des gelehrten Vortrages (donum didacticum) ist der
Inbegriff aller Fertigkeiten der Seele und des Körpers, ohne welchen kein vollkommener
 
[136]
 
gelehrter Vortrag möglich ist. Ohne dieser Gabe kann niemand
ein Lehrer sein §. 479.

§. 491.

Ein Lehrer muss sich in seinem gelehrten Vortrage nach seinen
Schülern richten §. 479. Folglich muss man ihm anpreisen 1) die Herablassung
(condescendentia), wenn er Schüler von geringerer Fähigkeit vor sich hat, und
seinen Vortrag dergestalt einrichtet, dass er für sie nicht zu hoch ist; 2) die
Erhebung (coadscendentia) zu der grössern Fähigkeit seiner Schüler, damit der
Vortrag für sie nicht zu schlecht sei.

§. 492.

Ein Schüler der gelehrten Erkenntniss 1) muss von Natur
zur gelehrten Erkenntniss aufgelegt sein; 2) er muss seinen Verstand schon geübt
haben; 3) er muss ofte schon einen Vorrath an gelehrter Erkenntniss besitzen;
4) er muss den nöthigen Fleiss auf die Erlernung der gelehrten Erkenntniss
wenden. Ein Gelehrter muss also niemanden die gelehrte Erkenntniss
vortragen, als wer ein geschickter Schüler derselben ist; und er muss nicht
zornig werden, wenn er sieht, dass manche Leute aus seinem Vortrage nichts
lernen, er müsste denn seinen Zorn wider sich selbst wenden, weil er sieht,
dass er seine Mühe bei den unrechten Personen anwendet.

§. 493.

Bei einem gelehrten Vortrage hat man entweder vornehmlich die
Absicht, jemanden und seinen Irrthum zu widerlegen, und er ist alsdenn eine
Widerlegung eines andern (refutatio alterius), oder nicht. In dem letzten Falle
betrachtet man den Leser oder Zuhörer als einen Schüler, der unwissend ist,
nicht aber als einen Irrenden, und man sucht also eine vollkommene gelehrte
Erkenntniss in ihm hervorzubringen; ein solcher Vortrag heisst ein Unterricht
(docere).

§. 494.

Bei dem gelehrten Unterrichte müssen folgende Regeln beobachtet
werden: 1) den Anfang muss man mit der Erklärung oder Beschreibung aller
Begriffe machen, die in dem Gegenstande vorkommen, wenn sie
 
[137]
  anders
bei dem Schüler nicht schon hinlänglich klar sind; und von der Richtigkeit
dieser Begriffe muss man ihn überzeugen nach den Regeln des 258. 265. 267.
und 278sten Absatzes.

§. 495.

2) Bei dem Unterrichte von einem unerweislichen Satze hat man
nichts weiter nöthig, als dass man ihn zergliedere, und wenn sichs will thun
lassen, durch ein Beispiel erläutere §. 313-318. 300. 487.

§. 496.

3) Bei dem Unterrichte von einem anschauenden Urtheile muss
man, dem Schüler, entweder alle Empfindungen, aus denen dieses Urtheil besteht,
wieder ins Gedächtniss bringen; oder man muss sie ihm bei dem Unterrichte
beibringen §. 319-321. 202; oder man muss ihn durch wahrscheinliche Zeugnisse
überzeugen, dass andere diese Empfindungen gehabt haben §. 206-215.

§. 497.

4) Bei dem Unterrichte von erweislichen Sätzen a) zergliedere man
den Satz, und die Auflösung einer Aufgabe, damit sie recht verstanden werden;
b) man trage den Beweis nach der analytischen Lehrart vor, und bringe ihn in
Einen oder in ein paar förmliche Schlussreden, wenn er lang ist §. 423. 203.
204. 206-215; c) den ganzen Beweis führe +W führe fort -W man so lange fort, bis man entweder
auf unerweisliche und anschauende Urtheile kommt, oder bis auf solche
erweisliche Urtheile, von denen der andere schon hinlänglich überzeugt ist. Daher
rührt die Citation der Absätze in den Schriften.

§. 498.

5) Man versiegele die Überzeugung von der Wahrheit durch eine
praktische Vorstellung ihrer praktischen Beschaffenheit: denn was das Herz
liebt, glaubt der Verstand §. 216-248.

§. 499.

Ein richtiger Beweis, dass ein Irrthum ein Irrthum sei, ist eine
wahre Widerlegung (refutatio vera); allein ein unrichtiger Beweis, dass entweder
ein Irrthum ein Irrthum, oder eine Wahrheit ein Irrthum sei, ist eine
scheinbare Widerlegung (impugnatio).
 
[138]
  Nur Irrthümer können richtig widerlegt
werden. Derjenige, welcher die Widerlegung unternimmt, ist der angreifende
Theil (adversarius opponens), und wer die Widerlegung widerlegt, der
vertheidigende (adversarius defendens). Die Vertheidigung ist also entweder
richtig oder falsch. Eine gelehrte Streitigkeit (controversia) besteht aus der
Widerlegung und Vertheidigung einer Meinung.

§. 500.

