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[79] §. 285. Die logische Eintheilung der Begriffe
(divisio logica) besteht
in einer deutlichen Vorstellung aller niedrigern Begriffe, die einander
entgegen gesetzt
sind, und die unter einem und eben demselben höhern Begriffe
enthalten sind. Dieser höhere Begriff heisst der eingetheilte Begriff
(divisum),
und die niedrigern Begriffe, die Glieder der Eintheilung (membra
dividentia).
Wenn man demnach eine logische Eintheilung machen will, 1) so nehme
man
einen abgesonderten Begriff; 2) man erfinde alle Unterschiede seiner
niedrigern
Begriffe, die einander entgegen gesetzt sind; 3) diese Unterschiede
verbinde
man nach und nach, durch eine Entgegensetzung, mit dem höhern Begriffe.
Z.E. alle Begriffe sind entweder dunkele oder klare Begriffe.
§. 286. Eine Eintheilung eines Gliedes der Eintheilung
wird eine Untereintheilung
(subdivisio) genannt, und verschiedene Eintheilungen eines
Begriffs,
welche in verschiedener Absicht gemacht werden, heissen Nebeneintheilungen
(codivisiones). Es ist vor sich klar was der eingetheilte
Begriff der Untereintheilung
(subdivisum), und der Nebeneintheilungen (codivisum) sei.
Desgleichen
die Glieder der Untereintheilung (membra subdividentia), und der
Nebeneintheilungen (membra codividentia) sind.
§. 287. Wenn eine logische Eintheilung richtig sein soll,
so muss 1) der
eingetheilte Begriff nicht weiter sein, als die Glieder der
Eintheilung, wenn
sie durch eine Entgegensetzung (disiunctive) zusammen genommen
werden;
oder es muss kein Glied der Eintheilung ausgelassen werden, weil sonst
nicht
alle niedrigere Begriffe, die einander entgegen gesetzt sind, würden
angeführt
sein §. 285. 262. 2) Der eingetheilte Begriff muss nicht
enger sein, als
die Glieder der Eintheilung, wenn sie durch eine Entgegensetzung
zusammen genommen
werden §. 262. Sonst würde man unter die [80] Glieder
der Eintheilung einen Begriff mengen, welcher kein niedriger Begriff
des eingetheilten
Begriffs ist §. 285. Folglich sind der eingetheilte Begriff,
und die
Glieder der Eintheilung, wenn sie durch eine Entgegensetzung
zusammen genommen
werden, Wechselbegriffe §. 262, und die Eintheilung muss den
eingetheilten
Begriff erschöpfen.
§. 288. 3) Die Glieder der Eintheilung müssen so
entgegen gesetzt
sein, dass keines dem andern zukommt §. 285. 260. 4) Der
eingetheilte
Begriff muss keinem Gliede der Eintheilung widersprechen: denn er ist
in
ihm enthalten §. 285. 260. 5) Die Glieder der
Untereintheilung müssen
nicht, unter die Glieder der Eintheilung, gesetzt werden: sonst würden
nicht alle Glieder einander entgegen gesetzt sein
n. 3. 4. §.286. 6) Die Zahl
der Glieder der Eintheilung muss bloss durch die Natur des
eingetheilten
Begriffs, und der Absicht, in welcher er eingetheilt wird, bestimmt
werden.
§. 289. Wem der eingetheilte Begriff zukommt,
dem kommt auch Ein
Glied der Eintheilung zu; wem Ein Glied der Eintheilung
zukommt, dem kommt
auch der eingetheilte Begriff zu; wem der eingetheilte Begriff
nicht zukommt,
dem kommt keins von den Gliedern der Eintheilung
zu; wem keins von den
Gliedern der Eintheilung zukommt, dem kommt auch
der eingetheilte Begriff
nicht zu §. 287.
§. 290. Die logischen Eintheilungen 1) befördern die
Erfindung gelehrter
Begriffe durch die willkürliche Verbindung §. 285. 266.
2) Dienen uns, um
unsere abgesonderten Begriffe in eine gehörige Ordnung und Verbindung
zu
setzen, und sie desto leichter zu behalten; 3) überzeugen uns von der
Allgemeinheit
unserer abstracten Erkenntniss.
§. 291. Man muss sich bei den Eintheilungen in acht
nehmen, dass man
sie, nebst ihren Unterabtheilungen, nicht zu sehr häufe, weil sonst eine
grosse
Verwirrung entsteht; und man muss bei denselben alles gezwungene Wesen
verhüten.
[81] Der neunte Abschnitt,
von den gelehrten Urtheilen.
§. 292. Begriffe, die einander zukommen §. 260,
stimmen mit einander
überein; die aber einander nicht zukommen, sind einander zuwider,
oder
streiten mit einander (repugnare). Die Übereinstimmung und der
Streit mehrerer
Begriffe sind die logischen Verhältnisse der Begriffe (logica
conceptuum
relatio). Ein Urtheil (iudicium) ist eine Vorstellung eines
logischen
Verhältnisses einiger Begriffe; und in so ferne von demselben alles
abgesondert
wird, ohne welchem die Wahrheit desselben gelehrt erkannt werden
kann, wird es ein logisches Urtheil (iudicium logicum) genennet,
welches ein
gelehrtes Urtheil (iudicium eruditum) ist, wenn es allen Regeln
der gelehrten
Erkenntniss, so viel als möglich ist, gemäss ist.
§. 293. Derjenige Begriff, von welchem wir uns in einem
Urtheile vorstellen,
dass ihm ein anderer zu oder nicht zukomme, ist
das Subject (subiectum);
der andere im Gegentheil, von dem wir uns vorstellen, dass er dem
Subjecte
zu oder nicht zukomme, ist das Prädicat
(praedicatum). Die Vorstellung
der Übereinstimmung mehrerer Begriffe ist der Verbindungsbegriff
(copula).
Die Verneinung (negatio) ist die Vorstellung der Abwesenheit
einer Sache, und
die Vorstellung der Abwesenheit des Verbindungsbegriffs ist die
Verneinung
des Verbindungsbegriffs (negatio copulae). Sie ist also die
Vorstellung des
Streits des Prädicats mit dem Subjecte §. 292.
§. 294. In einem logischen Urtheile
stellen wir uns entweder vor, dass
das Prädicat dem Subjecte zukomme, oder nicht zukomme §. 292.
293. Jenes
ist ein bejahendes Urtheil (iudicium affirmans, affirmativum),
dieses [82] ein
verneinendes (iudicium negans, negativum). Z.E. die Seele kann
denken, die
Materie kann nicht denken. In einem verneinenden Urtheile ist die
Verneinung
des Verbindungsbegriffs §. 293. Und wenn in einem Urtheile
entweder in dem
Subjecte oder Prädicate, oder in beiden zugleich eine Verneinung ist,
wenn nur
der Verbindungsbegriff nicht verneinet wird, so ist es ein bejahendes
Urtheil,
welches ein unendliches Urtheil genennet wird (iudicium infinitum).
Man kann
also alle verneinende Urtheile in bejahende verwandeln, wenn man die
Verneinung
von dem Verbindungsbegriffe weg zum Prädicate setzt. Z.E. die
Seele
ist nicht sterblich, die Seele ist unsterblich. Die Beschaffenheit der
Urtheile
(qualitas iudicii) besteht in ihrer Bejahung und Verneinung.
§. 295. Ein bejahendes Urtheil ist wahr, wenn das
Prädicat dem Subjecte
zukommt, und zwar eben so, als jenes von diesem bejahet wird; es ist aber
falsch, wenn das Prädicat dem Subjecte nicht zukommt, wenigstens auf
die Art
ihm nicht zukommt, als es von ihm bejahet wird. Ein verneinendes
Urtheil ist
wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte nicht zukommt, und zwar so, wie es
von ihm verneinet wird; es ist aber falsch, wenn das Prädicat dem
Subjecte
zukommt, wenigstens nicht so zuwider ist, wie es von ihm verneinet wird
§. 294.
99. Wenn ein wahres Urtheil für falsch, und ein falsches für
wahr gehalten
wird, so ist es ein irriges Urtheil §. 109.
§. 296. Die Wahrheit und Unrichtigkeit eines Urtheils
steckt in dem Verbindungsbegriffe
und in der Verneinung desselben §. 295. 293. Folglich kann
1) das Subject und Prädicat eines falschen Urtheils wahr sein; 2)
das Subject
und Prädicat eines wahren bejahenden Urtheils falsch sein; 3) das
Subject wahr
und das Prädicat falsch, oder umgekehrt in einem wahren verneinenden
Urtheile
sein.
[83] §. 297. Alle wahre Urtheile haben einen Grund und
einen hinreichenden
Grund ihrer Wahrheit §. 16. Dieser Grund wird die Bedingung
der Urtheile genennet (hypothesis, conditio iudicii). Folglich
kann aus derselben
die Wahrheit und Unrichtigkeit der Urtheile erkannt werden. Sie ist
demnach das Kennzeichen und der Beweisthum der Wahrheit §. 94.
191.
§. 298. Die Bedingungen der Urtheile sind 1) entweder
zureichende oder
unzureichende Bedingungen §. 297. 119. 191; 2) entweder
innerliche oder äusserliche
Bedingungen §. 297. 94; 3) entweder schlechterdings nothwendige
oder
zufällige Bedingungen. Jene sind das Wesen, die wesentlichen Stücke,
die
Eigenschaften oder die Erklärung des Subjects, und diese seine
zufälligen Beschaffenheiten
und Verhältnisse §. 297. 121. 273. Wenn die zufällige
Bedingung
eines Urtheils mit dem Subjecte desselben verbunden wird, so wird
sie die Bestimmung oder Einschränkung des Urtheils genennet
(determinatio
et limitatio iudicii).
§. 299. Wenn die Bedingung eines Urtheils 1) eine
innerliche, schlechterdings
nothwendige und zureichende Bedingung ist, so ist sie von dem Subjecte
unzertrennlich. Man mag sie also gedenken oder nicht, so ist
sie doch da,
und folglich kommt auch das Prädicat dem Subjecte
zu oder nicht, nach dem es
entweder bejahet oder verneinet. Die Wahrheit erfodert alsdenn nicht,
dass
man diese Bedingung mit dem Urtheil verbinde §. 295. Ist sie
aber 2) eine
zufällige Bedingung, so ist sie bald da, bald
nicht da, und das Urtheil würde
bald wahr, bald nicht wahr sein. Es erfodert es demnach die Wahrheit,
dass
man diese Bedingungen mit dem Urtheile verbinde. Ein bestimmtes
Urtheil
(iudicium determinatum, limitatum) ist ein Urtheil, welches eine
Bestimmung
hat; ein Urtheil, welches nicht bestimmt ist, ist ein unbestimmtes
Urtheil
(iudicium indeterminatum, illimitatum).
[84] §. 300. Die Zergliederung eines Urtheils
(analysis, resolutio iudicii)
besteht darin, wenn man nach und nach auf alle Theile desselben
Achtung giebt.
Alle Urtheile können zergliedert werden §. 139, und durch diese
Arbeit findet
man nicht nur die Beweise der Urtheile §. 297; sondern man lernt
sie auch
recht fassen, und andern vortragen.
§. 301. Das Subject eines Urtheils ist entweder ein
einzelner oder ein
abstracter Begriff §. 293. 260. Jenes ist ein einzelnes
(iudicium singulare),
dieses ein gemeines Urtheil (iudicium commune). Welches das
Prädicat entweder
von allen unter dem Subjecte enthaltenen, oder von einigen bejahet oder
verneinet. Jenes ist ein allgemeines (iudicium universale), dieses
ein besonderes
Urtheil (iudicium particulare). Das letzte ist entweder zugleich
allgemein
wahr, ein nicht bloss besonderes Urtheil (iudicium non tantum
particulare),
oder nicht, ein bloss besonderes Urtheil (iudicium tantum
particulare). Alle
diese Urtheile bejahen entweder, oder verneinen §. 294. Die
allgemein bejahenden
Urtheile heissen A; die allgemein verneinenden E; die besonders
bejahenden
I; und die besonders verneinenden O. Das Prädicat aller allgemeinen
Urtheile ist, in Absicht auf das Subject, ein allgemeiner Begriff,
weil die verneinenden
in bejahende können verwandelt werden §. 294. 262. Und weil
sowohl
in den einzeln, als auch in den allgemeinen Urtheilen, geurtheilt wird,
dass das Prädicat dem ganzen Subjecte zukomme oder nicht; so kann man
die
einzeln Urtheile zu den allgemeinen rechnen. In so ferne ein Urtheil
entweder
ein einzelnes oder ein gemeines ist, in so ferne schreibt +W
schreibt zu -W man ihm eine Grösse
zu (quantitas iudicii).
§. 302. Ein allgemein bejahendes Urtheil ist wahr, wenn das
Prädicat
allen unter dem Subjecte enthaltenen zukommt §. 301. 295. Es
ist also falsch,
wenn das Prädicat keinem einzigen unter dem Subjecte enthaltenen
zukommt,
[85] oder einigen, oder auch nur einem einzigen derselben nicht
zukommt.
Ein allgemein verneinendes Urtheil ist wahr, wenn das Prädicat allen
unter dem
Subjecte enthaltenen zuwider ist §. 301. 295. Es ist also
falsch, wenn das
Prädicat allen unter dem Subjecte enthaltenen, oder einigen derselben,
oder
auch nur einem einzigen derselben zukommt.
§. 303. Wenn die zureichende Bedingung eines gemeinen
Urtheils 1) in
dem Subjecte schlechterdings nothwendig ist, so ist sie von demselben
unzertrennlich,
und befindet sich, wo sich das Subject befindet, folglich in allen unter
ihm enthaltenen §. 263. Also ist alsdenn das Urtheil allgemein
wahr, denn
wo die Bedingung ist, da ist auch das Prädicat §. 299. Wenn
daher ein Prädicat
von einem abstracten Begriffe um seines Wesens, oder wesentlichen
Stücks,
oder Eigenschaft, oder Erklärung willen bejahet oder verneinet wird, so
ist das
Urtheil allgemein wahr §. 298. 299. 2) Wenn diese
Bedingung eine Bestimmung
ist, so wird sie schlechterdings nothwendig, so bald sie mit dem
Subjecte verbunden
wird, weil von demselben dadurch alle Dinge ausgeschlossen werden,
denen diese Bestimmung nicht zukommt §. 299. Und also ist das
bestimmte
Urtheil allgemein wahr.
§. 304. Ein Urtheil hat entweder nur Ein Subject und Ein
Prädicat, oder
mehrere. Jenes ist ein einfaches Urtheil (iudicium simplex),
dieses aber ein
zusammengesetztes (iudicium compositum). Wenn das Subject und
Prädicat
aus mehrern Begriffen zusammengesetzt sind, so werden entweder einige
derselben
um der übrigen willen gedacht, oder es wird keiner um des andern
willen gedacht. In dem ersten Falle sind die Begriffe, um welcher
willen die
übrigen gedacht worden, die Hauptsubjecte und Hauptprädicate
(subiectum
et praedicatum principale), und die übrigen die Nebensubjecte und
Nebenprädicate
(subiectum et praedicatum minus principale). In dem andern Falle
ist, das zusammengesetzte [86] Urtheil, ein Verbindungsurtheil
(iudicium copulativum).
§. 305. Ein Urtheil, welches bejahet, dass aus der
Bedingung ein Urtheil
folge, ohne dass jene oder dieses für wahr oder falsch ausgegeben wird,
ist
ein bedingtes Urtheil (iudicium hypotheticum, conditionale). Die
Bedingung
der bedingten Urtheile heisst das erste, oder vorhergehende (prius,
antecedens),
das Urtheil aber, welches aus ihr folgt, das letzte oder nachfolgende
(posterius,
consequens). Es sind demnach nicht alle Urtheile bedingt, die eine
Bedingung
haben §. 297.
§. 306. Zur Wahrheit der bedingten Urtheile wird nicht
erfodert, dass
das erste und letzte wahr sei; sondern dass es eine richtige Folge habe,
oder
dass das erste der hinreichende Grund der Wahrheit des letzten sei. In
dem
entgegengesetzten Falle ist das bedingte Urtheil falsch §.
305. 295.
§. 307. Ein disjunctives Urtheil (iudicium
disiunctivum) ist ein Urtheil,
welches bejahet, dass unter mehrern Urtheilen eins wahr und die übrigen
falsch
sind, doch dergestalt, dass nicht bestimmt wird, welches wahr und welches
falsch ist. Die mehrern Urtheile, aus denen es zusammengesetzt ist,
heissen
die Glieder der Disjunction, oder der Entgegensetzung (membra
disiunctionis,
disiunctiva), z.E. die Seele ist entweder einfach, oder
zusammengesetzt.
§. 308. Wenn ein disjunctives Urtheil wahr sein soll, so
müssen sich die
Glieder der Disjunction eben so gegen einander verhalten, als man in
demselben
sich vorstellt §. 295. Folglich 1) müssen nicht mehr Glieder
als eins wahr
sein. Wenn also alle Glieder oder auch nur zwei wahr sind zu gleicher
Zeit,
so ist das Urtheil falsch; 2) Ein Glied muss nothwendig wahr sein;
wenn also
alle Glieder falsch sind, oder eins nur zufälliger Weise wahr ist, so
ist das
Urtheil falsch; 3) kein Glied muss ausgelassen werden, [87] denn
wenn das
ausgelassene auch falsch wäre, so würde doch aus der Disjunction nicht
erhellen,
dass unter den angeführten Eins nothwendig wahr sei §. 307.
§. 309. Die Vorstellung der Art und Weise, wie das
Prädicat dem Subjecte
zu oder nicht zukommt, ist die Bestimmung des
Verbindungsbegriffs
und der Verneinung desselben (modus formalis). Ein Urtheil hat
entweder
eine solche Bestimmung, oder nicht. Jenes ist ein unreines (iudicium
modale,
modificatum, complexum qua copulam), dieses aber ein reines Urtheil
(iudicium
purum), z.E. diese Welt ist nothwendig
da, sie ist nicht nothwendig da. Bei
der Wahrheit der unreinen Urtheile muss man sonderlich, auf die
Bestimmung
des Verbindungsbegriffs und der Verneinung desselben, Achtung geben.
§. 310. Ein Urtheil, welches aus einem bejahenden und
verneinenden
auf eine sehr versteckte Art zusammengesetzt ist, heisst ein exponibeles
Urtheil
(iudicium exponibile). Wenn es wahr sein soll, so müssen beide
Urtheile richtig
sein, und man muss demnach, um sich davon zu versichern, dasselbe
zergliedern.
Z.E. GOtt allein ist schlechterdings unsterblich.
§. 311. Die Urtheile, welche zu gleicher Zeit den
Zustand des Gemüths
in Absicht auf ein gewisses Urtheil vorstellen, sind Urtheile die nicht
logisch
sind (iudicia non logica). Zum Exempel: O wie sehr betrügt
sich der Sünder!
Solche Urtheile sind sehr praktisch, und damit die gelehrte Erkenntniss
nicht
bloss gelehrt werde, so muss man sich hüten, dass nicht alle gelehrte
Urtheile
einfach oder bloss logisch sein.
§. 312. Alle gelehrten Urtheile sind entweder
Erwägungsurtheile (iudicia
theoretica$f), oder Übungsurtheile (iudicia practica) §.
217. Diese urtheilen, dass
etwas gethan oder gelassen werden solle, z.E. wir müssen die Gesetze
beobachten;
jene aber nicht, z.E. die Tugend macht uns glückselig.
[88] §. 313. Alle gelehrte Urtheile sind entweder
erweisliche (iudicia
demonstrativa), oder unerweisliche Urtheile (iudicia indemonstrabilia). Dieser
ihre Wahrheit erhellet aus ihnen selbst, so bald wir sie deutlich
erkennen; jene
aber können ohne Beweis nicht gewiss sein §. 192.
§. 314. Das Prädicat eines bejahenden Urtheils ist
entweder mit dem
Subjecte einerlei, oder es ist von ihm verschieden. Jenes ist ein leeres
Urtheil
(iudicium identicum), welches entweder ganz leer ist (iudicium ex
toto identicum),
oder eines Theils (iudicium ex parte identicum). Das Prädicat
des
erstern ist von dem Subjecte gar nicht verschieden, das Prädicat des
letztern
aber ist nur ein Theil des Subjects. Weil kein Begriff sich selbst
zuwider ist,
so erkennen wir die Wahrheit aller leeren Urtheile, so bald wir sie
verstehen
§. 295; sie sind also unerweislich §. 313. Wenn ein
Urtheil nicht leer ist, so
muss man befürchten, dass zwischen dem Subjecte und Prädicate eine so
grosse
Verschiedenheit sein könne, dass sie einander nicht zukommen. Folglich
sind
sie nicht unerweislich, und es giebt also, ausser den leeren, keine
unerweisliche
Urtheile §. 313.