Derjenige Satz, welchen der angreifende Theil widerlegt, und der
angegriffene vertheidiget, heisst der bestrittene Satz (thesis controversa), und
der Satz des angreifenden Theils, welcher mit dem bestrittenen Satze nicht zu
gleicher Zeit wahr sein kann, heisst der Gegensatz (antithesis). Er ist also
dem bestrittenen Satze entweder auf eine widersprechende §. 343, oder allgemeine
Art §. 345 entgegengesetzt. Die Streitfrage wird bestimmt (status
controversiae, seu quaestionis formatur), wenn der angreifende Theil deutlich
beweiset, welches der bestrittene Satz, und welches der Gegensatz ist.

§. 501.

Wenn eine Streitfrage nicht richtig bestimmt ist, so führen die
Gegner entweder gar keine Streitigkeit, oder sie verfallen auf einen Wortstreit
(logomachia), das ist, auf eine Streitigkeit, welche daher entsteht, weil man einander
nicht versteht §. 500, und das ist allemal eine thörichte und vergebliche
Sache. Davon sind aber verschieden die Streitigkeiten über Worte (controversia
philologica), welches wahre Streitigkeiten sind, deren Gegenstand aber
Worte oder andere Ausdrücke sind.

§. 502.

Gelehrte Streitigkeiten müssen nach folgenden Regeln geführt
werden: 1) der angreifende Theil suche einen Fehler in dem Beweise seines
Gegners §. 194, oder überhaupt eine Abweichung der Gedanken des Gegners
von den Regeln der Vernunftlehre. Alsdenn hat er zwar die Sache selbst nicht
widerlegt, aber doch die Art zu denken seines Gegners. Wider einen solchen
Angriff kann
 
[139]
  man sich entweder gar nicht vertheidigen, wenn er richtig
ist; oder man muss zeigen, man habe die Regeln der Vernunftlehre nicht verletzt,
deren Übertretung uns vorgeworfen worden.

§. 503.

2) Der angreifende Theil demonstrire den Gegensatz, so folgt
daraus, dass der streitige Satz falsch, und dass der Gegner irre §. 500. Wider
diesen Angriff kann man sich nur vertheidigen, wenn der Gegner einen Fehler
in seiner Demonstration begangen, und den muss man nach der ersten Regel
zeigen §. 502. Kann eine Parthei der andern zeigen, dass sie erweisliche Sätze
ohne Beweis annehme, so ist dieser Einwurf so lange unbeantwortet, bis dieser
Beweis geführt wird.

§. 504.

3) Der angreifende Theil widerlege den streitigen Satz durch
einen apogogischen Beweis §. 196. Dahin gehört auch, wenn man zeigt, dass
der streitige Satz einer andern Meinung des Gegners widerspreche, ob wir gleich
dieselbe nicht annehmen (argumentatio ad hominem). Wider einen solchen Angriff
kann man sich nur vertheidigen, wenn in dem apogogischen Beweise ein
Fehler ist, und den muss man dem Gegner zeigen §. 502.

§. 505.

4) Wenn einer von den Gegnern die Streitfrage verlässt, und
Dinge vorbringt, wodurch der bestrittene Satz nicht widerlegt, und der Gegensatz
nicht bewiesen wird; so muss man sich auf solche Sachen nicht einlassen,
sondern in der gegenwärtigen Streitigkeit es zugeben, damit sie nicht gar zu
weitläuftig werde §. 481. Die andere Parthei kann sich in diesem Falle nur
vertheidigen, wenn die erste aus Übereilung etwas zugestanden hat, und da muss
sie zeigen, dass das Zugestandene allerdings die Streitfrage betreffe.

§. 506.

5) Der angreifende Theil kann durch eine Einschränkung §. 299,
die er zu dem bestrittenen Satze hinzu thut, zeigen, dass derselbe nicht so allgemein
wahr
 
[140]
  sei, als ihn der Gegner ausgiebt. Wider diesen Angriff können
wir uns nur vertheidigen, indem wir entweder zeigen, dass diese Einschränkung
in die dermalige Streitfrage keinen Einfluss habe, oder dass sie falsch sei, oder
wenn wir tüchtig beweisen, dass unser Satz ohne Einschränkung wahr sei.

§. 507.

6) Der angreifende Theil bringt wider seinen Gegner eine Unterscheidung
(distinctio) an, oder er zeigt den Unterschied der Dinge, die der
Gegner verwechselt hat, und durch deren Verwechselung er verleitet worden, in
eine Streitigkeit sich einzulassen, oder zu irren. Wider eine Unterscheidung
kann man sich eben so vertheidigen, als wider eine Einschränkung §. 506.

§. 508.

7) Der angreifende Theil kann, durch Instanzen, die Allgemeinheit
der bestrittenen Sätze widerlegen. Eine Instanz (instantia) ist eine Ausnahme
von einem Satze, aus welcher hinlänglich erhellet, dass er nicht allgemein wahr
sei. Wider eine Instanz kann man sich nur vertheidigen, wenn man sie entweder
annimmt, oder zeigt, dass sie sich nicht passe, oder den bestrittenen Satz so
einschränkt, dass sie sich nicht passt; oder die Allgemeinheit des bestrittenen
Satzes, ohne Absehen auf die Instanz, darthut.

§. 509.

8) Der angegriffene Theil braucht Repressalien (retorsio), wenn
er zeigt, dass dasjenige, was der Gegner durch den apogogischen Beweis aus
dem bestrittenen Satze hergeleitet §. 504, vielmehr aus dem Gegensatze folge.
Und da kann sich der angreifende Theil nicht anders vertheidigen, als wenn er
zeigt, dass sein Gegner einen Fehler in seinem Beweise begehe.

§. 510.

9) Nach vollendeter Widerlegung suche man bei dem Gegner einen
Abscheu vor dem Irrthume beizubringen, indem man, doch ohne Verletzung der
Pflichten, die man dem Gegner schuldig ist, zeigt, dass derselbe
 
[141]
  gefährlich,
schädlich und lächerlich sei. Wider diesen Angriff kann man sich nur vertheidigen,
wenn man zeigt, der Gegner sehe unsere Meinung von der unrechten
Seite an. Durch eine richtige Beobachtung dieser Regeln werden, die Widerlegungen,
zugleich praktisch §. 489.

§. 511.

Wenn man aus dem bestrittenen Satze schlimme und ungereimte
Folgen herleitet, nicht etwa den Gegner von seinem Irrthume zu überzeugen,
sondern ihn irgends auf eine Art zu beleidigen, so ist man ein Folgenmacher
oder Consequenzenmacher (consequentiarius). Die Consequenzenmacherei ist
nicht nothwendig ein Fehler wider die Vernunftlehre, aber sie ist allemal eine
Sünde, und also werth, dass sie von allen redlichen Leuten verabscheuet werde.

§. 512.

Die Vertheidigung wider einen Folgenmacher heisst die Verantwortung
(apologia); dieselbe kann man entweder mit logischen Waffen führen,
wenn der Folgenmacher Fehler wider die Vernunftlehre begangen hat §. 511,
da man ihm zugleich seinen Unverstand und böses Herz, doch ohne Folgenmacherei,
zeigen muss; oder man muss sich der Waffen des Rechts bedienen,
und alsdenn hat die Vernunftlehre nichts mehr dabei zu erinnern.

§. 513.

Obgleich die gelehrten Streitigkeiten Nutzen haben §. 178, so muss
doch ein Gelehrter 1) kein Handwerk aus der Widerlegung anderer machen;
2) über keine Kleinigkeit einen eigenen Streit anfangen; 3) die wichtigen und
nöthigen Widerlegungen vollkommen gründlich führen, und 4) sich nicht wider
alle Angriffe vertheidigen.

§. 514.

Zwei streitende Partheien disputiren mit einander (disputatio
formaliter sumta), wenn der Gegensatz gelehrt vorgetragen und beurtheilt wird,
und wenn beides mündlich und in Gegenwart beider Partheien geschieht.
 
[142]
  Wer
den Gegensatz gelehrt vorträgt, ist der Opponente (opponens), und wer ihn beurtheilt,
das ist, das Falsche und Ungewisse in demselben und seinem Beweise
entdeckt, ist der Respondente (respondens). Damit nun das Disputiren nicht
unordentlich und gar zu weitläuftig werde, so muss nur der Opponente Beweise
führen, und der Respondente nichts weiter thun, als die Beweise beurtheilen.

§. 515.

Da die Reden, welche beim Disputiren gehalten werden, nicht
in den Bezirk der Vernunftlehre gehören; so ist klar, dass der Opponente den
Anfang des Disputirens macht, und da muss er 1) die Streitfrage bestimmen
§. 500. 501. Wenn er die Meinung des Respondenten nicht versteht, so muss
er sich dieselbe von ihm erklären lassen. 2) Er greife den Respondenten an
nach einer der §. 502-510 vorgetragenen Regeln. 3) Er trage, der Kürze und
Deutlichkeit wegen, seine Beweise in förmlichen Schlussreden vor §. 399, und
4) um eben der Ursache willen bediene er sich der analytischen Lehrart §. 423.
Die sokratische und platonische Lehrart macht das Disputiren zu weitläuftig
und beschwerlich §. 430. Man müsste denn durch die erste sich genöthiget
sehen, den andern Theil bei der Streitfrage zu erhalten.

§. 516.

Der Respondente nimmt das Argument an (assumere argumentum),
wenn er den Einwurf des Opponenten wiederholt, und das ist nützlich, um
denselben recht zu überlegen, damit er ihn tüchtig beantworten könne. Um der
Kürze willen muss der Respondente weiter nichts thun, als zeigen, wo der
Opponente entweder in der Materie, oder in der Form seines Beweises einen
Fehler begangen §. 502, und da muss er verlangen, dass der Opponente entweder
seinen Vernunftschluss ändere, oder den Vordersatz beweise, der dem Respondenten
falsch oder ungewiss zu sein scheint.

 
[143]
 

§. 517.

Der Beistand des Respondenten (praeses) soll verhüten,
dass der Respondente nicht den Gegensatz einräume, der noch nicht genungsam
erwiesen worden. Er muss also, wenn der Respondente nichts oder nichts Geschicktes
mehr zu antworten weiss, sein Amt übernehmen §. 516.

Der vierte Abschnitt,
von gelehrten Schriften.


§. 518.

Der Vortrag vergangener Begebenheiten ist die Geschichte (historia).
Die gelehrten Schriften tragen entweder Geschichte vor, oder dogmatische
Wahrheiten §. 104. Jenes sind historische (scripta erudita historica),
und diese dogmatische Schriften (scripta dogmatica). Welche entweder eine
gemeine Erkenntniss dogmatischer Wahrheiten vortragen, oder eine gelehrte
§. 18. 21. Jene sind historisch-dogmatische (scriptum historico-dogmaticum),
diese aber systematische Schriften (scriptum systematicum), welche scientifische
Schriften sind (scriptum scientificum), wenn sie eine Wissenschaft vortragen §. 434.
Eine jede Schrift ist in Absicht auf ihren Inhalt entweder sehr weitläuftig, oder sehr
kurz. Jene ist ein grosses Werk (systema), diese aber ein Auszug (compendium).