§. 315. Die unerweislichen Urtheile sind entweder
Erwägungsurtheile, oder
Übungsurtheile. Jene sind Grundurtheile (axioma), diese aber
Heischeurtheile
(postulatum). Man muss kein erweisliches Urtheil für ein
unerweisliches halten
§. 313.
§. 316. So ofte wir einen Begriff von sich selbst, oder
einen Theil desselben
von ihm bejahen, so ofte haben wir ein Grundurtheil §. 315.
314. Man
kann also aus den Erklärungen Grundurtheile finden, wenn man von dem
erklärten
Begriffe bejahet: 1) die ganze Erklärung, und in so ferne sind die
logischen Erklärungen unerweislich; 2) einige Merkmale der Erklärung; 3) die
einzeln Merkmale derselben §. 268.
[89] §. 317. So ofte ich eine Sache, die man als eine
Würkung betrachten
kann, mir vorstelle, und ich bejahe von demjenigen, der sie hervorbringen
will,
dass er sie oder einen Theil derselben hervorbringen müsse, so habe ich
ein
Heischeurtheil §. 315. 314. Wenn also der erklärte
Begriff als eine Würkung
betrachtet werden kann, und ich bejahe von demjenigen, der sie
hervorbringen
will, dass er 1) die ganze Erklärung, 2) oder einige Merkmale, oder
3) einzelne
Merkmale hervorbringen müsse: so finde ich Heischeurtheile aus den
Erklärungen
§. 268.
§. 318. In einer Demonstration aus der Vernunft müssen,
alle Beweisthümer,
völlig gewiss sein §. 193. 204; sie sind also entweder
erweislich oder
nicht §. 313. In dem ersten Falle müssen sie wieder bewiesen
werden. Folglich
wird ein Beweis nicht eher eine Demonstration, bis ich nicht auf lauter
unerweisliche Beweisthümer komme. Die leeren Urtheile, die
Grundurtheile und
Heischeurtheile sind demnach die ersten Anfänge aller Demonstrationen
aus der
Vernunft §. 314. 315. Alsdenn beruhiget sich der Verstand
völlig, wenn der
Beweis bis auf solche Urtheile fortgeführt worden.
§. 319. Die erweislichen Urtheile sind entweder bloss durch
die Erfahrung
gewiss, oder nicht. Jene sind anschauende Urtheile (iudicium
intuitivum),
diese aber Nachurtheile (iudicium discursivum). Das anschauende
Urtheil besteht aus lauter Erfahrungsbegriffen, und ist eine
unmittelbare
Erfahrung §. 201, und ein einzelnes Urtheil §. 301. Kein
anschauendes
Urtheil ist unerweislich §. 313. 314, denn ich muss mich allemal
eines einzeln
Falles erinnern, und daher erkennen, wie und ob ich ohne Betrug zu einem
solchen Urtheile gelanget bin §. 202. Alle anschauenden
Urtheile sind die ersten
Anfänge aller Demonstrationen aus der Erfahrung §. 202.
§. 320. Wenn man ein anschauendes Urtheil finden will, so
nehme man
1) die Sache, die man empfindet, [90] zum Subjecte an; 2)
man zergliedere die
Empfindung, nach §. 142. 257; 3) die entdeckten Merkmale
bejahe man von dem
Subjecte §. 319.
§. 321. Die Prädicate anschauender Urtheile können
zufällige Beschaffenheiten,
Veränderungen, Verhältnisse, Würkungen, Ursachen, Handlungen und
Leiden sein; niemals aber das Wesen, die wesentlichen Stücke, die
Eigenschaften,
und verneinenden Merkmale §. 256. Kein verneinend Urtheil ist
ein anschauendes
Urtheil, ob es wohl aus einem anschauenden
Urtheile kann hergeleitet werden,
indem die Merkmale, welche denenjenigen entgegen gesetzt sind, die wir in
dem
Subjecte empfinden, mit Wahrheit von demselben verneinet werden können
§. 295.
§. 322. Aus den anschauenden Urtheilen werden allgemeine
hergeleitet:
1) Wenn man von allen Dingen einer Art, nach §. 320, ein
anschauendes Urtheil
fället, und alsdenn schliesst, dass das Prädicat von der ganzen Art
allgemein
bejahet werden könne §. 263. 2) Wenn man aus Einem
anschauenden Urtheile
ein allgemeines herleiten will, so a) suche man den höhern Begriff,
unter welchen
das Subject gehört, nach §. 259. b) Man suche die Bedingung
des anschauenden
Urtheils. c) Man untersuche, ob sie in dem höhern Begriffe
schlechterdings
nothwendig, oder zufällig sei. In dem letzten Falle verbinde man sie
mit dem
Subjecte, und alsdenn kann man in beiden Fällen das Prädicat
allgemein von
dem höhern Begriffe bejahen §. 299.
§. 323. Die Nachurtheile werden entweder aus der Erfahrung
oder aus
der Vernunft demonstrirt §. 319. Jene sind mittelbare
Erfahrungen §. 203. 204.
Ein Erfahrungsurtheil ist ein jedes Urtheil, welches durch die
Erfahrung gewiss
ist, es mag nun entweder ein anschauendes Urtheil sein §. 319, oder
ein Nachurtheil.
§. 324. Die Nachurtheile erfodern entweder einen kürzern
oder einen
längern Beweis §. 319. Jene heissen Zusätze (consectarium,
corollarium), und
sie können [91] entweder Erwägungs-
oder Übungsurtheile sein
§. 312. Sie
werden mehrentheils ohne Beweis angeführt, und leicht gefunden, wenn man
einige wenige Erklärungen, unerweisliche Urtheile und andere
Wahrheiten mit einander
vergleicht.
§. 325. Die Nachurtheile, welche einen längern Beweis
(entweder aus
der Erfahrung oder aus der Vernunft) erfodern, sind entweder
Erwägungsurtheile,
oder Übungsurtheile §. 312. Jene heissen Lehrsätze
(theorema), diese aber
Aufgaben (problema).
§. 326. Wenn man einen Lehrsatz erfinden will, so muss man
1) das
Urtheil erfinden, oder es kann schon bekannt sein; 2) man muss einen
längern
Beweis erfinden, folglich a) muss man alle Beweisthümer aufsuchen, es
mögen uns
nun dieselben entweder schon bekannt sein, oder man mag sie von andern
lernen,
oder erst von neuen erfinden; b) man muss sie in einen deutlichen
Zusammenhang
setzen, und c) muss man die Kunst verstehen, einen Beweis aus vielen
Beweisthümern zusammen zu setzen, ohne eine Verwirrung zu verursachen
§. 325.
§. 327. Wer sich, in der Erfindung der Lehrsätze, üben
will, der muss
von den leichtern den Anfang machen, und von solchen, die durch die
Erfahrung
probirt werden können, damit er seine Fehltritte desto leichter erkenne.
§. 328. Um der Deutlichkeit willen wird eine Aufgabe in
drei Theile zergliedert:
1) Die Frage (quaestio problematis) ist die Vorstellung der
Handlung,
welche gethan oder unterlassen werden soll. So ofte wir uns eine Sache
vorstellen,
die als eine Würkung betrachtet werden kann, so ofte kann man eine
Frage aufwerfen. 2) Die Auflösung (solutio problematis)
zergliedert die Entstehungsart
der Frage. Sie muss also entweder alle Handlungen anführen, woraus
die Frage besteht, oder alle Ursachen, oder beides zugleich, und wenn
man
sie finden will, muss man den Gegenstand der Frage logisch erklären.
3) Der
[92] Beweis der Aufgabe (demonstratio problematis), welcher
demonstrirt, dass
durch die Beobachtung der Auflösung die Frage würklich werde. Er
setzt demnach
die Auflösung als eine Bedingung voraus, und
die ganze Aufgabe kann
wie ein bedingter Lehrsatz angesehen werden §. 305. Die Probe
der Aufgabe
(proba, examen problematis) ist dasjenige, wodurch man überzeugt
wird, dass
man die Auflösung beobachtet habe.
§. 329. Wenn man keine Unmöglichkeit in der Frage
entdecken kann,
so kann man sich an die Auflösung wagen, und man kann dieselbe entweder
durch die Erfahrung, oder aus der Vernunft und durch die Abstraction,
oder
auf eine willkürliche Art erfinden. Wenn man sie durch die Erfahrung
finden
will, so muss man 1) bei der Sache zugegen zu sein suchen, wenn sie
entsteht,
und sich von der Entstehungsart derselben durch die Erfahrung einen
deutlichen
Begriff machen §. 257. 2) Man muss alle Ursachen, und alles,
was bei dem
Entstehen vorgeht, genau beobachten, wenn es nämlich in unsere Sinne
fällt.
3) Die übrigen Ursachen, und die übrigen Stücke der Entstehung,
die nicht in
unsere Sinne fallen, muss man zu errathen suchen, vermittelst des Theils
der
Gelehrsamkeit, in dessen Umfang der Gegenstand gehört. 4) Man
vergleiche die
Würkung, deren Entstehungsart wir nicht erfahren können, mit einer
andern,
die wir durch die Erfahrung auflösen können, und schliesse: dass jene
auf eine
ähnliche Art und durch ähnliche Ursachen entstehe.
§. 330. Wenn man eine Würkung bloss willkürlich annimmt,
1) so muss
man in denen Theilen der Gelehrsamkeit, wohin sie gehört, wohl
bewandert
sein, sich von ihr einen deutlichen Begriff machen, und auf alle
Kräfte und
Ursachen, die uns bekannt sind, besinnen, ob wir etwa was antreffen,
welches
in die Auflösung der Frage gehört. 2) Wenn man viele Handlungen
und Ursachen
willkürlich mit einander verknüpft, und Achtung giebt, was herauskommt,
[93]
so findet man auch manche Auflösungen zu manchen Aufgaben.
§. 331. Mitten in einem Lehrgebäude geräth man, durch den
Verfolg der
Demonstrationen aus der Vernunft, unvermerkt auf viele Auflösungen;
und
wenn man die Auflösungen der niedrigern Fragen schon gefunden hat, so
darf
man nur ihre Verschiedenheit absondern, so hat man die Auflösung der
höhern
Frage, die mag nun von einer abstracten Handlung, oder einer andern
abstracten
Würkung reden.
§. 332. Um der Deutlichkeit der Aufgabe willen, muss man,
aus den
deutlichen Begriffen von der Würkung und den in der Auflösung
enthaltenen
Ursachen, finden, was eine jedwede Ursach zu der Würkung beitrage.
§. 333. Um die Kürze der Aufgaben in einem Lehrgebäude
zu erhalten,
1) muss man in dem vorhergehenden die Handlungen und Würkungen
auflösen,
aus welchen die Handlungen und Würkungen der folgenden Aufgaben
zusammengesetzt
sind; zum 2) muss man in dem vorhergehenden diejenigen Handlungen
und Würkungen auflösen, unter welchen die Fragen der folgenden
Aufgaben
enthalten sind.
§. 334. Eine Aufgabe ist 1) wahr (veritas
problematis), wenn sie nichts
Unmögliches in sich enthält, folglich wenn die Auflösung der Frage
nicht zuwider
ist; 2) vollständig (completum problema), wenn durch die
Beobachtung
der Auflösung dasjenige erfolget, wovon die Frage ist; 3) genau
(problema
accuratum, adaequatum), wenn sie weder zu wenig noch zu viel in sich
enthält.
Und das sind drei Vollkommenheiten der Aufgaben.
§. 335. Eine Aufgabe ist falsch, 1) wenn die Auflösung
schlechterdings
unmöglich ist; 2) wenn die Auflösung in gewisser Absicht unmöglich,
z.E.
wenn sie durch die Kräfte der Menschen, oder in gewissen Umständen
nicht
möglich ist; 3) wenn die Auflösung zwar würklich werden [94]
kann, aber zur
Frage nichts beiträgt; 4) wenn sie der Frage sogar widerspricht §.
334.
§. 336. Eine Aufgabe ist unvollständig, 1) wenn durch die
genaueste Beobachtung
der Auflösung der Zweck nicht erreicht wird; 2) wenn man nicht
weiss, wie die Auflösung würklich gemacht werden kann; 3) wenn die
Auflösung
nicht in allen Fällen, wo es nöthig ist, ausgeübt werden kann §.
334.
§. 337. Eine Aufgabe ist nicht genau, wenn sie zwar wahr und
vollständig
ist, aber durch Umwege führt, und zu viel in sich enthält §.
334.
§. 338. Verborgene Eigenschaften (qualitates occultae)
sind Beschaffenheiten,
von denen wir keine klare und deutliche Erkenntniss haben, und die
wir ohne genugsamen Grund annehmen. Da sie nun wider die Natur der
gelehrten
Erkenntniss streiten §. 21. 168, so ist derjenige, der sie
annimmt, entweder
dumm, oder ein Betrüger. Folglich muss man sie alsdenn sonderlich
vermeiden, wenn man die Gründe der Dinge, ihrer Natur und
Veränderungen
untersucht, folglich auch bei der Auflösung der Aufgaben.
§. 339. Ein Lehnurtheil (lemma) ist ein erweisliches
Urtheil, welches in
einem Lehrgebäude ohne Beweis angenommen wird, weil es mit seinem
Beweise
zu einem andern Lehrgebäude gehört.
§. 340. Anmerkungen (scholia) sind Urtheile, welche in
einem Lehrgebäude
weder Beweisthümer sind, noch bewiesen werden, die aber des mehrern
Nutzens wegen unter die übrigen gemenget worden.
§. 341. Gleichgültige Urtheile (iudicia
aequipollentia*4) sind verschiedene
Urtheile, in denen das logische Verhältniss eines und eben desselben
Subjects
und Prädicats einerlei ist. Z.E. nicht alle Menschen sind
tugendhaft, einige
Menschen sind nicht tugendhaft; nicht kein Mensch ist gelehrt, einige
Menschen
sind gelehrt; alles hat einen Grund, nichts ist ohne Grund. Da nun die
Wahrheit [95]
und Unrichtigkeit eines Urtheils in dem logischen Verhältnisse
angetroffen
wird §. 295. 296, so sind 1) alle übrige gleichgültige
Urtheile wahr, wenn
Eins wahr ist; und 2) alle übrige falsch, wenn Eins falsch ist. Die
Gleichgültigkeit
der Urtheile hanget von solchen Abänderungen des
Urtheils ab, welche
die Wahrheit oder Unrichtigkeit desselben nicht verändern; sonst sind
es keine
gleichgültige Urtheile.
§. 342. Urtheile, welche einerlei Subject, Prädicat und
Beschaffenheit
haben, und unter welchen nur Eins allgemein ist, enthalten einander in
sich
(iudicia subalternata). Das allgemeine enthält die andern in sich
(iudicium
subalternans), und die übrigen werden in ihm enthalten (iudicium
subalternatum).
Z.E. alle Menschen können irren, einige Menschen können irren,
Ein
Mensch kann irren; kein Mensch ist unsündlich, einige Menschen sind
nicht
unsündlich, Ein Mensch ist nicht unsündlich. 1) Wenn das allgemeine
Urtheil
wahr, so sind auch diejenigen wahr, die in ihm enthalten sind, aber nicht
umgekehrt;
2) wenn die Urtheile falsch sind, die in dem allgemeinen enthalten
sind, so ist auch das allgemeine falsch, aber nicht umgekehrt §.
302.
§. 343. Urtheile widersprechen einander (iudicia
contradictoria), deren
das eine accurat verneinet, was das andere bejahet. Z.E. die Urtheile
A und
O, desgleichen E und I widersprechen einander, wenn sie ein und
eben dieselben
Subjecte und Prädicate haben §. 301. 341. Da nun ein jeder
Begriff
einem jedweden andern Begriffe entweder zukommt, oder nicht: denn
es kann gar nicht gedacht werden, dass beides zugleich oder keins von
beiden
sein könne; so ist unter allen widersprechenden Urtheilen entweder das
bejahende
wahr, und das verneinende falsch, oder das verneinende wahr und das
bejahende
falsch §. 295. Folglich kann man 1) von der Wahrheit des einen
unter widersprechenden
Urtheilen, auf die Unrichtigkeit des [96] andern; und 2) von der
Unrichtigkeit des einen auf die Wahrheit des andern schliessen.
§. 344. Wenn ein Urtheil besonders bejahet, was das andere
besonders
verneinet, so sind sie auf eine besondere Art einander entgegengesetzt
(iudicia
subcontraria). Folglich die Urtheile I und O, wenn sie einerlei
Subjecte
und Prädicate haben. 1) Diese Urtheile können zugleich wahr sein.
Denn da
ihr Prädicat in Absicht auf das Subject ein besonderer Begriff sein
kann
§. 262; so lässt er sich von demselben mit Wahrheit besonders
bejahen und
verneinen §. 295. 2) Diese Urtheile können niemals beide
zugleich falsch sein.
Denn wenn I und O falsch sind, so sind auch A und E falsch §.
342. Folglich
könnten A und O, E und I, die einerlei Prädicate und Subjecte
haben, zu
gleicher Zeit falsch sein, welches unmöglich ist §. 343.
§. 345. Wenn ein Urtheil allgemein bejahet, was das andere
allgemein
verneinet, folglich wenn A und E einerlei Subject und Prädicat haben,
so sind
sie auf eine allgemeine Art einander entgegengesetzt (iudicia
contraria).
1) Diese Urtheile können beide falsch sein. Denn ihr Prädicat kann
in Absicht
auf das Subject ein besonderer Begriff sein §. 262. Folglich
kann es von ihm
weder allgemein bejahet, noch allgemein verneinet werden §. 302.
2) Diese Urtheile
können nicht beide wahr sein. Denn wenn A und E wahr wären, so
wären auch I und O wahr §. 342. Folglich könnten A und O,
desgleichen E
und I, ob sie gleich einerlei Subject und
Prädicat hätten, zugleich wahr sein,
und das ist unmöglich §. 343.
§. 346. Diejenige Veränderung, vermöge welcher aus dem
Subjecte eines
Urtheils das Prädicat, und aus dem Prädicate das Subject gemacht
wird, heisst
die Umkehrung eines Urtheils (conversio iudicii). Das Urtheil,
mit welchem
die Veränderung vorgeht, heisst das umgekehrte (iudicium conversum), und
welches daher [97] entsteht, das umkehrende Urtheil (iudicium
convertens).
Bei der Umkehrung wird entweder die Grösse des Urtheils geändert,
oder nicht.
In dem ersten Falle geschiehet die Umkehrung zufälliger Weise
(conversio
per accidens), in dem andern aber schlechtweg (conversio
simplex). In so ferne
ein wahres Urtheil nach der Umkehrung auch wahr bleibt, in so ferne kann
es
umgekehrt werden (iudicium converti potest, iudicium reciprocabile).
§. 347. Alle bejahende Urtheile, deren Subject und
Prädicat Wechselbegriffe
sind, können schlechtweg umgekehrt werden, es mögen nun allgemeine
oder einzelne Urtheile sein. Denn das Subject
kommt auch allen unter dem
Prädicate enthaltenen zu §. 262. Folglich kann es von dem
Prädicate allgemein
bejahet werden §. 302. 346. Z.E. die Urtheile, welche die
Erklärung von dem
erklärten Begriffe, und die Glieder der Eintheilung, unter einer
Disjunction zusammengenommen,
von dem eingetheilten Begriffe bejahen §. 270. 287.
§. 348. Alle wahren besonders bejahenden Urtheile können
schlechtweg
umgekehrt werden. Denn der abstracte Begriff des Subjects kommt
den einigen
unter ihm enthaltenen zu §. 260, und kann also von ihnen
besonders bejahet
werden §. 295. Und da das Prädicat einigen unter dem Subjecte
enthaltenen
zukommt §. 295, so kann es als ihr höherer Begriff §. 260 zum
Subjecte angenommen
werden. Folglich kann das vorige Subject von dem vorigen Prädicate
besonders bejahet werden §. 346.
§. 349. Ein allgemein verneinendes Urtheil kann 1)
schlechtweg umgekehrt
werden. Widrigenfalls müsste das Subject nicht allen unter dem
Prädicate
enthaltenen zuwider sein §. 302, folglich müsste es einigen
derselben zukommen
§. 343. Folglich müsste auch das Prädicat einigen unter dem
Subjecte enthaltenen
zukommen §. 348. Folglich wäre das allgemein verneinende
Urtheil
falsch [98] §. 302, welches ungereimt ist; 2)
zufälliger Weise. Denn da es
schlechtweg umgekehrt werden kann, so ist auch das besondere Urtheil
wahr,
welches in dem allgemeinen umkehrenden Urtheile enthalten ist §.