§. 519.

Die Historie erzählt entweder Sachen, die zur Natur und Kunst
gehören, in so ferne man dabei weder die freien Handlungen der Menschen, noch
ihre nähere Würkungen in Betrachtung zieht; oder sie erzählt die freien Handlungen
der Menschen, sammt alle demjenigen, was damit in einer nähern Verbindung
steht. Jene ist die Geschichte der Natur und Kunst (historia naturae
et artis), diese aber die Historie schlechtweg (historia stricte dicta). Zu
der letzten gehört 1) die politische
 
[144]
  Historie (historia politica), welche
die bürgerlichen und politischen Handlungen der Menschen erzählt; 2) die
Kirchenhistorie (historia ecclesiastica), erzählt die Schicksale der Kirchen, und
die Handlungen der Menschen, welche in dieselbe einen merklichen Einfluss
haben; 3) die Privathistorie (historia privata), erzählt den Lebenslauf einzelner
Personen, in so ferne derselbe keinen merklichen Einfluss in den Staat, die
Kirche und die Gelehrsamkeit hat; 4) die gelehrte Historie (historia litteraria),
erzählt die Begebenheiten der gelehrten Welt, und sie ist entweder eine Historie
der Disciplinen, oder der Gelehrten, oder der gelehrten Schriften.

§. 520.

Eine historische Schrift muss 1) ausführlich sein §. 481. 482,
weder zu weitläuftig, noch zu kurz. Sie kann also in einer Absicht und für
einen Leser ausführlich sein, in einer andern Absicht und für einen andern
Leser zu weitläuftig, und in einer dritten Absicht und für einen dritten Leser
zu kurz. Mit der Zeit wird eine jede Historie zu kurz. 2) Wichtig, was sowohl
den ganzen Inhalt betrifft, als auch dasjenige, was von demselben erzählt wird
§. 483. 3) Richtig §. 484. 4) Deutlich §. 485, daher ofte Gemälde und Kupferstiche
nöthig sind. 5) Gründlich §. 488, folglich alles beweisen, nach den Regeln
des 206 - 215ten Absatzes. 6) Praktisch oder pragmatisch (historia pragmatica)
§. 489. 7) Methodisch §. 487. 432.

§. 521.

Wenn die Historie pragmatisch und ausführlich zu gleicher Zeit
sein soll, so muss sie dergestalt vorgetragen werden, dass eine Absicht erreicht
werde, die praktisch genung ist §. 520. Da nun alles, was in dieser Welt
würklich ist, wenn es von uns Menschen erkannt werden kann, nicht nur zur Ehre
GOttes, sondern auch zu unserer Glückseligkeit abzwecket; so muss ein Historienschreiber
diese beiden Absichten durch die Historie zu erreichen suchen. Insbesondere
muss man bei der Naturgeschichte eine doppelte Absicht haben
§. 519: 1) die Vollkommenheiten GOttes
 
[145]
  aus den natürlichen Dingen besser
kennen zu lernen, und 2) den Lesern deutliche Begriffe von den natürlichen
Dingen beizubringen, und dadurch den Weg zur gelehrten Erkenntniss derselben
zu bahnen.

§. 522.

Die Historie im engern Verstande §. 519, gereicht zur Ehre GOttes,
wenn man aus den Begebenheiten der Menschen die göttliche Regierung des
menschlichen Geschlechts, und die Vollkommenheiten, die GOtt bei derselben
offenbaret, erkennet. Zur Glückseligkeit der Menschen gereicht 1) die bürgerliche
Historie, wenn man daraus die politische Klugheit in Krieges- und Friedensgeschäften
lernen kann; 2) die Kirchenhistorie, wenn man daraus die Klugheit
lernen kann, die Kirche zu regieren, und wenn sie die Kennzeichen der wahren
und falschen Kirche entwickelt; 3) die gelehrte Geschichte, wenn sie die Gelehrsamkeit
befördert; 4) die Privathistorie, wenn man daraus die menschliche
Klugheit im Privatleben lernen kann.

§. 523.

Die historisch-dogmatischen Schriften sind keine gelehrten Schriften
§. 518. Wenn sie aber ausführlich, wichtig, verständlich, richtig und praktisch
sind; so sind sie Leuten sehr nützlich, die nicht gelehrt werden können und
wollen, desgleichen auch Kindern, die zu den Wissenschaften angeführt werden
sollen, um ihnen einen Vorschmack der Gelehrsamkeit einzuflössen.

§. 524.

Ein systematisches Buch muss 1) ausführlich sein §. 481. 482.
Also muss es entweder alles enthalten, was zu der Zeit, da das Buch geschrieben
worden, von einer Doctrin bekannt ist, oder es muss so viel von derselben enthalten,
als die besondere Absicht des Verfassers erfodert. Die ausführlichsten
Schriften können mit der Zeit unausführlich werden, und man muss also die
Ausführlichkeit eines dogmatischen Buchs, in Absicht auf die Zeit, den Verfasser
und Leser sorgfältig von einander unterscheiden; 2) wichtig §. 483; 3) richtig §. 484,
indem nicht nur alle Gedanken, die in ihm enthalten sind,
 
[146]
  wahr sind, sondern
ein jeder auch den Regeln der Vernunftlehre gemäss ist. 4) Deutlich und verständlich
§. 485. 5) Gründlich §. 488, es muss also nach der gelehrten Lehrart und
zusammenhangend geschrieben sein. 6) Praktisch §. 489. 7) Methodisch §. 414-438.

§. 525.

Das Zusammenschmieren (compilatio) besteht darin, wenn ein
Verfasser alles, was er hie und da von der Materie, von welcher er schreiben
will, findet, zusammenschreibt, ohne es gehörig mit einander zu verbinden. Obgleich
ein zusammengeschmiertes Werk andern Gelehrten nützlich sein kann, so
bleibt es doch, in Absicht auf den Verfasser, ein elendes Werk. Eine Schrift
wird zusammengestohlen (plagiarius), wenn sich der Verfasser für den Erfinder
derjenigen Gedanken ausgiebt, die er von andern gelernt hat.

§. 526.

Wer aus einem grossen Werke einen Auszug macht (epitomator),
indem er aus jenem alles weglässt, was in Absicht auf seinen kleinern
Zweck überflüssig ist, der kann ein sehr nützliches und nöthiges Buch schreiben,
wenn er nur seine Absicht vernünftig erwählt hat §. 518.

Der vierte Haupttheil,
von dem Charakter eines Gelehrten.


§. 527.

Der Charakter eines Gelehrten (character eruditi) besteht in
dem Inbegriffe dererjenigen seiner Merkmale, welche die nähern Gründe und Ursachen
der gelehrten Erkenntniss sind.

§. 528.

Der allgemeine Charakter eines Gelehrten (generalis character
eruditi) ist der Charakter eines Gelehrten, in so ferne er die nähern Gründe
der Gelehrsamkeit überhaupt enthält; der besondere aber
 
[147]
  (character eruditi
specialis), in so ferne er die nähern Gründe von dieser oder jener Art, und
von diesem oder jenem Theile der Gelehrsamkeit enthält.

§. 529.

Das erste Stück des allgemeinen Charakters eines Gelehrten besteht
in dem gelehrten Naturell (natura erudita), oder in derjenigen Proportion
aller Kräfte der Seele, vermöge deren ein Mensch zu der gelehrten Erkenntniss
geschickt und geneigt ist §. 528.

§. 530.

Zu dem gelehrten Naturell gehört 1) der Mutterwitz, der gelehrte
Kopf (ingenium eruditum), die Proportion der Erkenntnisskräfte, wodurch
ein Mensch zur gelehrten Erkenntniss geschickt ist. Dahin gehört a) die
Vernunft (ratio), das Vermögen, den Zusammenhang der Dinge deutlich einzusehen
§. 21, welche von Natur aufgelegt sein muss, gesund, weitausgedehnt,
stark, gründlich und schön zu werden. b) Der Verstand (intellectus), das Vermögen
deutlicher Erkenntniss §. 21. 17, welcher von Natur aufgelegt sein muss,
weitausgedehnt, tiefsinnig, rein und schön zu werden. Folglich gehört zum
Mutterwitze eine grosse Aufmerksamkeit, Nachdenken, Überlegung und Abstraction
§. 142. 2) Ein schöner Geist (ingenium pulchrum), die Proportion
der Erkenntnisskräfte, vermöge welcher ein Mensch zum schönen Denken aufgelegt
ist §. 32.

§. 531.

Zu dem gelehrten Naturell gehört 2) das gelehrte Temperament
(temperamentum eruditum), oder die Proportion der Begehrungskräfte, und die
Übereinstimmung derselben mit dem Mutterwitze, kraft welcher ein Mensch nicht
nur geneigt ist, eine gelehrte Erkenntniss zu erlangen, sondern vermöge welcher
auch die Erkenntnisskräfte gehörig angestrengt werden, die vollkommenste gelehrte
Erkenntniss zu würken §. 529.

§. 532.

Das gelehrte Naturell ist ein blosses Glücksgut, welches einem
Menschen angeboren werden
 
[148]
  muss, ohne welchem es aber unmöglich ist,
irgends durch eine Kunst die gelehrte Erkenntniss zu erlangen.

§. 533.

Der Mutterwitz wird die angeborne natürliche Vernunftlehre
(logica naturalis connata) genannt, die Wissenschaft aber der gelehrten Erkenntniss
und des gelehrten Vortrages der Schulwitz, oder die künstliche Vernunftlehre
(logica artificialis). Die undeutliche Erkenntniss der Regeln des Mutterwitzes,
sammt der Fertigkeit sie zu beobachten, die man durch den blossen Gebrauch
des Mutterwitzes erlangt, heisst die erlangte natürliche Vernunftlehre
(logica naturalis acquisita theoretica et practica), und man rechnet sie zum
Mutterwitze im weitern Verstande. Der Mutterwitz widerspricht dem Schulwitze
nicht, er ist sowohl in der Theorie, als auch in der Ausübung des letztern unentbehrlich.
Er ist auch ausser den Disciplinen hinreichend. Allein ohne Schulwitz
kann keine gelehrte Erkenntniss erlangt werden, er verbessert den Mutterwitz,
und wenn mit einem grossen Mutterwitze ein grosser Schulwitz verbunden wird,
so kann es ein Mensch viel höher bringen, als durch den besten Mutterwitz
allein genommen.

§. 534.