342, und
durch dasselbe wird es zufälliger Weise umgekehrt §. 346.
§. 350. Alle allgemein bejahenden Urtheile können
zufälliger Weise
umgekehrt werden. Denn wenn sie wahr sind, so sind auch die in ihnen
enthaltenen
besonders bejahenden Urtheile wahr §. 342. Diese können
schlechtweg
umgekehrt werden §. 348, und eben dadurch werden die allgemeinen
zufälliger Weise
umgekehrt §. 346.
§. 351. Wenn man in den besonders verneinenden Urtheilen,
die
Verneinung zum Prädicate setzt, so werden sie besonders bejahende
Urtheile §. 249, und können also alsdenn schlechtweg umgekehrt
werden §. 348.
§. 352. Ein allgemein bejahendes Urtheil wird contraponirt
(contrapositio),
wenn man sein Prädicat in einen verneinenden Begriff verwandelt, und
das vorige Subject von demselben allgemein verneinet. Alle wahren
allgemein
bejahenden Urtheile können contraponirt werden, das ist, wem ihr
Prädicat
nicht zukommt, denen kommt auch ihr Subject nicht
zu. Widrigenfalls müsste
einigen Dingen das Prädicat zuwider sein, und das Subject zukommen
§. 343.
Man könnte also von einigen unter dem Subjecte enthaltenen das
Prädicat mit
Wahrheit verneinen §. 295. Also wäre das allgemein bejahende
Urtheil falsch
§. 302, und das ist ungereimt.
Der zehnte Abschnitt,
von den gelehrten Vernunftschlüssen.
§. 353. Wenn einige wahre Urtheile den hinreichenden Grund
der Wahrheit
eines andern enthalten, so sind sie mit einander verbunden §. 15, und
in
diesem Verhältnisse wahrer [99] Urtheile bestehet der Zusammenhang
der Wahrheiten
(nexus veritatum).
§. 354. Ein Vernunftschluss (ratiocinium) ist eine
deutliche Vorstellung
des Zusammenhangs der Wahrheiten; welcher, wenn er in einem höhern
Grade
vollkommen ist, ein gelehrter, oder ein logischer Vernunftschluss
genennet
wird (ratiocinium logicum, eruditum).
§. 355. In einem Vernunftschlusse
leiten wir eine Wahrheit aus andern
Wahrheiten her §. 353. 354. Und da also diese andern
Wahrheiten die Beweisthümer
der erstern sind §. 191, so machen wir einen Vernunftschluss, wenn
wir
eine Wahrheit aus ihren Beweisthümern deutlich herleiten. Folglich
ist, die
deutliche Vorstellung der Folge eines Beweises, ein Vernunftschluss
§. 191.
§. 356. Dasjenige Urtheil, welches in einem Vernunftschlusse aus andern
hergeleitet wird, ist das Schlussurtheil (conclusio, probandum,
principiatum).
Diejenigen Urtheile aber, aus welchen das Schlussurtheil hergeleitet
wird, sind
die Vorderurtheile (praemissae, data, sumtiones, principia).
§. 357. Die Subjecte und Prädicate der Urtheile, aus
denen ein Vernunftschluss
besteht, heissen die Hauptbegriffe eines Vernunftschlusses
(termini).
Das Subject des Schlussurtheils, ist der kleinere Hauptbegriff
(terminus minor),
sein Prädicat aber, der grössere Hauptbegriff (terminus maior).
Der Hauptbegriff,
welcher, ausser dem kleinern und grössern, in den Vorderurtheilen
angetroffen
wird, heisst der mittlere Hauptbegriff (terminus medius).
§. 358. Da die Vorderurtheile den Beweisthum des
Schlussurtheils enthalten
§. 355. 356, in denenselben aber, ausser den Theilen des
Schlussurtheils,
nichts weiter enthalten ist als der mittlere Hauptbegriff §. 357; so
ist derselbe
der Beweisthum §. 191, folglich die Bedingung des Schlussurtheils
§. 297.
Man findet also den mittlern [100] Hauptbegriff nach der
Anleitung des 297
und 298sten Absatzes; und ein Vernunftschluss bestehet darin, wenn wir
ein
Urtheil aus seiner Bedingung auf eine deutliche Art herleiten §.
355.
§. 359. Die Materie des Vernunftschlusses (ratiocinii
materia) bestehet
in den Vorderurtheilen desselben, seine Form aber (ratiocinii
forma) in
der Folge des Schlussurtheils aus den Vorderurtheilen.
§. 360. Ein richtiger Vernunftschluss (ratiocinium
verum) muss sowohl
in der Materie, als auch in der Form richtig sein §. 359.
355. 193. Wenn
also entweder die Materie falsch ist, oder die Form, oder beides zu
gleicher
Zeit, so ist es ein falscher, unrichtiger Vernunftschluss (ratiocinium falsum).
Ein irriger Vernunftschluss (ratiocinium erroneum) ist ein
falscher Vernunftschluss,
in so ferne er für einen richtigen gehalten wird §. 109. Aus
§. 193
und 194 erhellet, wenn ehe ein Vernunftschluss eine demonstrativische
Gewissheit
hat, oder nicht.
§. 361. Weil die Folge in einem jedweden Vernunftschlusse
deutlich sein
muss §. 355, keine Deutlichkeit aber ohne Ordnung möglich ist
§. 142; so müssen
die Urtheile eines Vernunftschlusses gehörig zusammengeordnet werden.
Da
nun keine Ordnung ohne Regeln möglich ist, so sind gewisse Regeln zu
schliessen
nöthig, nach welchen ein Vernunftschluss eingerichtet werden muss, wenn
er
eine richtige und deutliche Folge haben soll.
§. 362. Es ist unmöglich, dass etwas zu gleicher Zeit sei,
und nicht
sei. Oder, wenn von einem Dinge ein und eben dasselbe zu gleicher Zeit
bejahet
oder verneinet wird, so ist es Nichts. Dieser Satz heisst der Satz des
Widerspruchs (principium contradictionis), und er ist das erste
innerliche Kennzeichen
der Wahrheit §. 95, auf welchem alle Folgen der Vernunftschlüsse
beruhen müssen, wenn sie wahr sein sollen §. 361.
[101] §. 363. Was von einem Begriffe mit Wahrheit
allgemein bejahet
oder verneinet werden kann, das kann auch mit Wahrheit von einem jedweden
andern Begriffe bejahet oder verneinet werden, welcher unter jenen
gehört §. 342. Widrigenfalls müssten zwei widersprechende
Urtheile zugleich
wahr sein §. 343, und das ist wider den Satz des Widerspruchs
§. 362. Dieser
Satz wird, der Schluss von dem Allgemeinen auf das Besondere, genannt
(dictum de omni et nullo).
§. 364. Wenn der hinreichende Grund wahr ist, so ist auch
seine
Folge wahr, widrigenfalls wäre, der hinreichende Grund, kein
hinreichender
Grund §. 15, welches wider §. 362. Folglich, wenn die Folge
falsch ist, so
ist auch der hinreichende Grund falsch, weil sonst der hinreichende
Grund
ohne Folge sein könnte. Dieser Schluss heisst, der Schluss von dem
hinreichenden
Grunde auf seine Folge (a ratione sufficiente ad rationatum valet
consequentia).
§. 365. Wenn eins unter widersprechenden Urtheilen wahr ist,
so ist
das andere falsch; und wenn das eine falsch ist, so ist das andere wahr
§. 343. 362. Dieser Satz heisst: der Schluss vom
Gegentheil (ab uno oppositorum
ad alterum valet consequentia).
§. 366. Wenn ein Urtheil wahr ist, so muss auch dasjenige
wahr sein,
welches durch eine logische Veränderung des ersten entstanden ist, die
der
Wahrheit unbeschadet vorgenommen werden kann. Widrigenfalls müsste
die logische Veränderung der Wahrheit nachtheilig sein, und nicht
nachtheilig
sein, welches unmöglich ist §. 362. Dieser Schluss heisst: der
Schluss von der
logischen Veränderung eines wahren Urtheils.
§. 367. Ein ordentlicher Vernunftschluss (ratiocinium
ordinarium) ist
ein Vernunftschluss, in welchem [102] von dem Allgemeinen auf das
Besondere
geschlossen wird §. 363. Zum Exempel: alle Tugenden
tragen etwas zu meiner
Glückseligkeit bei; nun sind alle philosophische Tugenden
Tugenden, also
tragen alle philosophische Tugenden etwas zu
meiner Glückseligkeit bei. Alle
übrige Vernunftschlüsse sind ausserordentliche Vernunftschlüsse
(ratiocinium
extraordinarium).
§. 368. Alle ordentliche Vernunftschlüsse haben zwei
Vorderurtheile, die
den mittlern Hauptbegriff mit einander gemein haben §. 367.
Dasjenige Vorderurtheil
in denselben, welches den grössern Hauptbegriff enthält, heisst der
Obersatz der ordentlichen Vernunftschlüsse (propositio maior
ratiociniorum
ordinariorum); welches aber den kleinern Hauptbegriff enthält, der
Untersatz
derselben (propositio minor).
§. 369. Diejenige Gattung der ordentlichen
Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Subjecte des Obersatzes und in dem
Prädicate
des Untersatzes steht, heisst die erste Figur (figura prima
ratiociniorum).
Zum Exempel: alle Menschen können irren; die Gelehrten sind
Menschen, also
können die Gelehrten irren. In dieser Figur hat der Untersatz und der
Schlusssatz
Ein Subject §. 368. Folglich haben diese beiden Urtheile
allemal einerlei
Grösse §. 301.
§. 370. Diejenige Gattung der ordentlichen
Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Prädicate beider Vorderurtheile
steht, heisst
die andere Figur (figura secunda). Z.E. keine ungereimte Sache
ist wahr, alles
was in der Bibel steht ist wahr; also ist nichts, was in der Bibel
steht, ungereimt.
§. 371. Diejenige Gattung der ordentlichen
Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Subjecte beider Vorderurtheile steht,
heisst die
dritte Figur (figura tertia). Zum Exempel: alle Gelehrte haben
einen verbesserten
Verstand, einige Gelehrte sind lasterhaft; [103] also haben einige
Lasterhafte
einen verbesserten Verstand.
§. 372. Diejenige Gattung der ordentlichen
Vernunftschlüsse, in denen
der mittlere Hauptbegriff in dem Prädicate des Obersatzes, und in dem
Subjecte
des Untersatzes steht, heisst die vierte, oder die galenische
Figur (figura
quarta, galenica). Zum Exempel: kein dummer Mensch ist gelehrt, einige Gelehrte
sind fromm; also sind einige Fromme keine dummen Leute.
§. 373. Die Figuren der Vernunftschlüsse (figurae
ratiociniorum), sind
demnach verschiedene Gattungen ordentlicher Vernunftschlüsse, welche
aus der
verschiedenen Zusammenordnung des mittlern Hauptbegriffs mit den
übrigen
Hauptbegriffen in den Vorderurtheilen entstehen; und es giebt nicht
mehr als
vier Figuren §. 369. 372.
§. 374. Aus dem Schlusse von dem Allgemeinen auf das
Besondere §. 363,
fliessen folgende Regeln aller ordentlichen Vernunftschlüsse: 1) In
einem ordentlichen
Vernunftschlusse können nicht mehr noch weniger Hauptbegriffe enthalten
sein, als drei. Ein solcher Schluss enthält nur drei Urtheile,
folglich
nur sechs Stellen für die Hauptbegriffe §. 368. 357. Nun
enthält er 1) einen
Hauptbegriff, von welchem etwas allgemein bejahet oder verneinet wird,
und von
welchem in dem andern Vorderurtheile gesagt wird, dass ein anderer
Begriff
zu ihm gehöre. Er kommt also zweimal vor,
weil er der mittlere Hauptbegriff
ist §. 368. 2) Der kleinere Hauptbegriff
kommt in dem Schlussurtheile und dem
Untersatze vor §. 357. 368; und 3) der grössere
Hauptbegriff in dem Schlussurtheile
und dem Obersatze §. 357. 368.
§. 375. 2) Der mittlere Hauptbegriff muss nicht in das
Schlussurtheil
gesetzt werden. Denn in den ordentlichen Vernunftschlüssen wird der
grössere
Hauptbegriff von dem kleinern in dem Schlusssatze bejahet oder
verneinet, [104]
weil nach Aussage der Vorderurtheile der kleinere Hauptbegriff zu dem
mittlern
gehört, von welchem der grössere bejahet oder verneinet werden kann
§. 364.
Folglich kann der Schlusssatz nur aus dem kleinern und grössern
Hauptbegriffe
bestehen.
§. 376. 3) Die Vorderurtheile dürfen nicht insgesammt
verneinen, denn
Eins muss bejahen, dass der kleinere oder grössere Hauptbegriff mit dem
mittlern
verbunden sei §. 363, oder aus lauter verneinenden Vorderurtheilen
folget nichts,
ob gleich aus lauter bejahenden etwas folgt. Wenn der mittlere
Hauptbegriff
ein verneinender Begriff ist, so ist wenigstens ein Vorderurtheil bloss
unendlich
§. 294, und alsdenn scheint es bloss, als wenn alle Vorderurtheile
verneinten.
§. 377. 4) Die Vorderurtheile dürfen nicht insgesammt
besondere Urtheile
sein; sonst würde man nicht von dem Allgemeinen aufs Besondere
schliessen §. 363, oder aus lauter besondern Vorderurtheilen folgt
nichts, ob gleich
aus lauter allgemeinen etwas folgen kann.
§. 378. 5) Wenn ein Vorderurtheil verneint, so muss auch
das Schlussurtheil
verneinen: denn alsdenn richtet sich der Vernunftschluss nach dem
verneinenden Theile des Schlusses vom Allgemeinen aufs Besondere
§. 363, und
er muss also ein verneinendes Schlussurtheil haben.
§. 379. 6) Wenn ein Vorderurtheil ein besonderes
Urtheil ist, so muss
auch das Schlussurtheil ein besonderes sein; denn alsdenn schliesst man:
weil einige Dinge von einer Art zu demjenigen Begriffe gehören, von
welchem
etwas allgemein bejahet oder verneinet wird, so kann dieses auch von dem
einigen bejahet oder verneinet werden §. 363.
§. 380. 7) Das Schlussurtheil richtet sich allemal nach
dem schwächern
Theile des Vernunftschlusses: denn die verneinenden und besondern
Vorderurtheile [105]
werden der schwächere Theil des Vernunftschlusses genannt (pars
ratiocinii debilior) §. 378. 379.
§. 381. 8) In dem Schlussurtheile muss nicht weniger
enthalten sein,
als in den Vorderurtheilen. Denn sonst würden der kleinere und
grössere
Hauptbegriff in dem Schlussurtheile weniger in sich enthalten, als in
den Vorderurtheilen,
und es würden also in dem Vernunftschlusse mehr als drei Hauptbegriffe
angetroffen werden §. 374.
§. 382. 9) In dem Schlussurtheile muss nicht mehr
enthalten sein,
als in den Vorderurtheilen. Sonst würde der kleinere und grössere
Hauptbegriff
in dem Schlussurtheile mehr enthalten, als in den Vorderurtheilen, und
es wären
also mehr als drei Hauptbegriffe in dem Vernunftschlusse §. 374.
§. 383. Ausser diesen Regeln müssen in der ersten Figur
noch zwei Regeln
beobachtet werden: 1) Der Untersatz muss in der ersten Figur
allemal bejahen.
Denn da er zu seinem Subjecte, das Subject des Schlusssatzes, hat
§. 369, so bejahet er von demselben, dass es zu dem mittlern
Hauptbegriffe
gehöre §. 363. Ist der mittlere Hauptbegriff verneinend, so ist
der
Untersatz unendlich §. 376, und also doch ein bejahendes Urtheil
§. 294.
§. 384. 2) Der Obersatz muss in der ersten Figur allemal
allgemein
sein. Denn, ist der Schlusssatz allgemein, so kann der Obersatz nur
allgemein sein
§. 379; ist er aber ein besonderes Urtheil, so ist der Untersatz
auch dergleichen
§. 369, und also muss der Obersatz abermals allgemein sein §.
377. Weil die
einzeln Urtheile zu den allgemeinen gehören §. 301, so machen sie
keine
Ausnahme von den Regeln, welche die Allgemeinheit der Urtheile eines
Vernunftschlusses
fodern.
§. 385. Die Arten der ordentlichen Vernunftschlüsse
(modi ratiociniorum
ordinariorum), sind verschiedene Arten der Vernunftschlüsse einer
Figur,
welche [106] aus der verschiedenen Beschaffenheit und Grösse der
Urtheile eines
Vernunftschlusses entstehen.
§. 386. Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur allgemein
bejahet, so bejahet
auch §. 383. 378 allgemein §. 379. 369 der Untersatz,
und der Obersatz muss
auch bejahen §. 378 und allgemein sein §. 384. 379. Die
Art der Vernunftschlüsse
in der ersten Figur, deren Schlusssatz allgemein bejahet, heisst
Barbara, z.E. alle Wahrheiten sind nützlich, alle
philosophische Wahrheiten
sind Wahrheiten; also sind alle philosophische Wahrheiten nützlich.
§. 387. Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur allgemein
verneinet,
so muss der Untersatz allgemein §. 369. 379 bejahen §.
383, und der Obersatz
allgemein §. 384. 379 verneinen §. 380. Die Art der
Vernunftschlüsse in der
ersten Figur, die einen allgemein verneinenden Schlusssatz haben,
heissen Celarent,
z.E. kein Laster macht mich vollkommener, aller Hochmuth ist ein
Laster; also
macht mich kein Hochmuth vollkommener.
§. 388. Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur besonders
bejahet, so
muss der Untersatz besonders §. 369. 380 bejahen §.
383. 378, und der Obersatz
allgemein §. 384. 377 bejahen §. 378. Die Art der
Vernunftschlüsse in
der ersten Figur, deren Schlusssatz besonders bejahet, heisst
Darii, z.E. alle
beharrlich Ungläubige werden verdammt, einige Gelehrte sind beharrlich
Ungläubige;
also werden einige Gelehrte verdammt.
§. 389. Wenn der Schlusssatz in der ersten Figur besonders
verneinet, so
muss der Untersatz besonders §. 369 bejahen §. 383, und der
Obersatz allgemein
§. 384. 377 verneinen §. 380. Die Art der
Vernunftschlüsse in der ersten Figur,
deren Schlusssatz besonders verneinet, heisst Ferio;
z.E. keine gute Handlung
wird von GOtt gestraft, einige blosse Naturwerke der Menschen sind
gute Handlungen;
also werden einige blosse Naturwerke der [107] Menschen von GOtt
nicht
gestraft. In der ersten Figur sind nur vier Arten der
Vernunftschlüsse möglich
§. 385-388.
§. 390. Alle wahre Urtheile, welche in ordentlichen
Vernunftschlüssen
Schlussurtheile sein können, sind e[n]tweder A oder E, oder I
oder O §. 301.
Folglich können, in der ersten Figur, alle diese Urtheile geschlossen
werden
§. 386-389, und deswegen wird sie eine vollkommene Figur
genannt. Daher
sind die übrigen Figuren nicht nöthig.
§. 391. Wenn man wider die bisherigen Regeln zu schliessen
Vernunftschlüsse
macht, deren Vordersätze und Schlusssätze richtig sind; so folgen die
letztern aus den erstern nicht nothwendig, sondern sie sind nur
zufälliger Weise
wahr. Solche Schlüsse sind also, keine Einwürfe wider die
Richtigkeit dieser Regeln.
§. 392. Ein bedingter Vernunftschluss (ratiocinium
hypotheticum, conditionale,
connexum) ist ein Vernunftschluss, welcher von dem hinreichenden
Grunde auf die Folge schliesst §. 364. Da nun in keiner Art
der Urtheile die
Folge eines Urtheils aus seiner Bedingung bejahet wird, als in den
bedingten
§. 305; so haben diese Vernunftschlüsse ein bedingtes
Vorderurtheil, welches
ihr Obersatz genennet wird. Es muss derselbe eine richtige Folge haben
§. 306,
sonst schliesst man von dem Stocke im Winkel (argumentum a baculo ad
angulum).
§. 393. In einem bedingten Vernunftschlusse schliesst man
entweder
1) von der Richtigkeit des erstern auf die Richtigkeit des letztern
§. 364. 305.