Wer ein grosser Gelehrter werden will, der muss der Natur folgen,
und sich nur der gelehrten Erkenntniss befleissigen, wenn er das gelehrte Naturell
besitzt, und in so ferne er es besitzt §. 532.

§. 535.

Man kann erkennen, ob man das gelehrte Naturell besitzt: 1) wenn
man eine vernünftige Neigung zu der gelehrten Erkenntniss hat, weil uns ihre
Vollkommenheiten vergnügen; 2) wenn es uns leicht von statten geht, so oft
wir gelehrt denken; 3) wenn man durch einen Versuch gewahr wird, man könne
würklich gelehrt denken.

§. 536.

Das andere Stück, des allgemeinen Charakters eines Gelehrten,
besteht in den Fertigkeiten, die er durch Übungen nach und nach erlangt §. 527.
Zu den Fertigkeiten eines Gelehrten gehört: 1) Die Ausdehnung
 
[149]
  des Verstandes
und der Vernunft (extensio intellectus$b et rationis), die Fertigkeit
viele Dinge deutlich und in einem vielfältigen Zusammenhange, und von einem
jeden Dinge viele klare Merkmale zu erkennen §. 25. 2) Die Stärke der Vernunft
und des Verstandes (intensio intellectus$b et rationis), die Fertigkeit, die
Sachen in einem grossen Grade der Vollständigkeit und mathematischen Gewissheit
zu erkennen §. 27. 28. 29. 3) Die Fertigkeit schön zu denken §. 32.
4) Ein grosses Herz §. 91 (magnitudo pectoris), die Fertigkeit dem gelehrten
Temperamente gemäss zu denken und zu handeln §. 531, welches die Fertigkeit
voraus setzt, nicht anders als gross und praktisch zu denken §. 26. 30.

§. 537.

Die gelehrten Übungen sind 'A) die allgemeinern (exercitia
generaliora), die öftern Wiederholungen des gelehrten Meditirens überhaupt. Dahin
gehöret 1) das gelehrte Naturalisiren, die Übungen, die man ohne Kunst
vornimmt, und welche die natürliche erlangte Vernunftlehre ausmachen §. 433.

§. 538.

2) Die vollkommenern, regelmässigen und künstlichen Übungen
(exercitia oculatiora, logica artificialis practica), oder die öftere Beobachtung der
Regeln der künstlichen Vernunftlehre. Zu dem Ende a) lerne man eine gute
künstliche Vernunftlehre; b) man suche alle Regeln derselben auszuüben; c) wenn
man eine Reihe Gedanken, nach den logischen Regeln, erzeuget und aufgeschrieben
hat, so halte man sie gegen diese Regeln, und untersuche, wo man
sie beobachtet habe oder nicht. Durch diese Übungen muss man es endlich
dahin bringen, dass man, die Regeln der künstlichen Vernunftlehre, im Denken
und Reden beobachte, ohne sich ihrer bewusst zu sein.

§. 539.

'B) Die besondern gelehrten Übungen, oder das Studiren (exercitia
erudita specialiora) besteht in allen Handlungen, wodurch die gelehrte
Erkenntniss
 
[150]
  in demjenigen entsteht und verbessert wird, der diese Handlungen
vornimmt. Es gehören dahin sechs Übungen.

§. 540.

I) Das Lernen aus einem mündlichen Vortrage. Weil diese Übung
die leichteste und sicherste ist, so muss man von ihr den Anfang machen. Wer
durch diese Übung gelehrt werden will, der muss 1) seinen Kopf, durch die
niedrigern und schönen Wissenschaften, zur Gelehrsamkeit vorbereitet haben.
2) Er muss sich, wenigstens einen mittelmässig tüchtigen Lehrer, aussuchen, aus
dessen mündlichem Vortrage er eine gute gelehrte Erkenntniss zu erlangen
hoffen kann. 3) Er muss auf den mündlichen Vortrag gehörig Achtung geben,
damit er den Lehrer und seinen Vortrag recht verstehe. 4) Er muss alles,
was der Lehrer vorträgt, oder wenigstens die Hauptsachen seines Vortrages durchmeditiren
§. 436. 437. 5) Er muss alles, was er gehört hat, logisch beurtheilen
(logice diiudicare), das ist, zu erkennen suchen, was für logische Vollkommenheiten
oder Unvollkommenheiten in demselben angetroffen werden. Daher muss
er untersuchen, zu was für einer Art und Gattung der gelehrten Erkenntniss
dasjenige gehört, was er beurtheilen will; er muss sich der logischen Regeln dieser
Art oder Gattung erinnern, und aus der Vergleichung des Gegenstandes mit diesen
Regeln zu erkennen suchen, ob er denselben gemäss oder nicht gemäss sei.

§. 541.