Alsdenn bejahet der Untersatz, dass das erste wahr, und der
Schlusssatz, dass
das letzte wahr (modus ratiociniorum hypotheticorum ponens). Zum
Exempel:
wenn eine Vorsehung GOttes ist, so sind alle ängstliche Sorgen
vergeblich; nun ist
das erste wahr, also auch das letzte; Oder 2) von der Unrichtigkeit
des letztern
auf die Unrichtigkeit des erstern §. 364. 305. Alsdenn
bejahet der Untersatz
die Unrichtigkeit des letztern, und der Schlusssatz die Unrichtigkeit
des erstern
[108] (modus ratiociniorum hypotheticorum tollens), z.E.
wenn ein blindes
Schicksal ist, so giebt es keine freie Handlungen; nun ist das letzte
falsch, also
auch das erste.
§. 394. Weil eine Sache mehrere hinreichende Gründe haben
kann, so
kann man in den bedingten Vernunftschlüssen weder allemal von der
Unrichtigkeit
des ersten auf die Unrichtigkeit des letzten, noch von der Richtigkeit
des letzten auf die Richtigkeit des ersten schliessen §. 305.
§. 395. Die disjunctiven Vernunftschlüsse (ratiocinium
disiunctivum) sind
Vernunftschlüsse, welche von einem Gegentheile auf das andere
schliessen §. 365.
Folglich enthalten sie einen disjunctiven Vordersatz, welcher ihr
Obersatz genennet
wird §. 307. Wenn derselbe einer der §. 308 erwiesenen
Regeln zuwider ist,
so hat er keine Folge, und der disjunctive Vernunftschluss ist in der
Form
unrichtig §. 360.
§. 396. In den disjunctiven Vernunftschlüssen wird,
entweder 1) von der
Richtigkeit Eines Gliedes der Disjunction, auf die Unrichtigkeit der
übrigen geschlossen
§. 395. 365. Alsdenn muss der Untersatz ein Glied für wahr
ausgeben,
und der Schlusssatz die übrigen für falsch (modus ratiociniorum
disiunctivorum
ponendo tollens). Z.E. die Materie kann entweder denken oder
nicht, nun ist
das andere wahr, also ist das erste falsch; oder 2) von der
Unrichtigkeit aller
Glieder ausser Einem auf die Richtigkeit dieses Einen §. 395.
365. Alsdenn
muss in dem Untersatze von allen Gliedern ausser Einem bejahet werden,
dass
sie falsch sind, und in dem Schlusssatze von diesem Einen, dass es wahr
sei
(modus ratiociniorum disiunctivorum tollendo ponens). Zum
Exempel: die Materie
kann entweder denken oder nicht; nun ist das erste falsch, also ist das
andere wahr.
§. 397. Ein Dilemma (ratiocinium cornutum,
crocodillinum, dilemma,
trilemma etc.) ist ein bedingter Vernunftschluss, dessen letzteres
ein disjunctives
Urtheil ist, [109] in welchem alle Glieder falsch sind. Das
bedingte Urtheil,
dessen letzteres disjunctiv ist, ist der Obersatz; der Untersatz
bejahet, dass das
letztere insgesammt falsch ist, und der Schlusssatz bejahet, dass das
erste falsch
sei. Ein Dilemma muss also, den Regeln der bedingten und der
disjunctiven
Vernunftschlüsse zu gleicher Zeit gemäss sein §. 392. 393.
395. Zum Exempel:
wenn diese Welt nicht die beste wäre, so wäre entweder keine beste
Welt
möglich, oder GOtt hätte keine Kenntniss von derselben gehabt, oder
er hätte
sie nicht schaffen können, oder er hätte sie nicht schaffen wollen; nun
ist das
letzte insgesammt falsch, also auch das erste.
§. 398. Die Vernunftschlüsse, welche von der logischen
Veränderung eines
Urtheils, auf das durch die Veränderung entstandene Urtheil
schliessen, heissen
die unmittelbaren Folgerungen (consequentia immediata) §.
366. Zum Exempel:
alle Menschen können irren, also können auch einige Menschen irren;
oder, es
ist ein GOtt, also ist falsch, dass kein GOtt sei.
§. 399. Ein Vernunftschluss ist entweder so beschaffen, dass
seine richtige
Form offenbar ist, oder sie ist versteckt: jener ist ein förmlicher
Vernunftschluss
(ratiocinium formale), dieser aber ein versteckter (ratiocinium
crypticum),
welcher also in der Form unrichtig zu sein scheinen kann. Um die
logische Kunst zu verbergen, und die Pedanterei zu vermeiden, sind die
versteckten
Vernunftschlüsse anzupreisen.
§. 400. Zu den versteckten Vernunftschlüssen gehören
vornehmlich die
verstümmelten Vernunftschlüsse (enthymema), in welchem ein
Urtheil ausgelassen
wird, das ist, nicht so deutlich als die übrigen gedacht wird, weil es
ganz
gewiss und jemanden so geläufig ist, dass es ihm alsobald einfällt.
Z.E. alle
Menschen können irren, also kann ich auch irren.
[110] §. 401. Zu den verstümmelten
Vernunftschlüssen gehören 1) die zusammengezogene
Vernunftschlüsse (ratiocinium contractum), wenn man zum
Schlusssatze bloss den mittlern Hauptbegriff hinzu thut, doch so, dass
er kein bedingtes
Urtheil wird. Zum Exempel: diese Welt ist die beste, weil sie von
GOtt erwählt
worden. 2) Die Zergliederungsschlüsse (inductio), welche
folgenden
Obersatz zum Grunde legen, ihn aber auslassen: was von einem jedweden
niedrigern Begriffe bejahet oder verneinet werden kann, das kann von
ihrem höhern Begriffe allgemein bejahet oder verneinet werden §.
263. Wenn in
dem Untersatze alle niedrigere Begriffe angeführt werden, so ist es ein
ausführlicher
Zergliederungsschluss (inductio completa). Zum Exempel: die erste
Person der
Gottheit ist GOtt, die andere auch, die dritte auch; also sind alle
Personen der
Gottheit GOtt. 3) Die Exempelschlüsse (exemplum in
ratiociniis), wenn man
dasjenige, was man von einem niedrigern Begriffe bejahet oder verneinet
um
seines höhern Begriffs willen, von einem andern niedrigern Begriffe,
der zu eben demselben
höhern Begriffe gehört, bejahet oder verneinet. Zum Exempel: die
Menschen können sündigen, also können auch alle heilige Engel
sündigen.
§. 402. Ein Vernunftschluss, welcher in der Form unrichtig
ist (paralogismus),
wenn sein Fehler versteckt ist, wird ein Betrugschluss genennet
(sophisma, fallacia, captio).
§. 403. Ein Betrugschluss kann entstehen: 1) wenn wir
getrennte Dinge
auf eine unrichtige Art verknüpfen, und verknüpfte Dinge auf eine
unrichtige
Art trennen (sophisma sensus$b compositi et divisi). Zum Exempel:
wo drei Thaler
sind, da sind zwei Thaler; nun machen drei und
zwei Thaler fünf Thaler aus,
also wo drei Thaler sind, da sind fünf Thaler. 2) Wenn ein
Hauptbegriff auf
eine zweifache Weise genommen wird (sophisma figurae [111]
dictionis). Zum
Exempel: ein Weltweiser ist eine Gattung der Gelehrten, Leibniz
ist ein Weltweiser,
also ist Leibniz eine Gattung der Gelehrten.
§. 404. 3) Wenn man einen Hauptbegriff einmal mit einer
Einschränkung
und das anderemal ohne Einschränkung nimmt (fallacia accidentis,
seu a dicto
secundum quid ad dictum simpliciter, aut vice versa). Z.E. wer
da sagt, du
seist ein Thier, der redet die Wahrheit; wer nun sagt, du seist ein
Esel, der
sagt, du seist ein Thier, also redet er die Wahrheit. 4) Wenn man
einen unrechten
mittlern Hauptbegriff annimmt (fallacia medii). Z.E. wer blass
aussieht,
studirt fleissig; nun sieht Cajus
blass aus, also studirt er fleissig.
§. 405. 5) Wenn man das Urtheil, welches man bewiesen hat,
für
dasjenige hält, welches man beweisen sollen (sophisma
heterozeteseos). Zum
Exempel: wenn man die Unsterblichkeit der Seele beweisen soll, und man
beweiset
ihre Unverweslichkeit. 6) Wenn man das Urtheil, welches man widerlegt
hat, für dasjenige hält, was man widerlegen sollte (sophisma
ignorationis
elenchi). Z.E. wenn man wider denjenigen, welcher behauptet, dass
die Seele
sterben könne, beweiset, dass sie ewig lebe. 7) Wenn ein
zusammengesetztes
Urtheil bloss als ein einfaches in einem Vernunftschlusse angesehen
wird (sophisma
polyzeteseos). Z.E. es ist entweder wahr, dass die Hunde allein
unter allen
vierfüssigen Thieren Vernunft haben, oder es ist nicht wahr; ist das
erste, so
haben die Hunde Vernunft, ist das letzte, so haben alle vierfüssige
Thiere
Vernunft.
§. 406. Ein Vernunftschluss besteht entweder aus mehrern
Vernunftschlüssen,
oder nur aus Einem. Dieser ist ein einfacher (ratiocinium simplex,
probatio simplex), jener aber ein zusammengesetzter Vernunftschluss
(ratiocinium
compositum). Wenn ein Vernunftschluss zusammengesetzt ist, so
hängen
die mehrern Vernunftschlüsse, [112] aus denen er besteht, entweder
zusammen
oder nicht §. 353. In dem letzten Falle ist es ein ratiocinium copulatum, z.E.
alle Geister sind unsterblich, GOtt und alle menschliche Seelen sind
Geister,
also sind sie unsterblich. In dem ersten Falle ist der Vordersatz des
einen
der Schlusssatz des andern, und es wird eine Reihe verknüpfter
Vernunftschlüsse
genannt (ratiocinatio polysyllogistica, probatio composita). Zum
Exempel:
was den Naturgesetzen gemäss ist, macht mich vollkommener, die Tugend
ist
den Naturgesetzen gemäss, also macht mich die Tugend vollkommener; was
mich vollkommener macht, dazu bin ich verbunden, die Tugend macht mich
vollkommener, also bin ich zu ihr verbunden.
§. 407. In einer Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse
kommen nicht nur
welche vor, deren Schlusssätze Vordersätze anderer sind, sondern
auch solche,
deren Vordersätze Schlusssätze anderer sind §. 406. Jene
heissen Vorschlüsse (prosyllogismus),
und diese Nachschlüsse (episyllogismus). Und einige Urtheile
kommen in einer solchen Reihe zweimal vor
§. 406.
§. 408. Damit man in einer langen Reihe verknüpfter
Vernunftschlüsse
alle Verwirrung vermeide, so 1) theile man einen langen Beweis in
viele Theile,
indem man die vornehmsten Vordersätze, als besondere Lehrsätze,
besonders beweiset.
2) Man verknüpfe nicht lauter ordentliche und förmliche
Vernunftschlüsse
mit einander. 3) Man beweise entweder nur die Obersätze der
Vorschlüsse,
oder nur ihre Untersätze. 4) Man leite die
Schlusssätze aus zusammengezogenen
Vernunftschlüssen her §. 401 (epicherema).
5) Man lasse alle Urtheile,
die zweimal vorkommen §. 407, weg, und das wird ein gehäufter
Vernunftschluss
genannt (sorites). Z.E. die Tugend ist den Naturgesetzen
gemäss,
was den Naturgesetzen gemäss, das macht mich vollkommener, was mich
vollkommener
macht, dazu bin ich verbunden; also bin ich zur Tugend verbunden.
[113] §. 409. Wenn die Vernunftschlüsse, aus denen der
gehäufte Vernunftschluss
besteht, aus der ersten Figur sind, und die Untersätze der
Nachschlüsse
weggelassen werden, so ist es ein gemeiner gehäufter Vernunftschluss
(sorites communis). Z.E. das vorhin angeführte Beispiel.
Besteht er
aber aus lauter bedingten Vorsätzen, so heisst er ein bedingter
(sorites hypotheticus).
Z.E. wenn der Mensch einen eingeschränkten Verstand hat, so hat
er verworrene Vorstellungen; wenn er verworrene Vorstellungen hat, so
kann
er irren; wenn er irren kann, so kann er sündigen: also, wenn der
Mensch einen
eingeschränkten Verstand hat, so kann er sündigen.
§. 410. Wenn in einer Reihe verknüpfter Vernunftschlüsse
Ein oder
mehrere Urtheile ausgelassen werden, so wird ein Sprung im Beweise
begangen
(saltus in probando). Die ausgelassenen Urtheile sind entweder
demjenigen,
der durch den Beweis überzeugt werden soll, gewiss, und
fallen ihm leichte ein;
oder nicht. In dem ersten Falle ist der Sprung rechtmässig (saltus
legitimus),
in dem andern aber unrechtmässig (saltus illegitimus).
§. 411. Wenn ein Schlusssatz aus Vordersätzen hergeleitet
wird, welche
eben so ungewiss sind als er selbst, so werden die Beweisthümer
erbettelt
(petitio principii seu quaesiti). Wenn aber ein Schlusssatz zu
seinem eigenen
Vordersatze angenommen wird, so nennt man diesen Fehler die Wiederkehr
im Beweise (circulus in probando).
§. 412. Ein Beweis beweist zu wenig (probatio minus
probans) wenn
durch ihn nicht der ganze Schlusssatz gewiss wird; folgt aber aus einem
Beweise
ausser dem Schlusssatze etwas, welches falsch oder gar zu verschieden von
dem Schlusssatze ist, so beweist er zu viel (probatio plus probans).
[114] §. 413. Durch Vernunftschlüsse kann man 1) die
deutlichste Gewissheit
erlangen, die einem Menschen möglich ist §. 355. 2) Den
Irrthümern
am leichtesten widerstehen; 3) neue Wahrheiten erfinden; und 4) alle
Beweisthümer
erfinden, die da nöthig sind, um ein gelehrtes Lehrgebäude
aufzuführen
u.s.w.
Der andere Haupttheil,
von der Lehrart der gelehrten Erkenntniss.
§. 414. Die Lehrart (methodus) ist eine merklichere
oder grössere Ordnung
der Gedanken. In so ferne mehrere Gedanken auf einerlei Art entweder
beisammen sind, oder auf einander folgen, in so ferne ist unter ihnen eine
Ordnung,
welche entsteht, wenn verschiedene Gedanken nach einerlei Regeln
einander
zugeordnet werden.
§. 415. Die Lehrart ist in der Erkenntniss §. 414.
11. und also
entweder eine Ordnung der gemeinen Erkenntniss, die gemeine Lehrart
(methodus vulgaris), oder der vernünftigen §. 17. 18, die
vernünftige Lehrart
(methodus rationalis). Zu jener gehört die ästhetische Lehrart
§. 19, zu dieser
aber die gelehrte Lehrart (methodus erudita, logica,
philosophica), die Lehrart
der gelehrten Erkenntniss §. 21.
§. 416. Die gelehrte Lehrart befördert 1) die
Deutlichkeit der gelehrten
Erkenntniss §. 142 n. 4. 2) Die Wahrheit in einem
Lehrgebäude und die
Gründlichkeit §. 105. 3) Die Einheit und den durchgängigen
Zusammenhang
eines Lehrgebäudes. 4) Die Vollkommenheit der gelehrten
Erkenntniss: denn
alle Ordnung ist eine Vollkommenheit. 5) Das Behalten der
Wahrheiten durchs
Gedächtniss §. 414.
[115] §. 417. Je mehr Gedanken mit einander
verknüpft werden, nach je
mehrern und wichtigern gemeinschaftlichen Regeln diese Verknüpfung
geschieht,
desto grösser und vollkommener ist die Lehrart §. 414. Folglich
wird zur
grössten Vollkommenheit einer gelehrten Erkenntniss erfodert, dass sie
so
methodisch sei als möglich §. 416.
§. 418. Eine Lehrart verbindet die Gedanken, entweder nur
nach einer
einzigen gemeinschaftlichen Regel, oder nach mehrern. Jene ist eine
einfache
(methodus simplex), diese aber eine zusammengesetzte Lehrart
(methodus
composita). Diese ist vollkommener als jene §. 417.
§. 419. Die Verschiedenheit der Lehrarten
rührt, von der Verschiedenheit
der Regeln, her, nach welchen die Gedanken einander zugeordnet
werden
§. 414, und die Verschiedenheit der Regeln fliesst, aus der
Verschiedenheit der
Erkenntnisskräfte, und aus der verschiedenen Beschaffenheit der
Erkenntniss,
welche nach einer Lehrart gedacht werden soll.
§. 420. Da die gelehrte Erkenntniss eine deutliche
Erkenntniss aus Gründen
ist §. 21. 17, so müssen in der gelehrten Lehrart die Gedanken
dergestalt
auf einander folgen, dass ihr Zusammenhang dadurch deutlich gewiss werde
§. 415. 419. Dieses ist das Grundgesetz der gelehrten
Lehrart.
§. 421. Die Lehrart dogmatischer Wahrheiten ist von der
Lehrart der historischen
unterschieden §. 419. 104. In jener müssen die Gedanken
aus einander
bewiesen werden, entweder durch eine Demonstration, oder durch einen
unzureichenden
Beweis §. 191. Wenn das erste ist, so wird sie eine
demonstrativische,
oder scientifische Lehrart genannt (methodus demonstrativa,
scientifica,
apodictica).
§. 422. In der gelehrten Lehrart dogmatischer Wahrheiten
werden lauter
Gedanken einander zugeordnet, die entweder die Gründe der Wahrheit,
Deutlichkeit
und Gewissheit anderer sind, oder die Folgen, oder beides zugleich
[116]
§. 421. 420. 15. Also werden die Gründe entweder den
Folgen vorgesetzt,
oder nachgesetzt. Jene ist die synthetische (methodus synthetica),
diese aber
die analytische Lehrart (methodus analytica). Folglich ist die
gelehrte Lehrart
entweder synthetisch oder analytisch, sie mag nun demonstrativisch sein
oder nicht §. 421.
§. 423. Die analytische Lehrart ist sehr unbequem, wenn man
ein weitläuftiges
Lehrgebäude nach ihr abhandeln, oder lernen wollte. Sie schickt sich
aber sehr gut, 1) wenn man einen Grundriss zu einem Lehrgebäude
zeichnen
will, um dasselbe hernach nach der synthetischen Lehrart abzuhandeln;
2) wenn
man, aus den Folgen und Schlusssätzen, die Gründe und Vordersätze
erfinden will;
3) wenn man ein schon gelerntes Lehrgebäude ofte wiederholen
will; 4) wenn man
die einzeln kürzern Theile eines Lehrgebäudes recht durchdenken will
§. 422.
§. 424. Die synthetische Lehrart ist allemal mit vielen
Unbequemlichkeiten
verbunden, wenn man sich derselben in solchen Fällen bedient, wo
die analytische angepriesen worden §. 423. Sie hat aber grosse
Vortheile,
wenn man sich derselben bedient: 1) wenn man ein schon erfundenes
Lehrgebäude,
im Ganzen betrachtet, durchdenken und abhandeln will; 2) wenn man
dasselbe lernen will; 3) wenn man aus den Gründen und Vordersätzen
die
Folgen und Schlusssätze erfinden will §. 422.
§. 425. In der synthetischen Lehrart müssen allemal die
Gründe eher
gedacht werden, als die Folgen §. 422. Folglich 1) müssen die
Begriffe, welche
Merkmale anderer Begriffe sind, eher erklärt werden als die andern
§. 115, und
also die höhern eher als die niedrigern §. 261. 2) Die
unerweislichen Wahrheiten
müssen vor den erweislichen vorhergehen §. 314-317. 3) Die
Vordersätze
müssen eher gedacht werden als die Schlusssätze §. 356, und also
die
Vorschlüsse eher als die Nachschlüsse §. 407. 4) Diejenigen
erweislichen
Wahrheiten, aus denen andere folgen, müssen [117] vor diesen
vorhergehen.
In der analytischen Lehrart verhält sich alles umgekehrt §.
422.
§. 426. Die synthetische Lehrart, welche nur bloss die
Absicht hat, die
mathematische Gewissheit der Erkenntniss zu befördern §. 161,
heisst die mathematische
Lehrart (methodus mathematica). Sie muss also nicht nur den
Regeln
der synthetischen §. 425, aufs allergenaueste gemäss sein, sondern
vermöge derselben
lässt man auch entweder alles weg, was
nicht zur mathematischen Gewissheit
unentbehrlich erfodert wird, oder man bringt es in Anmerkungen
§. 340. Sie hat bei sehr schweren Demonstrationen, sonderlich
für Anfänger,
einen grossen Nutzen, wenn man sich aber an dieselbe allein gewöhnt, so
bekommt
man eine bloss gelehrte Erkenntniss §. 161, und es ist demnach nicht
zu rathen §. 40.