II) Das Lesen gelehrter Schriften. Zu dem Ende muss man a) einen
vernünftigen Zweck sich vorsetzen, um dessentwillen man gelehrte Schriften lesen
will. Ein Studirender muss also Bücher lesen, 1) um eine Disciplin zu wiederholen,
die man schon gelernt hat; 2) um unsere gelehrte Erkenntniss immer
mehr und mehr zu verbessern; 3) um einen Theil der Gelehrsamkeit zu lernen,
den man noch nicht versteht; 4) um sich in der Beobachtung der Regeln der
Vernunftlehre zu üben. b) Man muss sich ein Buch aussuchen, welches geschickt
ist, diese Absicht zu
 
[151]
  befördern. Folglich muss man 1) nicht alle Bücher
so lesen, wie sie einem unter die Hände gerathen. 2) Im Anfange nur solche
Bücher lesen, von denen man, nach einer logischen Beurtheilung, gefunden hat,
dass sie geschickt sind, unsere Absicht zu befördern. 3) Wenn man schon eine
Fertigkeit besitzt gelehrt zu denken, so kann man auch mit Nutzen solche Bücher
lesen, die voller Mängel und Fehler sind. c) Man muss das Buch und den Verfasser
recht zu verstehen suchen. d) Man muss einen jeden Gedanken, welcher
in dem Buche vorgetragen worden, durchmeditiren und logisch beurtheilen, wie
§. 540. n. 4. 5, damit man die vorgetragenen Sachen recht einsehen lerne.

§. 542.

Das nützliche Lesen gelehrter Schriften wird, durch die Beobachtung
folgender Regeln, befördert: 1) Man lese mit der grössten Aufmerksamkeit, ohne
fremde Gedanken zu dulden. 2) Man lese das Buch von vorne an durch, wenn
es systematisch geschrieben ist. 3) Man unterbreche das Lesen niemals in einer
genau zusammenhangenden Materie. 4) Man lese das Buch langsam eilend durch,
und weder zu geschwinde noch zu langsam. 5) Man muss des Lesens nicht
überdrüssig werden, ehe man zu Ende gekommen. 6) Man muss nicht gar zu
viele Bücher, sonderlich von verschiedenem Inhalt, unter einander lesen. 7) Man
mache von den kürzern Auszügen den Anfang, gehe zu den grössern Werken
fort, und endlich lese man Schriften, welche von besondern Materien ausführlich
handeln. 8) Man lese die Schriften, die zu einem Haupttheile der Gelehrsamkeit
gehören, nach der synthetischen Lehrart.

§. 543.

Das Lernen der gelehrten Erkenntniss wird sehr befördert, theils
wenn man anfangs nur von Einem Lehrer die Anfangsgründe der Gelehrsamkeit,
der man sich gewidmet hat, lernt; theils wenn man die gelernten Wahrheiten
alsobald braucht und zur Ausübung bringt.

 
[152]
 

§. 544.

III) Die öftere Wiederholung (repetitio), oder Erinnerung
desjenigen, was man gelernt hat. Dazu wird erfodert, dass man folgende Regeln
beobachte: 1) Man muss, aus dieser Wiederholung, kein blosses Auswendiglernen
machen. 2) Man muss bei der Wiederholung einen jeden Gedanken
eben so durchmeditiren und beurtheilen, als wenn man ihn zum erstenmal lernen
wollte, ob dieses gleich immer hurtiger und leichter von statten geht. 3) Man
wiederhole die, nach der synthetischen Lehrart gelernten, Wahrheiten nach der
analytischen und schliessenden Lehrart §. 423. 428. 4) Man wiederhole die
Wiederholung öfters, mit einiger Veränderung. 5) Man lerne immer mehr zu,
und übe die gelernten Wahrheiten aus. 6) Wenn man bei der Wiederholung
seine Meditationen aufschreibt, so wird dadurch diese Übung sehr befördert.
7) Man trage die gelernten Wahrheiten schriftlich oder mündlich auf eine gelehrte
Art vor. 8) Man unterrede sich mit andern von den gelernten Wahrheiten.

§. 545.

Die Wiederholung und das Erlernen der gelehrten Erkenntniss
wird sehr befördert, wenn man sich kurz, und mit einer vernünftigen Wahl,
dasjenige aufschreibt, was man zu vergessen befürchtet, und welches uns das
übrige zugleich wieder ins Gedächtniss bringet.

§. 546.

IV) Das Nachforschen (investigatio), oder die vernünftige Nachahmung
anderer Gelehrten in ihrem gelehrten Denken und Vortrage. Zu dem
Ende 1) erwähle man sich einen grossen Gelehrten, zum Muster der Nachfolge.
2) Man untersuche, wie es derselbe macht, dass er so gelehrt, so gründlich, so
ordentlich u.s.w. denkt. 3) Man untersuche, wie er die Wahrheiten entdeckt
hat, oder wie sie könnten entdeckt werden, wenn sie noch nicht erfunden wären.
4) Man suche in ähnlichen Fällen eben so zu denken, und zu reden.

§. 547.

V) Man trage andern die Disciplinen auf eine gelehrte Art, entweder
mündlich oder schriftlich vor.
 
[153]
  Oder der gelehrte Vortrag ist eine
Übung in der gelehrten Erkenntniss; denn durch Lehren lernen wir.

§. 548.

VI) Die Erfindung neuer Wahrheiten (inventio), wenn wir auf
eine gelehrte Art etwas erkennen, ohne dass wirs von andern Menschen lernen;
wir mögen nun entweder die ersten Menschen sein, die dasselbe erkennen, oder
es mögen es schon andere vor uns gewusst haben. Diese Übung ist die schwerste,
welche man bis zuletzt versparen muss.

§. 549.