§. 427. Die Kunst (ars) ist ein Inbegriff der
Regeln, welche nach einer
Ordnung gedacht werden. Die künstliche Lehrart (methodus
artificialis, scholae)
ist die Lehrart, in so fern sie durch die Kunst gelernt und ausgeübt
wird. Die
natürliche Lehrart (methodus naturalis) ist die Lehrart,
in so ferne sie nicht
künstlich ist, sondern aus der Natur der Erkenntniss und desjenigen,
der da
denkt, folget. Die vermischte Lehrart (methodus mixta) ist die
natürliche Lehrart,
in so ferne ihr die künstliche zu Hülfe kommt.
§. 428. Unter den künstlichen gelehrten Lehrarten sind die
besten 1) die
schliessende Lehrart (methodus syllogistica), wenn man alle
Beweise in lauter
förmliche Schlüsse zergliedert, und keine Sprünge begeht. Sie thut
einem Anfänger
gute Dienste. Sonst ist sie zu weitläuftig, zu ekelhaft und nicht
deutlich
genung. 2) Die Lehrart nach Tabellen (methodus tabellaris),
wenn man alle
Glieder der Eintheilungen und Theile des Ganzen so zusammenordnet,
dass
daraus erhellet, zu was für einem höhern Begriffe und Ganzen ein jeder
Gedanke
gehört. [118] Sie befördert den deutlichen Begriff von einem
ganzen Lehrgebäude,
und das Gedächtniss; allein sie fällt ofte in das Gezwungene, die
Aufmerksamkeit
wird überladen, und die Gründlichkeit kann durch sie nicht gehörig
erlangt werden. 3) Die Lehrart nach einer Zertheilung eines ganzen
Lehrgebäudes, wenn man die Urtheile nach der Verschiedenheit ihrer
Subjecte
auf einander folgen lässt; daher Capitel, Abschnitte u.s.w.
entstehen. Wenn
sie mit der synthetischen verbunden wird, so hindert sie die
Gründlichkeit nicht,
und schafft den Nutzen der Lehrart nach Tabellen.
§. 429. Wenn man ein Lehrgebäude abhandeln will, so muss es
nach der
synthetischen, und in einigen Fällen nach der analytischen Lehrart
geschehen
§. 423. 424, denn sie schicken sich für die Natur eines
Lehrgebäudes §. 420.
Was nun von allen übrigen künstlichen Lehrarten damit verbunden werden
kann, entweder die Deutlichkeit und Gewissheit zu befördern, oder das
Gedächtniss,
oder die Ordnung zu vermehren, das verknüpfe man mit der synthetischen
und analytischen Lehrart. Folglich ist das gezwungene Wesen
in der Lehrart (affectatio in methodo) ein Fehler, 1) wenn die
künstliche Lehrart
nichts taugt, der Natur zuwider ist, und ganz willkürlich ist. 2)
Wenn
man sich an eine einfache Lehrart zu genau bindet, und von derselben
niemals
eine Ausnahme machen will. 3) Wenn man die Regeln der Lehrart gar zu
genau und ängstlich beobachtet.
§. 430. Die gelehrte Lehrart muss natürlich und
ungekünstelt sein §. 429.
Sie muss also der Natur der gelehrten Erkenntniss gemäss sein, und
ohne
ängstliche Mühe beobachtet werden. Folglich muss sie dem Kopfe
desjenigen,
der nach ihr denken will, gemäss sein. Wem es also gegeben ist, der
kann
sich 1) der sokratischen Lehrart (methodus
socratica ) bedienen, vermöge
welcher die Gedanken so auf einander folgen, wie sie einander, als
Fragen und
Antworten in dem Gespräche mehrerer Personen, veranlassen; 2) der
platonischen
Lehrart (methodus platonica ), vermöge
[119] welcher die Gedanken,
wie in einer freien Rede, auf einander folgen, so dass alle Arten der
gelehrten
Gedanken unter einander gemengt werden, ohne dass man förmliche und
offenbare
Schlüsse mache.
§. 431. Wenn man ein Lehrgebäude nach der synthetischen
Lehrart abhandeln
will, so muss man 1) nur Eine Wahrheit zum Grunde legen, aus welcher
alles übrige hergeleitet wird, damit das Lehrgebäude eine Einheit und
einen
durchgängigen Zusammenhang bekomme, damit es nicht mehr und nicht
weniger
enthalte, als nöthig ist. 2) Man lege eine Zertheilung zum Grunde,
und sondere
das Lehrgebäude in einige Abschnitte ab, doch so, dass keine
Ausnahme von
der synthetischen Lehrart dadurch gemacht werde. 3) Die gelehrten
Gedanken
selbst müssen folgendergestalt auf einander folgen. a) Zuerst kommen
die Erklärungen;
b) alsdenn folgen entweder die unerweislichen Wahrheiten oder die
anschauenden Urtheile; c) alsdenn die erweislichen Wahrheiten. d)
Die Zusätze
und Anmerkungen werden überall eingestreuet, wo sie nöthig und
nützlich
sind §. 420. 425.
§. 432. Die Lehrart historischer Wahrheit §. 421 muss
der Natur der
historischen Wahrheiten gemäss sein §. 419; folglich muss man sie
in der Ordnung
denken, in welcher ihre Gegenstände entweder dem Raume oder der
Zeit nach mit einander verbunden sind. Dahin gehört also die
chronologische
Lehrart (methodus chronologica), wenn man die Begebenheiten in
eben der
Folge denkt, als sie auf einander würklich erfolgt sind; und die
geographische
Lehrart (methodus geographica), vermöge welcher man die
Begebenheiten,
die an einem Orte sich zutragen, oder zugetragen haben, nach der
chronologischen Lehrart denkt. Weil nun auch die würklichen
Begebenheiten
der Welt zusammenhängen, und ein Mensch ofte diesen Zusammenhang
einsehen
kann, so kann man, wenigstens [120] ofte, bei historischen
Wahrheiten sich
auch der vernünftigen Lehrart bedienen §. 415.
§. 433. Die beste gelehrte zusammengesetzte Lehrart kann
einem Menschen
eine Unordnung zu sein scheinen, der ihre Regeln nicht kennt, oder der
sich an
eine andere Lehrart gewöhnt hat, oder nur an eine einfache. Deswegen
aber
kann man einer solchen Lehrart keinen gegründeten Vorwurf machen.
§. 434. Eine Doctrin, eine Lehre (doctrina) ist ein
Inbegriff dogmatischer
Wahrheiten, welche einen und eben denselben Gegenstand haben. Eine
Disciplin
(disciplina) ist eine Lehre in so ferne sie methodisch erkannt
wird. Eine
demonstrirte Disciplin ist eine Wissenschaft (scientia obiective
spectata). Die
gelehrte Erkenntniss ist immer im Anfange eine Doctrin, alsdenn giebt
man ihr
die Gestalt einer Disciplin, und endlich die Gestalt einer
Wissenschaft, und
alsdenn hat sie ihre grösste Vollkommenheit erreicht.
§. 435. Wer da denkt, der denkt entweder nach einer
Lehrart, oder nach
keiner §. 414. Jener denkt methodisch (methodice cogitare,
methodicum, acroamaticum,
disciplinale in cognitione), dieser aber tumultuarisch
(tumultuaria
cognitio). Keine tumultuarische Erkenntniss kann recht gelehrt sein
§. 416.
§. 436. Das Meditiren (meditatio) ist diejenige
Beschäftigung unserer Erkenntnisskräfte,
durch welche wir einer Sache nach den Regeln einer Lehrart
nachdenken. Geschieht es nach den Regeln der gelehrten Lehrart, so ist
es
ein gelehrtes Meditiren (meditatio erudita), welches so mancherlei
ist, als es
verschiedene Arten der gelehrten Lehrart giebt. Ohne diesem gelehrten
Meditiren
können wir, keine gelehrte Erkenntniss, erlangen.
§. 437. Wer gelehrt meditiren will 1) der erwähle sich
einen Gegenstand,
auf welchen er seine Aufmerksamkeit richtet; 2) er denke nach und nach
die
Merkmale desselben, [121] welche seine Erklärung, die
unerweislichen, und
endlich die erweislichen Prädicate desselben ausmachen. Diese hat man
entweder
schon gelernt, und da thut man gut, wenn man beim Meditiren schreibt;
oder
man will sie lernen, und da muss man in einem Buche lesen, oder dem
mündlichen
Vortrage zuhören; oder man will sie erst erfinden. 3) Man untersuche,
ob das, was man denkt, ein Begriff, ein Urtheil, ein Lehrsatz u.s.w.
sei, und
überlege es so lange, bis man allen Regeln Genüge geleistet, welche
die Vernunftlehre
bei einer jeden Art der gelehrten Gedanken vorschreibt.
§. 438. Es ist eine Schande, wenn man aus Pedanterei alle
Arten zu
denken verachtet, die nicht über den Leisten derjenigen Lehrart
geschlagen
sind, in die man sich verliebt hat, und wenn man, wie ein Charlatan, aus
der
Lehrart, die man liebt, zu viel Wesens macht.
Der dritte Haupttheil,
von dem gelehrten Vortrage.
Der erste Abschnitt,
von dem Gebrauche der Worte.
§. 439. Die logische Bezeichnungskunst (logica
characteristica heuristica)
ist die Wissenschaft der Regeln, die man beobachten muss, wenn man die
gelehrte
Erkenntniss auf eine geschickte Art bezeichnen will. Die logische
Auslegungskunst
(hermeneutica logica) ist die Wissenschaft der Regeln, wie man
auf eine gelehrte Art aus den Zeichen die bezeichneten Sachen erkennen
soll.
§. 440. Ein Zeichen (signum, symbolum) ist ein
Mittel, durch dessen Gebrauch
die Würklichkeit eines andern Dinges erkannt werden kann, welches
andere Ding [122] die bezeichnete Sache oder die Bedeutung
(signatum, significatus)
genannt wird. Ein Ausdruck (terminus) ist ein Zeichen der
Erkenntniss;
die Ausdrücke, welche gewöhnlicher Weise in einer menschlichen
Stimme bestehen,
heissen Worte (vocabulum). Die durch die Ausdrücke und Worte
bezeichnete
Erkenntniss wird die Bedeutung derselben genannt (significatus
vocabuli et
termini).
§. 441. Diejenige Bedeutung, welche derjenige, der das
Wort braucht,
durch das Wort bezeichnen will, ist die wahre Bedeutung
(significatus hermeneutice
verus). Eine jede andere Bedeutung aber ist die falsche
(significatus
hermeneutice falsus). Die wahre Bedeutung kann ein falscher Begriff,
und die
falsche ein wahrer Begriff sein.
§. 442. Die Rede (oratio) ist eine Reihe Worte,
welche Vorstellungen
bezeichnet, die mit einander verknüpft sind. Diese Reihe der
Vorstellungen
heisst der Sinn der Rede (sensus orationis), welcher entweder ein
wahrer Sinn
ist (sensus hermeneutice verus), wenn ihn der Redende hat
bezeichnen wollen,
oder ein falscher (sensus hermeneutice falsus), wenn er nicht der
wahre ist.
Der Vortrag (propositio) ist die Hervorbringung einer
Erkenntniss in andern,
vermittelst einer Rede, es mag nun derselbe entweder ein mündlicher oder
schriftlicher Vortrag sein.
§. 443. So viele Arten der Erkenntniss es giebt, so viele
Arten der Rede
und des Vortrages giebt es auch §. 442. Es giebt also gemeine
Reden, ästhetische
Reden, vernünftige Reden, und auch dergleichen Arten des Vortrages
§. 17. 18. 19. Eine gelehrte Rede (oratio erudita)
ist eine Rede, deren Sinn
eine gelehrte Erkenntniss ist §. 21, und wir tragen +W
tragen vor -W etwas auf eine gelehrte
Art vor (erudite proponere), wenn wir, durch eine gelehrte
Rede, in andern
eine gelehrte Erkenntniss hervorbringen.
§. 444. Die gelehrte Rede muss, nebst allen ihren Theilen,
dergestalt
beschaffen sein, dass die [123] höchste Vollkommenheit der
gelehrten Erkenntniss
nicht gehindert, sondern befördert und bezeichnet werde §. 442.
Man muss
also in derselben 1) alle ästhetischen Regeln der Rede beobachten,
welche der
logischen Vollkommenheit der Erkenntniss nicht zuwider sind §.
34. 2) Alle
ästhetischen Vollkommenheiten vermeiden, welche der erfoderten
logischen Vollkommenheit
der Rede zuwider sind §. 34.
§. 445. Eine Rede ist entweder bloss gelehrt (oratio
mere erudita), wenn
sie nichts weiter als eine bloss gelehrte Erkenntniss bezeichnet, in dem
entgegengesetzten
Falle aber ist sie keine bloss gelehrte Rede (oratio non mere
erudita).
Und eben so ist der gelehrte Vortrag verschieden §. 443. Die
letztern sind die
besten §. 40. 32.
§. 446. Der gelehrte Ausdruck muss weitläuftig sein §.
25. 444. Folglich
1) muss ein Gelehrter so viele Ausdrücke wissen, als erfordert
werden, alle seine gelehrte
Gedanken zu bezeichnen. 2) Man muss alle nöthige Kunstwörter seiner
Hauptwissenschaft
wissen, und im Falle der Noth ist es erlaubt, neue Ausdrücke zu
erfinden. Ein Kunstwort (terminus technicus) ist ein Ausdruck,
welcher ausser
einer Kunst oder Disciplin gar nicht gebraucht werden darf. 3) Man
muss alle
gleichvielbedeutende Ausdrücke wissen (synonyma), oder alle
Ausdrücke die
einerlei bedeuten. 4) Der gelehrte Ausdruck muss alles bezeichnen, was
man
denkt, und weder mehr noch weniger bezeichnen als man sagen will. 5)
Man
muss alle Bedeutungen eines Ausdrucks wissen, die er, durch den
gemeinen
und gelehrten Gebrauch zu reden, schon bekommen hat. Der gemeine
Gebrauch
zu reden (usus loquendi) ist die Übereinstimmung im gemeinen
Leben, vermöge
welcher Leute, die eine Sprache reden, mit gewissen Worten eine oder
mehrere
Bedeutungen verbinden. Der gelehrte Gebrauch zu reden (receptus
terminorum
significatus) [124] ist eben dergleichen Übereinstimmung
dererjenigen, die sich
einer Disciplin befleissigen.
§. 447. Der gelehrte Ausdruck muss, für die gelehrte
Erkenntniss,
gross, wichtig und anständig genung sein §. 444. 26.
Folglich muss man in
dem gelehrten Vortrage alle niederträchtigen, lächerlichen und
pöbelhaften Ausdrücke
vermeiden, welche nur unter dem Pöbel gebräuchlich sind.
§. 448. Der gelehrte Ausdruck muss richtig sein §.
444. 27. Ein
wahrer Ausdruck (terminus verus) muss seine wahre Bedeutung §.
441 richtig
bezeichnen; ein Ausdruck, der nicht wahr ist, ist ein falscher Ausdruck
(terminus
falsus).
§. 449. Ein Ausdruck ist falsch: 1) wenn seine Bedeutung
ein falscher
Begriff ist, und derjenige, welcher den Ausdruck braucht, von der
Unrichtigkeit
der Bedeutung überzeugt ist; 2) wenn wir einen Ausdruck zu verstehen
glauben,
da wir ihn doch nicht verstehen; ein solcher falscher Ausdruck ist ein
leerer
Ausdruck, oder ein leeres Wort (terminus inanis). Wir verstehen
einen
Ausdruck (terminum intelligere), wenn wir aus ihm seine Bedeutung
erkennen.
Ein leeres Wort entsteht: a) wenn wir, den Begriff von dem Worte
selbst, für
seine Bedeutung halten §. 440. b) Wenn die Bedeutung des
Worts ein irriger
oder betrügerischer Begriff ist (conceptus deceptor), ein
Begriff, den wir zu
haben glauben, da wir doch keinen haben. 3) Wenn er einen wahren
Begriff
nicht richtig bezeichnet §. 448.
§. 450. Ein geläufiger Ausdruck (terminus familiaris)
ist ein Ausdruck,
den wir uns angewöhnt haben, oder den wir zu verstehen glauben,
ob wir ihn
gleich nicht verstehen, weil wir auf seine Bedeutung nicht Achtung
geben.
Solche Ausdrücke können wahre Ausdrücke sein, allein wir stehen bei
ihrem
Gebrauche in der grössten Gefahr, leere Ausdrücke auszuhecken, wenn
wir ein
Paar geläufige [125] Ausdrücke mit einander verbinden, deren
Bedeutungen unmöglich
sind, oder einander widersprechen §. 449. Daher können Leute
von
nichts reden, und doch einander zu verstehen scheinen, wenn sie nämlich
Ausdrücke
gebrauchen, die ihnen geläufig sind.
§. 451. Ob man gleich in den
gelehrten Reden die falschen Ausdrücke
der ersten Art §. 449 nicht vermeiden kann, wenn man Irrthümer
widerlegen
muss; so muss man doch alle andere falsche und leere Ausdrücke
vermeiden,
weil aus ihrem Gebrauche Gedankenlosigkeit und Irrthümer entstehen.
Zu dem
Ende muss man keinen Ausdruck brauchen, 1) dessen Bedeutung man nicht
erkannt
hat, und 2) dessen Bedeutung man nicht untersucht hat, ob sie ein
wahrer
oder falscher Begriff ist.
§. 452. Ein grober Ausdruck (terminus crassus) ist ein
Ausdruck, dessen
Bedeutung eine grobe Erkenntniss ist §. 102. Der Gebrauch der
leeren Ausdrücke
in den gelehrten Reden ist die Wortkrämerei der Gelehrten, da man
Worte für Sachen verkauft. Z.E. wenn ein Gelehrter den Grund von
einer
Sache angeben soll, und er hat die Sache mit einem Ausdrucke
bezeichnet, den
er hernach als den Grund anführt, so verkauft er Worte für Sachen.
Alles
dieses muss man vermeiden §. 451.
§. 453. Der gelehrte Ausdruck muss klar sein §. 444.
28. Man muss
sie also nicht nur selbst von andern Ausdrücken gehörig unterscheiden
können,
sondern ihre Bedeutung muss auch hinlänglich klar sein. Ein dunkeler
Ausdruck
(terminus obscurus) hat eine dunkele Bedeutung, ein klarer
(terminus
clarus) eine klare u.s.w. Ein dunkeler Ausdruck ist deswegen
kein leerer
§. 449, und ein Ausdruck der mir dunkel ist, ist deswegen nicht
schlechterdings
und andern Leuten dunkel §. 126.
§. 454. Aus einem Ausdrucke kann seine Bedeutung entweder
klar erkannt
werden, oder nicht. Jener ist ein verständlicher (terminus
intelligibilis),
dieser aber [126] ein unverständlicher Ausdruck (terminus non
intelligibilis).
Ob man nun gleich in einer gelehrten Rede
nicht lauter Ausdrücke brauchen
kann, die allen Leuten verständlich sind; so muss man doch lauter solche
Ausdrücke brauchen, welche auch Leuten von mittelmässigem Verstande,
und die der Sprache mittelmässig mächtig sind, verständlich sein
können,
wenn sie auf die Rede auch nur mittelmässig Achtung geben §.
453.
§. 455. Wer sich in einer gelehrten Rede der allerverständlichsten Ausdrücke
bedienen will §. 454, 1) der muss, die bekanntern und
gewöhnlichern
Ausdrücke, den unbekanntern und ungewöhnlichern vorziehen, wenn sie
übrigens
einander gleich sind. 2) Er muss mit dem Ausdrucke allemal diejenige
Bedeutung
verbinden, welche durch den Gebrauch zu reden, sowohl im gemeinen
Leben als auch in den Disciplinen, damit verbunden ist §. 446, bis
ihn die
Noth zum Gegentheil zwingt; 3) er muss, wenn der Gebrauch zu reden
mannigfaltig
ist, mit den Ausdrücken die allergewöhnlichsten Bedeutungen
(significatus
famosissimus) verknüpfen, das ist, diejenigen, welche von den meisten
in den meisten Fällen mit dem Ausdrucke verbunden sind; 4) wenn in
einem
gewissen Falle die drei vorhergehenden Regeln nicht zureichen, so
erkläre man
diejenige Bedeutung, in welcher man einen Ausdruck nimmt §. 268.
§. 456. Der gelehrte Ausdruck muss gewiss sein §. 444.
29. Ein gewisser
Ausdruck (terminus certus) ist so beschaffen, dass man nicht nur
gewiss
weiss, er habe eine Bedeutung, sondern er habe auch eben diese und keine
andere Bedeutung. Ein Ausdruck ist ungewiss (terminus incertus),
wenn er
nicht gewiss ist; und durch den Gebrauch ungewisser Ausdrücke wird die
Rede
auf Schrauben gesetzt.