Ein Autodidaktus ist ein Gelehrter, welcher ohne Lehrer gelehrt
worden ist, es sei nun, dass er entweder seine ganze Gelehrsamkeit erfunden
§. 548, oder nur keinen mündlichen Unterricht genossen hat. Ein vernünftiger
Mensch erwählt den leichtesten und sichersten Weg, wenn er zuerst aus einem
mündlichen Vortrage zu lernen sucht, alsdenn Bücher lieset, und seine Erfindungskraft
lieber anwendet ganz neue Wahrheiten zu entdecken, als solche, die
schon längst bekannt gewesen sind, wenn ihm alles dieses sonst nur möglich ist.

§. 550.

Gleichwie es ein Fehler ist, wenn man ohne Mutterwitz gelehrt
werden will §. 534; also ist es eine nachlässige Art gelehrt zu denken (negligens
eruditionis genus et impolitum), wenn man mit dem Mutterwitze nicht
die Kunst gehörig verbindet §. 533.

§. 551.

Die affectirte und gezwungene Art gelehrt zu denken (affectatum
et coactum eruditionis genus) entsteht daher, wenn der Schulwitz mit dem Mutterwitze
auf eine schlechte Art verbunden wird: 1) wenn die Regeln der
künstlichen Vernunftlehre falsch und ungegründet sind; 2) wenn ihre richtigen
Regeln schlecht angewendet werden, indem sie sich entweder für die Wahrheiten,
oder für das Naturell des Gelehrten nicht schicken.

§. 552.

Eine Erkenntniss und ein Vortrag, welche bloss gelehrt sind, sind die
trockene, nüchterne, rauhe, scholastische und schulfüchsische Art der Gelehrsamkeit
 
[154]
 
(macilentum, ieiunum, pedanticum, scholasticum eruditionis
genus). Um dieselbe zu verhüten, muss ein Studirender täglich einige Zeit, in
den Erholungsstunden, auf die schönen Wissenschaften wenden.

§. 553.

Das dritte Stück des allgemeinen Charakters eines Gelehrten besteht
in dem gelehrten Fleisse (diligentia erudita), oder in einer so grossen
Anstrengung aller erlangten gelehrten Fertigkeiten, als jedesmal erfodert wird,
wenn man in einem gewissen Grade der Vollkommenheit gelehrt denken und
vortragen will §. 527. Zu dem Ende muss man zehn Regeln beobachten.

§. 554.

1) Ein Studirender muss, vor allen Dingen, den Horizont seiner
gelehrten Erkenntniss aufs richtigste abzeichnen, damit er jedesmal schon wisse,
worauf er seinen gelehrten Fleiss zu richten habe. Und damit dieser Horizont
weder zu klein noch zu gross angenommen werde, so muss man ihn nach und
nach weiter ausdehnen, nachdem unsere Kräfte und Geschicklichkeiten zunehmen.

§. 555.

2) Ein Studirender muss seine Kräfte aufs genaueste beurtheilen,
ob sie zur Gelehrsamkeit überhaupt, und zu demjenigen Theile derselben, auf
die er sich legt, und zu der Erkenntniss dieser oder jener Wahrheit zureichen.
Zu dem Ende a) muss er sich prüfen, ob er das gelehrte Naturell besitze
§. 529-535. b) Man verwandele dasjenige, in dessen Absicht man seine Kräfte
prüfen will, in eine Aufgabe §. 328-339, und untersuche, ob man Kräfte genung
habe, die Auflösung würklich zu machen. c) Man hüte sich, vor dem Vorurtheile
des gar zu grossen Vertrauens und Misstrauens, bei der Beurtheilung seiner
Kräfte §. 170. d) Man prüfe seine Kräfte durch einen treuen Versuch. 'e) Man
lasse sich von andern beurtheilen.

§. 556.

3) Beim Studiren muss man nicht zu viel Fleiss anwenden, und
den gelehrten Fleiss nicht richten auf Dinge, die über, unter und ausser dem
Horizonte unserer gelehrten Erkenntniss angetroffen werden §. 554.

 
[155]
 

§. 557.

4) Man muss auch nicht zu wenig Fleiss anwenden, sondern
so viel als erfodert wird, alle gelehrte Übungen gehörig vorzunehmen, und nach
und nach den ganzen Horizont unserer gelehrten Erkenntniss zu durchstudiren.

§. 558.

5) Man muss so zeitig zu studiren anfangen, als es möglich ist;
was man thun will, das thue man bald.

§. 559.

6) Man muss, wenn es sonst uns möglich ist, täglich studiren,
und gelehrt denken. Wer nicht weiter vorwärts geht, der geht rückwärts.

§. 560.

7) Man muss, mitten in dem Laufe des Studirens, jederzeit langsam
eilen. Damit man nicht zu sehr eile, muss man eine gelehrte Beschäftigung
nicht eher verlassen, bis man nicht allen Regeln der Vernunftlehre bei derselben
ein Genügen geleistet. Damit man aber auch nicht zu langsam sei, muss man die
Begierde zu studiren gehörig anfeuren.

§. 561.

8) Man muss niemals zu lernen aufhören, indem man entweder
immer was Neues zulernt, oder das schon Gelernte besser erkennen lernt.

§. 562.

9) Man muss die schon erlangte Gelehrsamkeit beständig zu verbessern,
und ihre noch rückständigen Mängel und Fehler zu heben suchen.

§. 563.

10) Man muss mit dem Studiren die tägliche Erfahrung, den Umgang
mit der ehrbaren Welt, und den Gebrauch der Dinge selbst, über die man
gelehrt meditirt, verknüpfen; damit man nicht als ein blosser gelehrter Wurm
vom Schulstaube lebe, und platonische Republiken erträume.