§. 457. Ein zweideutiger Ausdruck (terminus ambiguus,
homonymus,
vagus) hat nicht immer Eine Bedeutung; so bald er sie bekommt, wird
seine
Bedeutung [127] festgesetzt (terminus fixus). Die
Zweideutigkeit des Ausdrucks
hindert seine Gewissheit §. 456, man muss also alle Zweideutigkeit
verhüten.
Und wenn der Gebrauch zu reden dazu nicht zureicht §. 446, so muss
man die
Bedeutungen durch logische Erklärungen festsetzen.
§. 458. Der gelehrte Ausdruck muss so sehr gefallen, dass
man dadurch
gereizt werden kann, die unter ihm verborgen liegende Erkenntniss
aus ihm zu erkennen §. 444. 30. Folglich muss er mit allen
Vollkommenheiten,
welche der gelehrten Erkenntniss nicht zuwider sind, ausgeschmückt
werden,
dass man ihn gerne und mit Lust lese oder höre.
§. 459. Bei dem Gebrauch der Worte in den logischen
Erklärungen sind
noch vier Regeln zu beobachten: 1) Man muss auch in den Erklärungen
den
Gebrauch zu reden beobachten, so lange es möglich ist §. 455.
2) Man muss
weder den Ausdruck des erklärten Begriffs, noch die gleichgültigen
Ausdrücke
desselben, in die Rede setzen, welche die Erklärung bezeichnen; denn
alsdenn
würde die Erklärung nicht deutlicher sein, als der erklärte Begriff
§. 275, 446.
3) Eine Erklärung muss mit so wenig Worten ausgedruckt werden, als
es ohne
Nachtheil der Deutlichkeit geschehen kann; damit durch zu viele Worte
die Aufmerksamkeit
nicht zerstreuet werde.
§. 460. Diejenige Bedeutung, um welcher willen ein Wort
erfunden worden
und gebraucht wird, und wenn es sonst auch gar keine Bedeutung haben
sollte,
heisst die eigentliche Bedeutung (significatus proprius), die
andern Bedeutungen
sind uneigentliche (significatus improprius). Wenn man ein Wort
braucht,
um jene zu bezeichnen, so ist es ein eigentliches (terminus
proprius); braucht
man es aber um diese zu bezeichnen, so ist es ein uneigentliches Wort
(terminus
improprius). Bei einem uneigentlichen Worte denken wir ausser der
uneigentlichen
Bedeutung allemal die eigentliche, ob man
gleich [128] von einer
jeden einen ausführlichen Begriff haben könnte, ohne an die andere zu
denken.
Daher muss man 4) in dem Ausdrucke der logischen Erklärungen alle
uneigentliche
Ausdrücke verhüten, weil widrigenfalls die Erklärung zu
weitläuftig sein
würde §. 270, und wenn wir in der Sprache manchmal keine
eigentlichen Ausdrücke
finden können, so müssen wir ein uneigentliches Wort, durch die
Erklärung
seiner uneigentlichen Bedeutung, vorher in ein eigentliches verwandeln,
ehe wir es in einer andern Erklärung brauchen.
§. 461. Wenn man die Bedeutung eines vielbedeutenden Worts
erklären
soll, so können wir eine unter seinen mehrern Bedeutungen erklären,
welche uns
gefällig ist, wenn die mehrern Bedeutungen in einem gleichen Grade
gewĆ‚öhnlich
sind. Und in dieser Absicht sind die Erklärungen ofte willkürlich.
§. 462. Ein Urtheil, welches durch Ausdrücke bezeichnet
wird, heisst ein
Satz (propositio, enunciatio). Ein Satz, in welchem nicht alle
Begriffe mit besondern
Ausdrücken bezeichnet werden, heisst ein versteckter Satz
(propositio
cryptica). Die Ausdrücke, welche die Grösse des Urtheils
bezeichnen, heissen
die Zeichen der Grösse. In einem Satze sind entweder die Zeichen der
Grösse
oder nicht (propositio definita, et indefinita). Die letzten werden
durch den
Sprachgebrauch allgemein verstanden, und wer also nicht unrecht will
verstanden
sein, der muss die Zeichen der Grösse in den Sätzen nicht
auslassen, die er
nicht allgemein will verstanden wissen. Ein Satz wird verstanden, wenn
alle in
demselben befindliche Ausdrücke verstanden werden §. 449.
§. 463. Ein Vernunftschluss, wenn er durch Ausdrücke
bezeichnet wird,
heisst eine Schlussrede (syllogismus). Man hüte sich, dass man
die Schlussreden
nicht immer nach einer Ordnung, und mit einerlei Kunstworten vortrage.
Und wenn man die Schlussreden versteckt oder [129] verstümmelt, so
richte
man sich nach dem Zuhörer, damit er nicht irre gemacht werde, und sich
aller
ausgelassenen Sätze erinnern könne. Diejenigen Betrugschlüsse,
welche bloss
auf der Zweideutigkeit der Ausdrücke beruhen (sophisma
ambiguitatis, amphiboliae),
sind kaum der Mühe werth, dass man ihrer Erwähnung thue.
Der andere Abschnitt,
von der gelehrten Schreibeart.
§. 464. Die gelehrte Schreibeart (stilus eruditus,
philosophicus), ist die
Übereinstimmung, oder ˇhnlichkeit der Art und Weise, wie man gelehrt
redet.
§. 465. Da die gelehrte Schreibeart ein Theil der
gelehrten Rede ist
§. 464. 443, so hat sie mit derselben einerlei Absicht, nämlich
die gelehrte Erkenntniss
bei sich selbst und andern zu befördern. Eine gute gelehrte
Schreibeart
(stilus eruditus perfectus) muss also die gelehrte Erkenntniss und
ihre Vollkommenheiten
befördern, welche aber dieselben hindert, ist eine schlechte gelehrte
Schreibeart (stilus eruditus imperfectus).
§. 466. Zu den Vollkommenheiten der gelehrten Schreibeart
gehören
1) alle Beschaffenheiten derselben, ohne welchen die Vollkommenheiten
der gelehrten
Erkenntniss nicht erhalten werden können; 2) alle übrige
Schönheiten
der Schreibeart, wenn sie der Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss
nicht
zuwider sind. Ohne diesen würde die Schreibeart bloss gelehrt sein. Zu
den
Unvollkommenheiten der gelehrten Schreibeart gehören: 1) alle
Beschaffenheiten
derselben, wodurch die Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss
gehindert
wird, und sollten es auch gleich*2 Schönheiten sein; 2) alle
Beschaffenheiten, wodurch
Unvollkommenheiten in der gelehrten Erkenntniss verursacht werden;
[130]
3) alle Unvollkommenheiten, welche in keiner Schreibeart geduldet
werden
können §. 465.
§. 467. Die gelehrte Schreibeart muss dergestalt
eingerichtet werden,
dass durch dieselbe, die Deutlichkeit der Erkenntniss der Wahrheit aus
Gründen, aufs beste befördert werde §. 465. Dieses ist das
Grundgesetz der
gelehrten Schreibeart.
§. 468. 1) Die gelehrte Schreibeart muss deutlich sein
§. 467. Die
Deutlichkeit der gelehrten Schreibeart (perspicuitas stili
eruditi) ist die Vollkommenheit
derselben, vermöge welcher sie die Deutlichkeit der
bezeichneten
Erkenntniss nicht hindert, sondern befördert. Die entgegengesetzte
Unvollkommenheit
ist ihre Dunkelheit (obscuritas stili eruditi). Um die
Schreibeart
deutlich zu machen, muss man 1) lauter klare Ausdrücke brauchen §.
453-455;
2) man muss nicht zu kurz, sondern wortreich reden; 3) man muss die
Theile der Rede so mit einander verbinden, dass daraus die
Verbindung der
Gedanken aufs deutlichste und leichteste erkannt werden kann.
Folglich muss
man a) alle seltenen und schweren Wortfügungen vermeiden; b) die
Wortfügungen
nicht verwerfen; c) man muss die Ausdrücke, welche die Verbindungen
der Gedanken
bezeichnen, nicht gar zu häufig auslassen; d) man muss nicht zu viele
Einschiebsel
machen; 'e) man muss die Punkte nicht gar zu lang machen. Ein Satz,
welcher kein Theil eines andern Satzes ist, wird ein Punkt
(punctum) genennet.
Also muss man kürzere und längere Punkte unter einander mengen.
§. 469. 2) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als
möglich ist, rein
sein §. 467. Die Reinigkeit der gelehrten Schreibeart
(puritas stili eruditi)
besteht in der Übereinstimmung derselben mit der verbesserten Natur der
Sprache.
Die entgegengesetzte Unvollkommenheit ist die Unreinigkeit derselben
(impuritas
stili eruditi). Da eine reine Schreibeart gefällt, so [131]
reizt sie die Aufmerksamkeit
des Lesers und Zuhörers, und sie befördert also die Deutlichkeit
der gelehrten Erkenntniss §. 142.
§. 470. Wenn die Reinigkeit der Schreibeart ihre
Deutlichkeit hindern
sollte, so muss man von der erstern eine Ausnahme machen §. 35.
21. Eine
solche nothwendige Unreinigkeit ist nur eine Scheinunvollkommenheit der
gelehrten
Schreibeart §. 466.
§. 471. Um der Reinigkeit der gelehrten Schreibeart willen
muss man
vermeiden: 1) alle Zwitterwörter (vox hybrida), deren Theile
aus verschiedenen
Sprachen genommen sind; 2) alle grammatischen Fehler; 3) alle
barbarischen
Ausdrücke; 4) alle Ausdrücke aus fremden Sprachen, und fremde
Wortfügungen,
sie müssten denn schon das Bürgerrecht erhalten haben; 5) alle
veralteten Ausdrücke
und Wortfügungen; 6) alle neuen Wörter und Kunstwörter; 7) alle
Vielheit der Ausdrücke, wenn man statt derselben sich Eines
Ausdrucks bedienen
kann, ob er gleich unrein ist §. 469.
Von allen diesen Regeln kann man um
§. 470 willen Ausnahmen machen.
§. 472. In Absicht auf die Reinigkeit der gelehrten
Schreibeart muss
vermieden werden: 1) die nachlässige und unachtsame Barbarei
schulfüchsischer
Gelehrten, vermöge welcher sie die Reinigkeit der Schreibeart ganz
und gar versäumen;
2) die gar zu grosse Liebe zur Reinigkeit der Schreibeart, wenn man
sogar zum Nachtheil der Vollkommenheit der gelehrten Erkenntniss die
Reinigkeit
recht gezwungen zu erhalten sucht §. 466.
§. 473. 3) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als
möglich ist, füglich
sein. Die Füglichkeit der Schreibeart (concinnitas stili)
besteht in der
proportionirten Übereinstimmung der Theile einer Rede, z.E. wenn
man Perioden
macht. In einer bloss gelehrten Rede kann diese Vollkommenheit nicht
erhalten
werden, allein in einer gelehrten Rede, die nicht bloss gelehrt ist, muss
[132] man
in denen Stellen, wo man zugleich schön denkt, auch für diese
Vollkommenheit aufs
möglichste sorgen §. 467. 445, weil sie den Ausdruck
angenehmer macht §. 458.
§. 474. 4) Die gelehrte Schreibeart muss zierlich sein,
so viel als
mĀöglich ist §. 467. Die Zierlichkeit der Schreibeart
(ornatus stili eruditi) besteht
darin, wenn an statt gewisser Ausdrücke andere gebraucht werden, wodurch
eben die Begriffe, aber auf eine schönere Art, bezeichnet werden. In
denenjenigen Theilen, wo die Rede bloss gelehrt ist, ist keine
zierliche Schreibeart
möglich; wenn aber die gelehrte Rede zugleich schön sein muss, so muss
auch die gelehrte Schreibeart zierlich sein §. 445.
§. 475. 5) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als es
möglich ist,
wohlklingend sein §. 467. Der Wohlklang der Schreibeart
(sonoritas stili)
besteht in derjenigen Vollkommenheit, vermöge welcher sie den Ohren
gefällt
§. 458. Diese Vollkommenheit muss man sonderlich in denenjenigen
Stellen
einer gelehrten Rede suchen, da die Rede nicht bloss gelehrt ist §.
445.
§. 476. Lauter einfache Sätze, und gar zu weitläuftige
Punkte verdunkeln
die Schreibeart §. 468. In einer gelehrten Rede müssen also,
auch um der Füglichkeit
und des Wohlklanges der Schreibeart willen §. 473. 475 die
einfachen
und zusammengesetzten Punkte mit mittelmässig schönen Perioden
abwechseln,
nach dem die bezeichneten Gedanken bloss gelehrt, oder zu gleicher Zeit
mehr
oder weniger schön sind.
§. 477. 6) Die gelehrte Schreibeart muss, so viel als
möglich ist,
schicklich sein §. 467. Die Schicklichkeit der Schreibeart
(congruentia stili),
ist diejenige Vollkommenheit, vermöge welcher sich die Schreibeart für
die bezeichnete
Erkenntniss, die redende Person und die Zuhörer schickt, und denselben
gemäss ist. Folglich muss die gelehrte Schreibeart für die gelehrte
Erkenntniss
wichtig genung sein §. 447, und also nicht lächerlich, [133]
pöbelhaft,
niederträchtig. Und sie muss demjenigen, der sich ihrer bedient,
natürlich, und
also nicht gezwungen sein.
§. 478. Um der Schicklichkeit der gelehrten Schreibeart
willen muss sie
1) in denjenigen Stellen, wo man bloss gelehrte Gedanken ausdruckt,
nicht so
rein, füglich, zierlich und wohlklingend sein; als 2) in denenjenigen
Stellen, wo
Gedanken ausgedruckt werden, die zugleich schön sind §. 477.
Der dritte Abschnitt,
von einer gelehrten Rede.
§. 479. Der gelehrte Vortrag ist entweder ein mündlicher
Vortrag, oder
ein schriftlicher, das ist, ein Buch oder eine Schrift (liber,
scriptum). Wer
einen gelehrten Vortrag hält, der ist ein Lehrer, und wer seine
gelehrte Erkenntniss
aus dem Vortrage eines andern erlangt, der lernt sie, und ist ein
Schüler, er mag nun entweder ein Leser oder ein Zuhörer sein.
§. 480. Der Sinn einer gelehrten Rede muss eine gelehrte
Erkenntniss
sein, die allen Regeln der Vollkommenheit derselben gemäss ist §.
10-438,
und der Ausdruck muss so beschaffen sein, wie wir bisher gezeiget haben
§. 439-478. Wir müssen also in einer gelehrten Rede alle
Theile der gelehrten
Erkenntniss, und zwar in der Folge vortragen, wie sie auf einander folgen müssen,
wenn eine gelehrte Erkenntniss entstehen soll.
§. 481. Eine gelehrte Rede muss auf eine ausführliche Art
weitläuftig
sein §. 480. 41-65. Sie muss also weder zu kurz sein
(oratio erudita nimis
brevis), wenn sie weniger von dem Gegenstande sagt, als zu der
vollkommensten
gelehrten Erkenntniss zureicht; noch gar zu weitläuftig (oratio
erudita
nimis prolixa), wenn sie [134] mehr sagt, als zur Erlangung einer
vollkommenen
gelehrten Erkenntniss nöthig ist.
§. 482. Eine gelehrte Rede kann in Absicht auf einen zu
weitläuftig, in
Absicht auf den andern zu kurz, und in Absicht auf den dritten
ausführlich sein
§. 481. Folglich je weniger Fähigkeit ein Schüler besitzt, je
weniger er schon
gelernt hat, und je weniger er sich auf einen Gegenstand legt, desto
kürzer
muss der gelehrte Vortrag für ihn sein. Ein Schüler, von der
entgegengesetzten
Art, muss durch einen weitläuftigern Vortrag unterwiesen werden.
§. 483. Eine gelehrte Rede muss wichtig genung sein
§. 480. 66-91.
447. 477. Der Gegenstand derselben muss also keine
nichtswürdige Kleinigkeit
sein.
§. 484. Eine gelehrte Rede muss so richtig sein, als
möglich §. 480.
92-114. 448-452. Ein Gelehrter, welcher selbst irret,
und noch dazu seine
Irrthümer ausbreitet, ist ein Verführer anderer Leute, und doppelt
unvollkommen.
Man muss also seine eigene Erkenntniss vorher aufs sorgfältigste
untersuchen,
ehe man sie vorträgt.
§. 485. Eine gelehrte Rede muss deutlich und verständlich
sein §. 480.
114-154. 468. Es ist also ein Fehler, 1) wenn der
Lehrer ohne Verstand redet,
oder wenn seine Rede gar keinen Sinn hat; 2) wenn seine Worte und
Wortfügungen
dunkel und zu schwer sind; 3) wenn er selbst nicht verstanden werden
kann. Ein Redender wird verstanden (proponens intelligitur), wenn
man mit
seinen Worten eben die Reihe der Vorstellungen verbindet, welche er
durch
dieselbe hat bezeichnen wollen. Man kann also ofte die Rede verstehen,
ohne
den Redenden zu verstehen §. 449. Ein Lehrer muss also entweder
selbst erklären,
in was für Bedeutungen er seine Worte nimmt, oder er muss keinen
andern Begriff mit ihnen verknüpfen, als von welchen er weiss, dass sie
der
Schüler schon habe, und mit den Worten verknüpfe.
[135] §. 486. Wenn ein Lehrer verworrene Erkenntniss
vorträgt, so muss sie
sein Schüler entweder schon besitzen, und er bringt sie ihm durch den
Vortrag
nur ins Gedächtniss, oder er muss sie ihm auf eine andere Art, als
durch den
Vortrag beibringen. Die deutliche Erkenntniss kann nur durch den
Vortrag in
andern hervorgebracht werden §. 14. Ein Lehrer muss also eine
sehr deutliche
Erkenntniss besitzen.
§. 487. Der gelehrte Vortrag wird deutlich: 1) durch eine
deutliche
Schreibeart §. 468. 2) Durch die Beobachtung einer bequemen
Lehrart §. 416.
3) Wenn man die abstracte Erkenntniss durch schöne Beispiele
erläutert.
4) Man trage eine Sache, wenn sie es ihrer
Wichtigkeit wegen verdient, auf
eine vielfältige und mannigfaltige Art vor, und man bediene sich
der ästhetischen
erläuternden Argumente. 5) Das Angenehme und Muntere im Vortrage
befördert
die Aufmerksamkeit, und also auch die Deutlichkeit.
§. 488. Eine gelehrte Rede muss überzeugend und
gründlich sein
§. 480. 155-215. Es ist also ein Fehler, 1) wenn ein
Lehrer gar keine Beweise
führt, alsdenn, wenn er eine erweisliche Erkenntniss vorträgt; 2)
wenn
seine Beweise nicht in dem Grade gewiss sind, und von der Art der
Gewissheit,
als die vorzutragende Erkenntniss erfodert; 3) wenn er seinen
Schülern einen
blauen Dunst vormacht (fucus logicus), das ist, wenn er statt der
Überzeugung
eine blosse Überredung bei ihnen hervorbringt §. 184.
§. 489. Eine gelehrte Rede muss praktisch sein §. 480.
216-248.
Alles, was wir bisher von der gelehrten Rede angemerkt haben, muss auch
auf
den gelehrten Vortrag angewendet werden §. 443.
§. 490. Die Gabe des gelehrten Vortrages (donum
didacticum) ist der
Inbegriff aller Fertigkeiten der Seele und des Körpers, ohne welchen
kein vollkommener [136]
gelehrter Vortrag möglich ist. Ohne dieser Gabe kann niemand
ein Lehrer sein §. 479.
§. 491. Ein Lehrer muss sich in seinem gelehrten Vortrage
nach seinen
Schülern richten §. 479. Folglich muss man ihm anpreisen 1)
die Herablassung
(condescendentia), wenn er Schüler von geringerer Fähigkeit vor
sich hat, und
seinen Vortrag dergestalt einrichtet, dass er für sie nicht zu hoch ist;
2) die
Erhebung (coadscendentia) zu der grössern Fähigkeit seiner
Schüler, damit der
Vortrag für sie nicht zu schlecht sei.
§. 492. Ein Schüler der gelehrten Erkenntniss 1) muss
von Natur
zur gelehrten Erkenntniss aufgelegt sein; 2) er muss seinen Verstand
schon geübt
haben; 3) er muss ofte schon einen Vorrath an gelehrter Erkenntniss
besitzen;
4) er muss den nöthigen Fleiss auf die Erlernung der gelehrten
Erkenntniss
wenden. Ein Gelehrter muss also niemanden die gelehrte Erkenntniss
vortragen, als wer ein geschickter Schüler derselben ist; und er muss
nicht
zornig werden, wenn er sieht, dass manche Leute aus seinem Vortrage
nichts
lernen, er müsste denn seinen Zorn wider sich selbst wenden, weil er
sieht,
dass er seine Mühe bei den unrechten Personen anwendet.
§. 493. Bei einem gelehrten Vortrage hat man entweder
vornehmlich die
Absicht, jemanden und seinen Irrthum zu widerlegen, und er ist alsdenn
eine
Widerlegung eines andern (refutatio alterius), oder nicht. In dem
letzten Falle
betrachtet man den Leser oder Zuhörer als einen Schüler, der
unwissend ist,
nicht aber als einen Irrenden, und man sucht also eine vollkommene
gelehrte
Erkenntniss in ihm hervorzubringen; ein solcher Vortrag heisst ein
Unterricht
(docere).
§. 494. Bei dem gelehrten Unterrichte müssen folgende
Regeln beobachtet
werden: 1) den Anfang muss man mit der Erklärung oder Beschreibung
aller
Begriffe machen, die in dem Gegenstande vorkommen, wenn sie [137]
anders
bei dem Schüler nicht schon hinlänglich klar sind; und von der
Richtigkeit
dieser Begriffe muss man ihn überzeugen nach den Regeln des 258.
265. 267.
und 278sten Absatzes.
§. 495. 2) Bei dem Unterrichte von einem unerweislichen
Satze hat man
nichts weiter nöthig, als dass man ihn zergliedere, und wenn sichs will
thun
lassen, durch ein Beispiel erläutere §. 313-318. 300.
487.
§. 496. 3) Bei dem Unterrichte von einem anschauenden
Urtheile muss
man, dem Schüler, entweder alle Empfindungen, aus denen dieses Urtheil
besteht,
wieder ins Gedächtniss bringen; oder man muss sie ihm bei dem
Unterrichte
beibringen §. 319-321. 202; oder man muss ihn durch
wahrscheinliche Zeugnisse
überzeugen, dass andere diese Empfindungen gehabt haben §.
206-215.
§. 497. 4) Bei dem Unterrichte von erweislichen Sätzen
a) zergliedere man
den Satz, und die Auflösung einer Aufgabe, damit sie recht verstanden
werden;
b) man trage den Beweis nach der analytischen
Lehrart vor, und bringe ihn in
Einen oder in ein paar förmliche Schlussreden, wenn er lang ist
§. 423. 203.
204. 206-215; c) den ganzen Beweis führe +W führe fort -W man so lange fort, bis man entweder
auf unerweisliche und anschauende Urtheile kommt, oder bis auf solche
erweisliche Urtheile, von denen der andere schon hinlänglich
überzeugt ist. Daher
rührt die Citation der Absätze in den Schriften.
§. 498. 5) Man versiegele die Überzeugung von der
Wahrheit durch eine
praktische Vorstellung ihrer praktischen Beschaffenheit: denn was das
Herz
liebt, glaubt der Verstand §. 216-248.
§. 499. Ein richtiger Beweis, dass ein Irrthum ein
Irrthum sei, ist eine
wahre Widerlegung (refutatio vera); allein ein unrichtiger Beweis,
dass entweder
ein Irrthum ein Irrthum, oder eine Wahrheit ein Irrthum sei, ist eine
scheinbare Widerlegung (impugnatio). [138] Nur Irrthümer
können richtig widerlegt
werden. Derjenige, welcher die Widerlegung unternimmt, ist der
angreifende
Theil (adversarius opponens), und wer die Widerlegung widerlegt,
der
vertheidigende (adversarius defendens). Die Vertheidigung ist also
entweder
richtig oder falsch. Eine gelehrte Streitigkeit (controversia)
besteht aus der
Widerlegung und Vertheidigung einer Meinung.
§. 500. Derjenige Satz, welchen der angreifende Theil
widerlegt, und der
angegriffene vertheidiget, heisst der bestrittene Satz (thesis
controversa), und
der Satz des angreifenden Theils, welcher mit dem bestrittenen Satze
nicht zu
gleicher Zeit wahr sein kann, heisst der Gegensatz (antithesis).
Er ist also
dem bestrittenen Satze entweder auf eine widersprechende §. 343,
oder allgemeine
Art §. 345 entgegengesetzt. Die Streitfrage wird bestimmt
(status
controversiae, seu quaestionis formatur), wenn der angreifende Theil
deutlich
beweiset, welches der bestrittene Satz, und welches der Gegensatz ist.
§. 501. Wenn eine Streitfrage nicht richtig bestimmt ist, so
führen die
Gegner entweder gar keine Streitigkeit, oder sie verfallen auf einen
Wortstreit
(logomachia), das ist, auf eine Streitigkeit, welche daher
entsteht, weil man einander
nicht versteht §. 500, und das ist allemal eine thörichte und
vergebliche
Sache. Davon sind aber verschieden die Streitigkeiten über Worte
(controversia
philologica), welches wahre Streitigkeiten sind, deren Gegenstand
aber
Worte oder andere Ausdrücke sind.
§. 502. Gelehrte Streitigkeiten müssen nach folgenden
Regeln geführt
werden: 1) der angreifende Theil suche einen Fehler in dem Beweise
seines
Gegners §. 194, oder überhaupt eine Abweichung der Gedanken des
Gegners
von den Regeln der Vernunftlehre. Alsdenn hat er zwar die Sache selbst
nicht
widerlegt, aber doch die Art zu denken seines Gegners. Wider einen
solchen
Angriff kann [139] man sich entweder gar nicht vertheidigen, wenn er
richtig
ist; oder man muss zeigen, man habe die Regeln der Vernunftlehre nicht
verletzt,
deren Übertretung uns vorgeworfen worden.
§. 503. 2) Der angreifende Theil demonstrire den
Gegensatz, so folgt
daraus, dass der streitige Satz falsch, und dass der Gegner irre §.
500. Wider
diesen Angriff kann man sich nur vertheidigen, wenn der Gegner einen
Fehler
in seiner Demonstration begangen, und den muss man nach der ersten Regel
zeigen §. 502. Kann eine Parthei der andern zeigen, dass sie
erweisliche Sätze
ohne Beweis annehme, so ist dieser Einwurf so lange unbeantwortet, bis
dieser
Beweis geführt wird.
§. 504. 3) Der angreifende Theil widerlege den
streitigen Satz durch
einen apogogischen Beweis §. 196. Dahin gehört auch, wenn man
zeigt, dass
der streitige Satz einer andern Meinung des Gegners widerspreche,
ob wir gleich
dieselbe nicht annehmen (argumentatio ad hominem). Wider einen
solchen Angriff
kann man sich nur vertheidigen, wenn in dem apogogischen Beweise ein
Fehler ist, und den muss man dem Gegner zeigen §. 502.
§. 505. 4) Wenn einer von den Gegnern die Streitfrage
verlässt, und
Dinge vorbringt, wodurch der bestrittene Satz nicht widerlegt, und der
Gegensatz
nicht bewiesen wird; so muss man sich auf solche Sachen nicht einlassen,
sondern in der gegenwärtigen Streitigkeit es zugeben, damit sie nicht
gar zu
weitläuftig werde §. 481. Die andere Parthei kann sich in
diesem Falle nur
vertheidigen, wenn die erste aus Übereilung etwas zugestanden hat, und
da muss
sie zeigen, dass das Zugestandene allerdings die Streitfrage betreffe.
§. 506. 5) Der angreifende Theil kann durch eine
Einschränkung §. 299,
die er zu dem bestrittenen Satze hinzu thut, zeigen, dass derselbe nicht
so
allgemein
wahr [140] sei, als ihn der Gegner ausgiebt. Wider diesen Angriff
können
wir uns nur vertheidigen, indem wir entweder zeigen, dass diese
Einschränkung
in die dermalige Streitfrage keinen Einfluss habe, oder dass sie
falsch sei, oder
wenn wir tüchtig beweisen, dass unser Satz ohne Einschränkung wahr
sei.
§. 507. 6) Der angreifende Theil
bringt wider seinen Gegner eine Unterscheidung
(distinctio) an, oder er zeigt den Unterschied der Dinge,
die der
Gegner verwechselt hat, und durch deren Verwechselung er verleitet
worden, in
eine Streitigkeit sich einzulassen, oder zu irren. Wider eine
Unterscheidung
kann man sich eben so vertheidigen, als wider eine Einschränkung §.
506.
§. 508. 7) Der angreifende Theil kann, durch Instanzen,
die Allgemeinheit
der bestrittenen Sätze widerlegen. Eine Instanz (instantia) ist
eine Ausnahme
von einem Satze, aus welcher hinlänglich erhellet, dass er nicht
allgemein wahr
sei. Wider eine Instanz kann man sich nur vertheidigen, wenn man sie
entweder
annimmt, oder zeigt, dass sie sich nicht passe, oder den bestrittenen
Satz so
einschränkt, dass sie sich nicht passt; oder die Allgemeinheit des
bestrittenen
Satzes, ohne Absehen auf die Instanz, darthut.
§. 509. 8) Der angegriffene Theil braucht Repressalien
(retorsio), wenn
er zeigt, dass dasjenige, was der Gegner durch den apogogischen Beweis
aus
dem bestrittenen Satze hergeleitet §. 504, vielmehr aus dem
Gegensatze folge.
Und da kann sich der angreifende Theil nicht anders vertheidigen, als
wenn er
zeigt, dass sein Gegner einen Fehler in seinem Beweise begehe.
§. 510. 9) Nach vollendeter Widerlegung suche man bei dem
Gegner einen
Abscheu vor dem Irrthume beizubringen, indem man, doch ohne Verletzung
der
Pflichten, die man dem Gegner schuldig ist, zeigt, dass derselbe
[141] gefährlich,
schädlich und lächerlich sei. Wider diesen Angriff kann man sich nur
vertheidigen,
wenn man zeigt, der Gegner sehe unsere Meinung von
der unrechten
Seite an. Durch eine richtige Beobachtung dieser Regeln werden,
die Widerlegungen,
zugleich praktisch §. 489.
§. 511. Wenn man aus dem bestrittenen Satze schlimme und
ungereimte
Folgen herleitet, nicht etwa den Gegner von seinem Irrthume zu
überzeugen,
sondern ihn irgends auf eine Art zu
beleidigen, so ist man ein Folgenmacher
oder Consequenzenmacher (consequentiarius). Die Consequenzenmacherei ist
nicht nothwendig ein Fehler wider die Vernunftlehre, aber sie ist
allemal eine
Sünde, und also werth, dass sie von allen redlichen Leuten verabscheuet
werde.
§. 512. Die Vertheidigung wider einen Folgenmacher
heisst die Verantwortung
(apologia); dieselbe kann man entweder mit logischen Waffen
führen,
wenn der Folgenmacher Fehler wider die Vernunftlehre begangen hat §.
511,
da man ihm zugleich seinen Unverstand und böses Herz, doch ohne
Folgenmacherei,
zeigen muss; oder man muss sich der Waffen des Rechts bedienen,
und alsdenn hat die Vernunftlehre nichts mehr dabei zu erinnern.
§. 513. Obgleich die gelehrten Streitigkeiten Nutzen
haben §. 178, so muss
doch ein Gelehrter 1) kein Handwerk aus der Widerlegung anderer
machen;
2) über keine Kleinigkeit einen eigenen Streit anfangen; 3) die
wichtigen und
nöthigen Widerlegungen vollkommen gründlich führen, und 4) sich
nicht wider
alle Angriffe vertheidigen.
§. 514. Zwei streitende Partheien disputiren mit einander
(disputatio
formaliter sumta), wenn der Gegensatz gelehrt vorgetragen und
beurtheilt wird,
und wenn beides mündlich und in Gegenwart beider Partheien geschieht.
[142] Wer
den Gegensatz gelehrt vorträgt, ist der Opponente (opponens), und
wer ihn beurtheilt,
das ist, das Falsche und Ungewisse in demselben und seinem Beweise
entdeckt, ist der Respondente (respondens). Damit nun das
Disputiren nicht
unordentlich und gar zu weitläuftig werde, so muss nur der Opponente
Beweise
führen, und der Respondente nichts weiter thun, als die Beweise
beurtheilen.
§. 515. Da die Reden, welche beim Disputiren gehalten
werden, nicht
in den Bezirk der Vernunftlehre gehören; so ist klar, dass der
Opponente den
Anfang des Disputirens macht, und da muss er 1) die Streitfrage
bestimmen
§. 500. 501. Wenn er die Meinung des Respondenten nicht
versteht, so muss
er sich dieselbe von ihm erklären lassen. 2) Er
greife den Respondenten an
nach einer der §. 502-510 vorgetragenen Regeln. 3) Er
trage, der Kürze und
Deutlichkeit wegen, seine Beweise in förmlichen Schlussreden vor
§. 399, und
4) um eben der Ursache willen bediene er sich der analytischen
Lehrart §. 423.
Die sokratische und platonische Lehrart macht das
Disputiren zu weitläuftig
und beschwerlich §. 430. Man müsste denn durch die erste sich
genöthiget
sehen, den andern Theil bei der Streitfrage zu erhalten.
§. 516. Der Respondente nimmt das
Argument an (assumere argumentum),
wenn er den Einwurf des Opponenten wiederholt, und das ist nützlich, um
denselben recht zu überlegen, damit er ihn tüchtig beantworten könne.
Um der
Kürze willen muss der Respondente weiter nichts thun, als zeigen, wo
der
Opponente entweder in der Materie, oder in der Form seines Beweises
einen
Fehler begangen §. 502, und da muss er verlangen, dass der
Opponente entweder
seinen Vernunftschluss ändere, oder den Vordersatz beweise, der dem
Respondenten
falsch oder ungewiss zu sein scheint.
[143] §. 517. Der Beistand des Respondenten
(praeses) soll verhüten,
dass der Respondente nicht den Gegensatz einräume, der noch nicht
genungsam
erwiesen worden. Er muss also, wenn der Respondente nichts oder nichts
Geschicktes
mehr zu antworten weiss, sein Amt übernehmen §. 516.
Der vierte Abschnitt,
von gelehrten Schriften.
§. 518. Der Vortrag vergangener Begebenheiten ist die
Geschichte (historia).
Die gelehrten Schriften tragen entweder
Geschichte vor, oder dogmatische
Wahrheiten §. 104. Jenes sind historische (scripta erudita
historica),
und diese dogmatische Schriften (scripta dogmatica). Welche
entweder eine
gemeine Erkenntniss dogmatischer Wahrheiten vortragen, oder eine
gelehrte
§. 18. 21. Jene sind historisch-dogmatische (scriptum
historico-dogmaticum),
diese aber systematische Schriften (scriptum systematicum), welche
scientifische
Schriften sind (scriptum scientificum), wenn sie eine Wissenschaft
vortragen §. 434.
Eine jede Schrift ist in Absicht auf ihren Inhalt entweder sehr
weitläuftig, oder sehr
kurz. Jene ist ein grosses Werk (systema), diese aber ein Auszug
(compendium).
§. 519. Die Historie erzählt entweder Sachen, die zur
Natur und Kunst
gehören, in so ferne man dabei weder die freien Handlungen der
Menschen, noch
ihre nähere Würkungen in Betrachtung zieht; oder sie erzählt die
freien Handlungen
der Menschen, sammt alle demjenigen, was damit in einer nähern
Verbindung
steht. Jene ist die Geschichte der Natur und Kunst (historia
naturae
et artis), diese aber die Historie schlechtweg (historia stricte
dicta). Zu
der letzten gehört 1) die politische [144] Historie (historia
politica), welche
die bürgerlichen und politischen Handlungen der Menschen erzählt;
2) die
Kirchenhistorie (historia ecclesiastica), erzählt die Schicksale
der Kirchen, und
die Handlungen der Menschen, welche in dieselbe einen merklichen
Einfluss
haben; 3) die Privathistorie (historia privata), erzählt den
Lebenslauf einzelner
Personen, in so ferne derselbe keinen merklichen Einfluss in den Staat,
die
Kirche und die Gelehrsamkeit hat; 4) die gelehrte Historie
(historia litteraria),
erzählt die Begebenheiten der gelehrten Welt, und sie ist entweder eine
Historie
der Disciplinen, oder der Gelehrten, oder der gelehrten Schriften.
§. 520. Eine historische Schrift muss 1) ausführlich sein
§. 481. 482,
weder zu weitläuftig, noch zu kurz. Sie kann also in einer Absicht und
für
einen Leser ausführlich sein, in einer andern Absicht und für einen
andern
Leser zu weitläuftig, und in einer dritten Absicht und für einen
dritten Leser
zu kurz. Mit der Zeit wird eine jede Historie zu kurz. 2) Wichtig,
was sowohl
den ganzen Inhalt betrifft, als auch dasjenige, was von demselben
erzählt wird
§. 483. 3) Richtig §. 484. 4) Deutlich §.
485, daher ofte Gemälde und Kupferstiche
nöthig sind. 5) Gründlich §. 488, folglich alles beweisen, nach
den Regeln
des 206 - 215ten Absatzes. 6) Praktisch oder
pragmatisch (historia pragmatica)
§. 489. 7) Methodisch §. 487. 432.
§. 521. Wenn die Historie pragmatisch und ausführlich zu
gleicher Zeit
sein soll, so muss sie dergestalt vorgetragen werden, dass eine Absicht
erreicht
werde, die praktisch genung ist §. 520. Da nun alles, was in
dieser Welt
würklich ist, wenn es von uns Menschen erkannt werden kann, nicht nur
zur Ehre
GOttes, sondern auch zu unserer Glückseligkeit abzwecket; so muss ein
Historienschreiber
diese beiden Absichten durch die Historie zu erreichen suchen.
Insbesondere
muss man bei der Naturgeschichte eine doppelte Absicht haben
§. 519: 1) die Vollkommenheiten GOttes [145] aus den
natürlichen Dingen besser
kennen zu lernen, und 2) den Lesern deutliche Begriffe von den
natürlichen
Dingen beizubringen, und dadurch den Weg zur gelehrten Erkenntniss
derselben
zu bahnen.
§. 522. Die Historie im engern Verstande §. 519,
gereicht zur Ehre GOttes,
wenn man aus den Begebenheiten der Menschen die göttliche Regierung
des
menschlichen Geschlechts, und die Vollkommenheiten, die GOtt bei
derselben
offenbaret, erkennet. Zur Glückseligkeit der Menschen gereicht 1)
die bürgerliche
Historie, wenn man daraus die politische Klugheit in
Krieges- und
Friedensgeschäften
lernen kann; 2) die Kirchenhistorie, wenn man daraus die Klugheit
lernen kann, die Kirche zu regieren, und wenn sie die Kennzeichen der
wahren
und falschen Kirche entwickelt; 3) die gelehrte Geschichte, wenn sie
die Gelehrsamkeit
befördert; 4) die Privathistorie, wenn man daraus die menschliche
Klugheit im Privatleben lernen kann.
§. 523. Die historisch-dogmatischen Schriften sind keine
gelehrten Schriften
§. 518. Wenn sie aber ausführlich, wichtig, verständlich,
richtig und praktisch
sind; so sind sie Leuten sehr nützlich, die nicht gelehrt werden können
und
wollen, desgleichen auch Kindern, die zu den Wissenschaften angeführt
werden
sollen, um ihnen einen Vorschmack der Gelehrsamkeit einzuflössen.
§. 524. Ein systematisches Buch muss 1) ausführlich sein
§. 481. 482.
Also muss es entweder alles enthalten, was zu der Zeit, da das Buch
geschrieben
worden, von einer Doctrin bekannt ist, oder es muss so viel von derselben
enthalten,
als die besondere Absicht des Verfassers erfodert. Die ausführlichsten
Schriften können mit der Zeit unausführlich werden, und man muss also
die
Ausführlichkeit eines dogmatischen Buchs, in Absicht auf die Zeit,
den Verfasser
und Leser sorgfältig von einander unterscheiden; 2) wichtig §.
483; 3) richtig §. 484,
indem nicht nur alle Gedanken, die in ihm enthalten sind, [146]
wahr sind, sondern
ein jeder auch den Regeln der Vernunftlehre gemäss ist. 4) Deutlich
und verständlich
§. 485. 5) Gründlich §. 488, es muss also nach der
gelehrten Lehrart und
zusammenhangend geschrieben sein. 6) Praktisch §. 489. 7)
Methodisch §. 414-438.
§. 525. Das Zusammenschmieren (compilatio) besteht
darin, wenn ein
Verfasser alles, was er hie und da von der Materie, von welcher er
schreiben
will, findet, zusammenschreibt, ohne es gehörig mit einander zu
verbinden. Obgleich
ein zusammengeschmiertes Werk andern Gelehrten nützlich sein kann, so
bleibt es doch, in Absicht auf den Verfasser, ein elendes Werk. Eine
Schrift
wird zusammengestohlen (plagiarius), wenn sich der Verfasser für
den Erfinder
derjenigen Gedanken ausgiebt, die er von andern gelernt hat.
§. 526. Wer aus einem grossen Werke einen Auszug macht
(epitomator),
indem er aus jenem alles weglässt, was in Absicht auf seinen kleinern
Zweck überflüssig ist, der kann ein sehr nützliches und nöthiges
Buch schreiben,
wenn er nur seine Absicht vernünftig erwählt hat §. 518.
Der vierte Haupttheil,
von dem Charakter eines Gelehrten.
§. 527. Der Charakter eines Gelehrten (character
eruditi) besteht in
dem Inbegriffe dererjenigen seiner Merkmale, welche die nähern Gründe
und Ursachen
der gelehrten Erkenntniss sind.
§. 528. Der allgemeine Charakter eines Gelehrten
(generalis character
eruditi) ist der Charakter eines Gelehrten, in so ferne er die
nähern Gründe
der Gelehrsamkeit überhaupt enthält; der besondere aber [147]
(character eruditi
specialis), in so ferne er die nähern Gründe von dieser oder jener
Art, und
von diesem oder jenem Theile der Gelehrsamkeit enthält.
§. 529. Das erste Stück des allgemeinen Charakters eines
Gelehrten besteht
in dem gelehrten Naturell (natura erudita), oder in derjenigen
Proportion
aller Kräfte der Seele, vermöge deren ein Mensch zu der gelehrten
Erkenntniss
geschickt und geneigt ist §. 528.
§. 530. Zu dem gelehrten Naturell gehört 1) der
Mutterwitz, der gelehrte
Kopf (ingenium eruditum), die Proportion der Erkenntnisskräfte,
wodurch
ein Mensch zur gelehrten Erkenntniss geschickt ist. Dahin gehört a)
die
Vernunft (ratio), das Vermögen, den Zusammenhang der Dinge
deutlich einzusehen
§. 21, welche von Natur aufgelegt sein muss, gesund, weitausgedehnt,
stark, gründlich und schön zu werden. b) Der Verstand
(intellectus), das Vermögen
deutlicher Erkenntniss §. 21. 17, welcher von Natur aufgelegt
sein muss,
weitausgedehnt, tiefsinnig, rein und schön zu werden. Folglich gehört
zum
Mutterwitze eine grosse Aufmerksamkeit, Nachdenken, Überlegung und
Abstraction
§. 142. 2) Ein schöner Geist (ingenium pulchrum), die
Proportion
der Erkenntnisskräfte, vermöge welcher ein Mensch zum schönen Denken
aufgelegt
ist §. 32.
§. 531. Zu dem gelehrten Naturell gehört 2) das gelehrte
Temperament
(temperamentum eruditum), oder die Proportion der Begehrungskräfte, und die
Übereinstimmung derselben mit dem Mutterwitze, kraft welcher ein
Mensch nicht
nur geneigt ist, eine gelehrte Erkenntniss zu erlangen, sondern vermöge
welcher
auch die Erkenntnisskräfte gehörig angestrengt werden, die
vollkommenste gelehrte
Erkenntniss zu würken §. 529.
§. 532. Das gelehrte Naturell ist ein blosses Glücksgut,
welches einem
Menschen angeboren werden [148] muss, ohne welchem es aber
unmöglich ist,
irgends durch eine Kunst die gelehrte
Erkenntniss zu erlangen.
§. 533. Der Mutterwitz wird die angeborne natürliche
Vernunftlehre
(logica naturalis connata) genannt, die Wissenschaft aber der
gelehrten Erkenntniss
und des gelehrten Vortrages der Schulwitz, oder die künstliche
Vernunftlehre
(logica artificialis). Die undeutliche Erkenntniss der Regeln
des Mutterwitzes,
sammt der Fertigkeit sie zu beobachten, die man durch den blossen
Gebrauch
des Mutterwitzes erlangt, heisst die erlangte natürliche Vernunftlehre
(logica naturalis acquisita theoretica et practica), und man
rechnet sie zum
Mutterwitze im weitern Verstande. Der Mutterwitz widerspricht dem
Schulwitze
nicht, er ist sowohl in der Theorie, als auch in der Ausübung des
letztern unentbehrlich.
Er ist auch ausser den Disciplinen hinreichend. Allein ohne Schulwitz
kann keine gelehrte Erkenntniss erlangt werden, er verbessert den
Mutterwitz,
und wenn mit einem grossen Mutterwitze ein grosser Schulwitz verbunden
wird,
so kann es ein Mensch viel höher bringen, als durch den besten
Mutterwitz
allein genommen.
§. 534. Wer ein grosser Gelehrter werden will, der muss der
Natur folgen,
und sich nur der gelehrten Erkenntniss befleissigen, wenn er das gelehrte
Naturell
besitzt, und in so ferne er es besitzt §. 532.
§. 535. Man kann erkennen, ob man das gelehrte Naturell
besitzt: 1) wenn
man eine vernünftige Neigung zu der gelehrten Erkenntniss hat, weil uns
ihre
Vollkommenheiten vergnügen; 2) wenn es uns leicht von statten geht,
so oft
wir gelehrt denken; 3) wenn man durch einen Versuch gewahr wird, man
könne
würklich gelehrt denken.
§. 536. Das andere Stück, des allgemeinen Charakters eines
Gelehrten,
besteht in den Fertigkeiten, die er durch Übungen nach und nach erlangt
§. 527.
Zu den Fertigkeiten eines Gelehrten gehört: 1) Die Ausdehnung
[149] des Verstandes
und der Vernunft (extensio intellectus$b et rationis), die
Fertigkeit
viele Dinge deutlich und in einem vielfältigen Zusammenhange, und von
einem
jeden Dinge viele klare Merkmale zu erkennen §. 25. 2) Die
Stärke der Vernunft
und des Verstandes (intensio intellectus$b et rationis), die
Fertigkeit, die
Sachen in einem grossen Grade der Vollständigkeit und mathematischen
Gewissheit
zu erkennen §. 27. 28. 29. 3) Die Fertigkeit schön zu
denken §. 32.
4) Ein grosses Herz §. 91 (magnitudo pectoris), die
Fertigkeit dem gelehrten
Temperamente gemäss zu denken und zu handeln §. 531, welches die
Fertigkeit
voraus setzt, nicht anders als gross und praktisch zu denken §. 26.
30.
§. 537. Die gelehrten Übungen sind 'A) die allgemeinern
(exercitia
generaliora), die öftern Wiederholungen des gelehrten Meditirens
überhaupt. Dahin
gehöret 1) das gelehrte Naturalisiren, die Übungen, die man ohne
Kunst
vornimmt, und welche die natürliche erlangte Vernunftlehre ausmachen
§. 433.
§. 538. 2) Die vollkommenern, regelmässigen und
künstlichen Übungen
(exercitia oculatiora, logica artificialis practica), oder die
öftere Beobachtung der
Regeln der künstlichen Vernunftlehre. Zu dem Ende a) lerne man eine
gute
künstliche Vernunftlehre; b) man suche alle Regeln derselben
auszuüben; c) wenn
man eine Reihe Gedanken, nach den logischen Regeln, erzeuget und
aufgeschrieben
hat, so halte man sie gegen diese Regeln, und untersuche, wo man
sie beobachtet habe oder nicht. Durch diese Übungen muss man es
endlich
dahin bringen, dass man, die Regeln der künstlichen Vernunftlehre, im
Denken
und Reden beobachte, ohne sich ihrer bewusst zu sein.
§. 539. 'B) Die besondern gelehrten Übungen, oder das
Studiren (exercitia
erudita specialiora) besteht in allen Handlungen, wodurch die
gelehrte
Erkenntniss [150] in demjenigen entsteht und verbessert wird, der
diese Handlungen
vornimmt. Es gehören dahin sechs Übungen.
§. 540. I) Das Lernen aus einem mündlichen Vortrage.
Weil diese Übung
die leichteste und sicherste ist, so muss man von ihr den Anfang
machen. Wer
durch diese Übung gelehrt werden will, der muss 1) seinen Kopf,
durch die
niedrigern und schönen Wissenschaften, zur Gelehrsamkeit vorbereitet
haben.
2) Er muss sich, wenigstens einen mittelmässig tüchtigen Lehrer,
aussuchen, aus
dessen mündlichem Vortrage er eine gute gelehrte Erkenntniss zu
erlangen
hoffen kann. 3) Er muss auf den mündlichen Vortrag gehörig
Achtung geben,
damit er den Lehrer und seinen Vortrag recht verstehe. 4) Er muss
alles,
was der Lehrer vorträgt, oder wenigstens die Hauptsachen seines
Vortrages durchmeditiren
§. 436. 437. 5) Er muss alles, was er gehört hat,
logisch beurtheilen
(logice diiudicare), das ist, zu erkennen suchen, was für
logische Vollkommenheiten
oder Unvollkommenheiten in demselben angetroffen werden. Daher muss
er untersuchen, zu was für einer Art und Gattung der gelehrten
Erkenntniss
dasjenige gehört, was er beurtheilen will; er muss sich der logischen
Regeln dieser
Art oder Gattung erinnern, und aus der Vergleichung des Gegenstandes
mit diesen
Regeln zu erkennen suchen, ob er denselben gemäss oder nicht gemäss
sei.
§. 541. II) Das Lesen gelehrter Schriften. Zu dem
Ende muss man a) einen
vernünftigen Zweck sich vorsetzen, um dessentwillen man gelehrte
Schriften lesen
will. Ein Studirender muss also Bücher lesen, 1) um eine
Disciplin zu wiederholen,
die man schon gelernt hat; 2) um unsere gelehrte Erkenntniss immer
mehr und mehr zu verbessern; 3) um einen Theil der Gelehrsamkeit zu
lernen,
den man noch nicht versteht; 4) um sich in der Beobachtung der Regeln
der
Vernunftlehre zu üben. b) Man muss sich ein Buch aussuchen, welches
geschickt
ist, diese Absicht zu [151] befördern. Folglich muss man 1)
nicht alle Bücher
so lesen, wie sie einem unter die Hände gerathen. 2) Im Anfange nur
solche
Bücher lesen, von denen man, nach einer logischen Beurtheilung,
gefunden hat,
dass sie geschickt sind, unsere Absicht zu befördern. 3) Wenn man
schon eine
Fertigkeit besitzt gelehrt zu denken, so kann man auch mit Nutzen solche
Bücher
lesen, die voller Mängel und Fehler sind. c) Man muss das Buch und
den Verfasser
recht zu verstehen suchen. d) Man muss einen jeden Gedanken, welcher
in dem Buche vorgetragen worden, durchmeditiren und logisch beurtheilen,
wie
§. 540. n. 4. 5, damit man die vorgetragenen Sachen recht
einsehen lerne.
§. 542. Das nützliche Lesen gelehrter Schriften wird,
durch die Beobachtung
folgender Regeln, befördert: 1) Man lese mit der grössten
Aufmerksamkeit, ohne
fremde Gedanken zu dulden. 2) Man lese das
Buch von vorne an durch, wenn
es systematisch geschrieben ist. 3) Man unterbreche das Lesen niemals
in einer
genau zusammenhangenden Materie. 4) Man lese
das Buch langsam eilend durch,
und weder zu geschwinde noch zu langsam. 5) Man muss des Lesens nicht
überdrüssig werden, ehe man zu Ende gekommen. 6) Man muss nicht gar
zu
viele Bücher, sonderlich von verschiedenem Inhalt, unter einander
lesen. 7) Man
mache von den kürzern Auszügen den Anfang, gehe
zu den grössern Werken
fort, und endlich lese man Schriften, welche von besondern
Materien ausführlich
handeln. 8) Man lese die Schriften, die zu einem Haupttheile der
Gelehrsamkeit
gehören, nach der synthetischen Lehrart.
§. 543. Das Lernen der gelehrten Erkenntniss wird sehr
befördert, theils
wenn man anfangs nur von Einem Lehrer die Anfangsgründe der
Gelehrsamkeit,
der man sich gewidmet hat, lernt; theils wenn man die gelernten
Wahrheiten
alsobald braucht und zur Ausübung bringt.
[152] §. 544. III) Die öftere Wiederholung
(repetitio), oder Erinnerung
desjenigen, was man gelernt hat. Dazu wird erfodert, dass man folgende
Regeln
beobachte: 1) Man muss, aus dieser Wiederholung, kein blosses
Auswendiglernen
machen. 2) Man muss bei der Wiederholung einen jeden Gedanken
eben so durchmeditiren und beurtheilen, als wenn man ihn zum erstenmal
lernen
wollte, ob dieses gleich immer hurtiger und
leichter von statten geht. 3) Man
wiederhole die, nach der synthetischen Lehrart gelernten, Wahrheiten
nach der
analytischen und schliessenden Lehrart §. 423. 428. 4) Man
wiederhole die
Wiederholung öfters, mit einiger Veränderung. 5) Man lerne
immer mehr zu,
und übe die gelernten Wahrheiten aus. 6)
Wenn man bei der Wiederholung
seine Meditationen aufschreibt, so wird dadurch diese Übung sehr
befördert.
7) Man trage die gelernten Wahrheiten
schriftlich oder mündlich auf eine gelehrte
Art vor. 8) Man unterrede sich mit andern von den gelernten
Wahrheiten.
§. 545. Die Wiederholung und das Erlernen der gelehrten
Erkenntniss
wird sehr befördert, wenn man sich kurz, und mit einer vernünftigen
Wahl,
dasjenige aufschreibt, was man zu vergessen befürchtet, und welches uns
das
übrige zugleich wieder ins Gedächtniss bringet.
§. 546. IV) Das Nachforschen (investigatio), oder
die vernünftige Nachahmung
anderer Gelehrten in ihrem gelehrten Denken und Vortrage. Zu dem
Ende 1) erwähle man sich einen grossen Gelehrten, zum Muster der
Nachfolge.
2) Man untersuche, wie es derselbe macht, dass er so gelehrt, so
gründlich, so
ordentlich u.s.w. denkt. 3) Man untersuche, wie er die Wahrheiten
entdeckt
hat, oder wie sie könnten entdeckt werden, wenn sie noch nicht erfunden
wären.
4) Man suche in ähnlichen Fällen eben so zu denken, und zu reden.
§. 547. V) Man trage andern die
Disciplinen auf eine gelehrte Art, entweder
mündlich oder schriftlich vor. [153] Oder der gelehrte
Vortrag ist eine
Übung in der gelehrten Erkenntniss; denn durch Lehren lernen wir.
§. 548. VI) Die Erfindung neuer Wahrheiten
(inventio), wenn wir auf
eine gelehrte Art etwas erkennen, ohne dass wirs von andern Menschen
lernen;
wir mögen nun entweder die ersten Menschen sein, die dasselbe erkennen,
oder
es mögen es schon andere vor uns gewusst haben. Diese Übung ist die
schwerste,
welche man bis zuletzt versparen muss.
§. 549. Ein Autodidaktus ist ein Gelehrter, welcher
ohne Lehrer gelehrt
worden ist, es sei nun, dass er entweder seine ganze Gelehrsamkeit
erfunden
§. 548, oder nur keinen mündlichen Unterricht genossen hat. Ein
vernünftiger
Mensch erwählt den leichtesten und sichersten Weg, wenn er zuerst aus
einem
mündlichen Vortrage zu lernen sucht, alsdenn Bücher lieset, und seine
Erfindungskraft
lieber anwendet ganz neue Wahrheiten zu entdecken, als solche, die
schon längst bekannt gewesen sind, wenn ihm alles dieses sonst nur
möglich ist.
§. 550. Gleichwie es ein Fehler ist, wenn man ohne
Mutterwitz gelehrt
werden will §. 534; also ist es eine nachlässige Art gelehrt zu
denken (negligens
eruditionis genus et impolitum), wenn man mit dem Mutterwitze nicht
die Kunst gehörig verbindet §. 533.
§. 551. Die affectirte und gezwungene Art gelehrt zu denken
(affectatum
et coactum eruditionis genus) entsteht daher, wenn der Schulwitz mit
dem Mutterwitze
auf eine schlechte Art verbunden wird: 1) wenn die Regeln der
künstlichen Vernunftlehre falsch und ungegründet sind; 2) wenn ihre
richtigen
Regeln schlecht angewendet werden, indem sie sich entweder für die
Wahrheiten,
oder für das Naturell des Gelehrten nicht schicken.
§. 552. Eine Erkenntniss und ein Vortrag, welche bloss
gelehrt sind, sind die
trockene, nüchterne, rauhe, scholastische und schulfüchsische Art der
Gelehrsamkeit [154]
(macilentum, ieiunum, pedanticum, scholasticum eruditionis
genus). Um dieselbe zu verhüten, muss ein Studirender täglich
einige Zeit, in
den Erholungsstunden, auf die schönen Wissenschaften wenden.
§. 553. Das dritte Stück des allgemeinen Charakters eines
Gelehrten besteht
in dem gelehrten Fleisse (diligentia erudita), oder in einer so
grossen
Anstrengung aller erlangten gelehrten Fertigkeiten, als jedesmal
erfodert wird,
wenn man in einem gewissen Grade der Vollkommenheit gelehrt denken und
vortragen will §. 527. Zu dem Ende muss man zehn Regeln
beobachten.
§. 554. 1) Ein Studirender muss, vor allen Dingen, den
Horizont seiner
gelehrten Erkenntniss aufs richtigste abzeichnen, damit er jedesmal schon
wisse,
worauf er seinen gelehrten Fleiss zu richten habe. Und damit dieser
Horizont
weder zu klein noch zu gross angenommen werde, so muss man ihn nach und
nach weiter ausdehnen, nachdem unsere Kräfte und Geschicklichkeiten
zunehmen.
§. 555. 2) Ein Studirender muss seine Kräfte aufs
genaueste beurtheilen,
ob sie zur Gelehrsamkeit überhaupt, und zu demjenigen Theile
derselben, auf
die er sich legt, und zu der Erkenntniss dieser oder jener Wahrheit
zureichen.
Zu dem Ende a) muss er sich prüfen, ob er das gelehrte Naturell
besitze
§. 529-535. b) Man verwandele dasjenige, in dessen Absicht
man seine Kräfte
prüfen will, in eine Aufgabe §. 328-339, und untersuche, ob man
Kräfte genung
habe, die Auflösung würklich zu machen. c) Man hüte sich, vor dem
Vorurtheile
des gar zu grossen Vertrauens und Misstrauens, bei der Beurtheilung
seiner
Kräfte §. 170. d) Man prüfe seine Kräfte durch einen
treuen Versuch. 'e) Man
lasse sich von andern beurtheilen.
§. 556. 3) Beim Studiren muss man nicht zu viel Fleiss
anwenden, und
den gelehrten Fleiss nicht richten auf Dinge, die über, unter und
ausser dem
Horizonte unserer gelehrten Erkenntniss angetroffen werden §.
554.
[155] §. 557. 4) Man muss auch nicht zu wenig Fleiss
anwenden, sondern
so viel als erfodert wird, alle gelehrte Übungen gehörig vorzunehmen,
und nach
und nach den ganzen Horizont unserer gelehrten Erkenntniss zu
durchstudiren.
§. 558. 5) Man muss so zeitig zu studiren anfangen, als es
möglich ist;
was man thun will, das thue man bald.
§. 559. 6) Man muss, wenn es sonst uns möglich ist,
täglich studiren,
und gelehrt denken. Wer nicht weiter vorwärts geht, der geht rückwärts.
§. 560. 7) Man muss, mitten in dem Laufe des Studirens,
jederzeit langsam
eilen. Damit man nicht zu sehr eile, muss man eine gelehrte Beschäftigung
nicht eher verlassen, bis man nicht allen Regeln der Vernunftlehre bei
derselben
ein Genügen geleistet. Damit man aber auch nicht zu langsam sei, muss
man die
Begierde zu studiren gehörig anfeuren.
§. 561. 8) Man muss niemals zu lernen aufhören, indem man
entweder
immer was Neues zulernt, oder das schon Gelernte besser erkennen lernt.
§. 562. 9) Man muss die schon erlangte Gelehrsamkeit
beständig zu verbessern,
und ihre noch rückständigen Mängel und Fehler zu heben suchen.
§. 563. 10) Man muss mit dem Studiren die tägliche
Erfahrung, den Umgang
mit der ehrbaren Welt, und den Gebrauch der Dinge selbst, über die man
gelehrt meditirt, verknüpfen; damit man nicht als ein blosser gelehrter
Wurm
vom Schulstaube lebe, und platonische Republiken erträume.
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